Wildcat Nr. 90, Sommer 2011 [In unseren Händen liegt eine Macht]



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In unseren Händen liegt eine Macht

Eine weltweite Streikwelle, Sparprogramme und die politische Krise der Global Governance

Steven Colatrella
mit Dank an Sylvia


In our hands is placed a power, greater than their hoarded gold
Greater than the might of armies, magnified a thousand-fold
We can bring to birth a new world from the ashes of the old
For union makes us strong.
»Solidarity Forever«

If the workers took a notion they could stop all speeding trains
Every ship upon the ocean, they could tie with mighty chains.
Every wheel in the creation, every mine and every mill
Fleets and armies of the nations would, at their command, stand still.
Joe Hill

Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle
Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner
Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und
Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe – alles das läuft durcheinander,
nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig
bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen.«
Rosa Luxemburg
Sparprogramme1 und Global Governance

Sparpolitik ist zum weltweiten politischen Regime geworden. Überall wird sie in Form von Sozialkürzungen, Lohnsenkungen und Massenentlassungen im öffentlichen Dienst durchgesetzt, dazu kommen neue Gesetze gegen die Arbeiterorganisationen. Sie ähnelt sich in den unterschiedlichen Ländern auffallend und ist typischerweise auf Initiative von Institutionen der Global Governance wie IWF, EU, G20 oder WTO aufgelegt worden. Bei dieser Politik handelt es sich um Vereinbarungen zwischen Regierungschefs, und sie verfolgt ganz offen die Interessen eines kleinen Teils der Gesellschaft: die der Kapitalisten im Allgemeinen und des globalen Finanzkapitals im Besonderen. In diesem Sinne können wir Sparpolitik als ein Regime begreifen, eine durch das gemeinsame Handeln der Staaten durchgesetzte internationale Ordnung. Genau diese starke Übereinstimmung im Programm und den Klasseninteressen der Regierungen von Europa bis zum Nahen Osten, von Asien bis Amerika und Afrika, zeigen die Bedeutung der Global Governance als Projekt zur Vereinheitlichung der globalen herrschenden Klasse.

Global Governance ist ein Netz aus Institutionen und Verbindungen zwischen politischen Akteuren, das die Beziehungen zwischen Nationalstaaten und ihren Bürgern und die Machtbeziehungen zwischen den Staaten selbst verändert. Die Exekutive und Institutionen wie die Zentralbanken, die einer öffentlichen Kontrolle weitgehend entzogen sind, werden gestärkt. Gewählte Parlamente und durch öffentlichen Druck leichter zu beeinflussende Institutionen verlieren sowohl an Status wie an Macht. Die Staaten sollen so zu wirkungsvolleren Instrumenten des Kapitals werden (vor allem des globalen und des Finanzkapitals). Global Governance ist also keine eigene neue Staatsform und auch keine Weltregierung, sondern ein Mittel, um die Politik der Nationalstaaten ganz an den ideologischen und politischen Bedürfnissen des Kapitals auszurichten. Ein Mittel der ideologischen und politischen »Eliten-Bildung« auf EU-Ebene, G8- und G20 Gipfeln oder in Davos. Dazu gehört die »Drehtür«, mit der das immer gleiche Personal zwischen Privatkapital, Institutionen der Global Governance wie WTO und IWF und den wichtigsten nationalen Institutionen rotiert. Dazu gehört genauso äußerer Druck oder gar Zwang durch Strukturanpassungsprogramme des IWF und Schulden, durch Handelsregeln der WTO, durch Resolutionen des UN-Sicherheitsrats und Militäreinsätze der NATO.

Ihre Institutionen sind etwas zwischen ausführendem Organ und Bürokratie, das die staatliche Politik auf diesem Planeten vorgibt und koordiniert, sie handeln wie die »sichernde Macht des Allgemeinen« bei Hegel.2 Sie scheinen die Orte zu sein, an denen sich heute die wirkliche politische Macht der kapitalistischen Welt manifestiert. Und sie verkörpern Arundhati Roys wichtige Einsicht, dass die Globalisierung nicht die nationale Souveränität bedroht, sondern die Demokratie. Das gilt vor allem, wenn wir Demokratie nicht auf ein Prozedere für Wahlen und Entscheidungen reduzieren, sondern demokratische Inhalte und Prozesse meinen.

Der Kapitalismus und die globale herrschende Klasse

Die Nationalstaaten sind komplexe Gebilde, die die verwickelten Klassenbeziehungen und die Geschichte der jeweiligen Klassenkämpfe ausdrücken. Ihre Einbindung in die Global Governance befreit sie von den lokalen Klassenkämpfen, die sie bislang geformt und ihnen ihre Handlungsspielräume erweitert oder eingeschränkt hatten. Stattdessen werden sie zu immer enger verbundenen Instrumenten einer kohärenter werdenden globalen Kapitalistenklasse mit gleichen Zielen und abgestimmtem Handeln, also einer zielgerichteten Strategie ihres nationalen und globalen Klasseninteresses. Auf einer Meta-Ebene taucht so als Ziel der Global Governance die Umsetzung des Projekts auf, das Marx implizit im Dritten Band des Kapitals untersucht hatte – nämlich die Herausbildung einer einheitlichen Profitrate zur Aufteilung des weltweit produzierten Werts gemäß der vorgeschossenen Kapitalanteile. Politisch gesehen ist die Herstellung einer einheitlichen Profitrate, zuvor ein Projekt im nationalen Rahmen mit einigen internationalen Aspekten, nun eines der Globalisierung. Die Geschichte dieses Projekts seit dem frühen 19. Jahrhundert steht im Fokus des zweiten und dritten Bands von Braudels berühmter Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts.

Der Kapitalismus kann zurecht auf verschiedene Weise gefasst werden, als Marktgesellschaft, als Produktion von Wert, usw. Für unsere Diskussion ist es aber am sinnvollsten, ihn so zu definieren, wie es sowohl Marx im 32. Kapitel des ersten Bands des Kapital als auch Braudel in seinem Grundlagenwerk getan haben: als Konzentration von Reichtum und Zentralisierung von Macht in wenigen Händen, als Monopol. Um beides zu erreichen, hat der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten ein breit beschriebenes Programm der Enteignung und erneuerten Ausbeutung ablaufen lassen, das gemeinhin Neoliberalismus genannt wird. Den Begriff können wir aber nur verwenden, wenn wir darunter ein Programm verstehen, das wenig mit Anti-Staatlichkeit oder Liberalismus im klassischen Sinn zu tun hat; denn es waren die Regierungen, die den Neoliberalismus durchgesetzt haben. Heute wird noch deutlicher, wie zentral Global Governance, ihre Transformation der Nationalstaaten und ihr Agieren durch diese und ihren Klassencharakter hindurch für das Projekt der Konzentration und Zentralisierung ist. Mit Ausbrechen der Weltwirtschaftskrise 2008, und bereits zuvor mit der Schuldenkrise im globalen Süden als Mittel der Durchsetzung des Neoliberalismus, ist deutlich geworden, dass der Kapitalismus heute im Kern ein politisches, nicht nur ein ökonomisches Projekt ist. Dieses Projekt hatte von Beginn als übergeordnetes Ziel die Konzentration und Zentralisierung, und damit die weltweite Einheit der herrschenden Klasse, heute segelt es unter der Flagge der Sparpolitik.

Durch politische Maßnahmen, die die gesellschaftliche Ungleichheit unmittelbar ausweiten, verstärkt diese Sparpolitik den Druck in Richtung Konzentration und Zentralisierung enorm. Aber indem sie die Rolle der Institutionen der Global Governance bei der Ausarbeitung und Durchführung politischer Strategien für eine stets kleiner werdende kapitalistische Elite deutlich sichtbar gemacht und die soziale Basis der herrschenden Politik in fast allen Ländern unterhöhlt hat, schuf die Sparpolitik auch die Vorbedingung für die politische Krise der nationalen Regierungen und der Global Governance selbst. Diese Krise hat nicht lange auf sich warten lassen.

Weg mit den Sparmaßnahmen: Die globale Streikwelle

Eine Vielzahl von Bewegungen, Organisationen und Protesten wehrt sich gegen die neue Welle von Sparprogrammen und neoliberaler Globalisierung. Ihre Aktivitäten bringen bisweilen die ganze soziale Vielfalt einer Klassengesellschaft zusammen. Aber seit die Finanzkrise vor drei Jahren ausbrach und dann zu einer globalen Rezession wurde, setzt sich in immer mehr Ländern die Arbeiterklasse an die Spitze der Kämpfe. Seit dem Frühjahr 2010 laufen zielgerichtete Streikwellen direkt gegen die Sparprogramme der nationalen Regierungen und der Institutionen der Global Governance. Im selben Jahr erhob sich weltweit eine Welle von Massenstreiks gegen das Abstrakt-Allgemeine der Global Governance. Von China nach Indien, Südafrika und Ägypten, von Frankreich und Großbritannien nach Jamaika und Kambodscha, von Vietnam nach Griechenland, von Bangladesch nach Spanien rollende Streikwellen attackierten den Klassencharakter der Sparprogramme. Zum Jahresende war diese erdumspannende Streikwelle der globalen Arbeiterklasse zum unmittelbarsten und eindrucksvollsten Hindernis für die Sparprogramme des in der Krise steckenden Weltkapitals geworden.

Ein Blitzlicht auf die Ereignisse zwischen dem 21. und 22. Oktober 2010 zeigt Massenstreiks in Frankreich gegen die Rentenreform von Sarkozy, ArbeiterInnen, die in Athen die Akropolis und in Piräus den Hafen blockieren, streikende Fluglotsen in Spanien, denen die Regierung mit Entlassung droht (Reagan lässt grüßen), Streiks von Feuerwehrleuten in Irland und London, sowie von TaxifahrerInnen in Lancaster, während Arbeiter der Atomanlagen in Sellafield mit einem Protestmarsch den Verkehr blockieren, im englischen Swinden die ArbeiterInnen im Freizeitzentrum gegen die Kürzungspläne des Stadtrats streiken und JournalistInnen in Hampshire für Streik gegen einen zweijährigen Lohnstopp abstimmen. In Nordirland wird ein Streik in einer Fleischfabrik durch einen Gerichtsbeschluss beendet. In Holland bereiten Post-ArbeiterInnen einen Streik vor, und die britischen Gewerkschaften kündigen flächendeckende Streiks gegen massive Sozialkürzungen und die Streichung von 500 000 Jobs im Öffentlichen Dienst an. Über tausend rumänische Docker protestieren gegen die Sparprogramme von EU und IWF und fordern höhere Löhne. In Kroatien droht ein Generalstreik, nachdem das Verfassungsgericht ein Referendum zur Reform der Arbeitsgesetze gekippt hat. In Italien streikten seit vier Wochen die ricercatori (Hochschullehrer der Eingangstufe) gegen massive Einschnitte an den italienischen Universitäten und blockieren den Semesterbeginn. Außerhalb von Europa sind öffentlich Beschäftigte in Tobago auf der Straße, um sich mit ihren streikenden KollegInnen in Trinidad zu solidarisieren; die ät der westindischen Inseln bietet ihrer streikenden Belegschaft Verbesserungen an; in Ghana streiken LehrerInnen und ProfessorInnen; in Neuseeland beginnen die LehrerInnen der Oberschule in Hawkes Bay das Schuljahr mit einem Streik. Die Gewerkschaften in Jamaika haben bereits die Zurückweisung der IWF-Auflagen gefordert, nun streiken die ArbeiterInnen der Nationalen Wasserkommission für sieben Prozent mehr Lohn. Einen Monat vorher hat die Regierung einen Generalstreik nur noch damit abwenden können, dass sie sich gegen die Forderungen des IWF aussprach. Gleichzeitig breiten sich noch zusätzlich zu den Kämpfen im Bildungswesen in vielen Ländern Afrikas Streiks aus: in Kenia streiken 80 000 ArbeiterInnen bei Teefirmen gegen die Einführung von Pflückmaschinen; in Swaziland feuert das Logistik- und Transportunternehmen Unitrans 43 streikende ArbeiterInnen und erzielt ein richterliches Urteil, dass diese ihre Arbeitszeiten nicht mehr selbst (von 7 bis 16 Uhr) festsetzen dürfen. In Botswana streiken Arbeiter in der Diamantenproduktion, in Sambia werden streikende Bergarbeiter bei einem chinesischen Unternehmen von ihren Bossen beschossen; in Simbabwe streiken die ArbeiterInnen einer Fluggesellschaft, öffentlich Beschäftigte fordern eine durch den Diamantenhandel finanzierte Erhöhung ihrer Löhne. In derselben Woche organisieren in Benin die Gewerkschaften Proteste gegen das von der Regierung verhängte Demonstrationsverbot. Nur wenige Wochen vorher haben öffentlich Beschäftigte in Uganda Regierungsgebäude besetzt und Öl-Arbeiter Nigeria nach einer zehnprozentigen Lohnerhöhung im vorangegangenen Frühjahr einen Streik verschoben. In diesem Herbst aber streiken sie sowohl gegen von den Ölmultis protegierte Gesetzesentwürfe, als auch gegen die Aktivitäten von Exxon vor Ort. In Lagos streiken die ÄrztInnen, Uni-Angestellte und -DozentInnen weiten ihre Streiks aus, ArbeiterInnen der Elektrizitätswerke drohen mit unbefristeten Streiks, und ArbeiterInnen der Regierungsbehörden drohen mit Streiks für einen Mindestlohn.

In Bangladesch hat es bereits vorher große Streiks und Zusammenstöße zwischen Polizei und ArbeiterInnen vor allem aus der Textilindustrie gegeben, an diesem Tag treten auch noch die Docker in Streik und das Militär greift ein, in verschiedenen Teilen des Landes streiken zudem Jute-und TextilarbeiterInnen. All das gefährdet die Export-Einnahmen des Landes. Am 23.10.2010 treten trotz der Warnungen der Regierung auch noch die Piloten in Streik. In Guayana haben ArbeiterInnen einer Zuckerfabrik aufgrund von Repressionsdrohungen ihren Streik gerade beendet, in Indien sind 500 ArbeiterInnen bei Foxconn wegen politischer Aktivitäten verhaftet worden, und bei DHL laufen weltweit Arbeiterproteste gegen die Unternehmenspolitik. Mit dem Rückenwind einer beachtlichen internationalen Solidarität kämpfen ArbeiterInnen bei UPS in der Türkei gegen die Entlassung von fünf KollegInnen. In Chile streiken 80 000 öffentlich Beschäftigte, während gleichzeitig die Arbeiter der großen Kupfermine Collahuasi sowie die Arbeiter auf einer Krankenhausbaustelle eine Streikabstimmung vorbereiten. In Brasilien haben Bankangestellte gerade einen Streik mit den höchsten Lohnsteigerungen seit Jahren beendet, ein paar Wochen davor haben Autoarbeiter die bislang größten durch Streiks erwirkten Lohnerhöhungen bekommen. In derselben Woche wird in Südafrika ein Konflikt um Löhne und Wohngeld beendet, der im Monat zuvor einen Generalstreik im Öffentlichen Dienst ausgelöst hat. In Buenos Aires droht wegen des Todes eines Eisenbahnarbeiters ein stadtweiter Streik, die ArbeiterInnen bei der Stadreinigung haben gerade einen dreitägigen Ausstand beendet. In Vietnam, neben Bangladesch, Ägypten, Südafrika und Kambodscha eines der Epizentren der Streikwelle der letzten drei Jahre, streiken 2000 ArbeiterInnen in einer Schuhfabrik. In Südkorea bereitet der größte Gewerkschaftsverband Demonstrationen gegen das Treffen der G20 in einigen Wochen vor. In Ägypten demonstrieren ArbeiterInnen im ganzen Land, wenige Tage zuvor haben sie schon in Kairo gegen die Unterdrückung von Arbeiteraktivitäten protestiert. Palästinensische ArbeiterInnen bestreiken eine israelische Fabrik wegen ausstehender Löhne, Landsleute von ihnen bestreiken die UN-Behörde, die in den Flüchtlingscamps die Gesundheitsdienste betreibt. Die Belegschaften der Universitäten und Colleges treffen sich zum Sit-In beim Bildungsministerium der palästinensischen Autonomiebehörde. In Tschechien, in Ungarn, in der Slowakei und anderswo planen Gewerkschaften Aktionen gegen weitere Sparprogramme - oder drohen damit; in Kroatien und Serbien sind gerade erst Streiks gegen die EU-Forderung nach weiteren Einsparungen als Voraussetzung für den EU-Beitritt beendet worden. In der Ukraine haben Arbeiter einer Wurstfabrik nach einer saftigen Lohnerhöhung gerade einen fünfmonatigen Streik beendet. Ölarbeiter in Kasachstan beantworten die Verhaftung eines Gewerkschaftsaktivisten mit Streik. Am 22. Oktober blockieren Bauarbeiter Straßen in Dubai, wo Militanz in letzter Zeit üblich geworden ist, und auch in Bahrain gibt es große Streiks. Währenddessen setzen Gewerkschaften im Irak die Blockade der Ölprivatisierung fort.

Von Streiks zu Revolutionen: die globale politische Krise

Obwohl es hier nur um Streiks in einem Zeitraum von 48 Stunden geht, ist diese Aufzählung nicht vollzählig. Und das war kein untypischer Tag im Sommer und Herbst 2010. Die Revolten in Frankreich lassen ihn zwar außergewöhnlich erscheinen, aber im Verhältnis zu anderen Arbeiterkämpfen in diesem Jahr, wie der Streikwelle in China oder dem Generalstreik von 100 Millionen im September in Indien, waren diese nicht sonderlich beeindruckend. In Vietnam blieb die Arbeitermilitanz in fast jeder Industriesparte weiterhin außergewöhnlich, und die Zahl der großen inoffiziellen Streiks in Russland wird für 2010 auf 93 geschätzt. Ein Zeichen für die wachsende Militanz dort war die Gründung einer neuen Arbeiterföderation. Die Schätzungen über Größe und Ausbreitung der Streiks in China sind unzuverlässig, aber schon vor ein paar Jahren ermittelten Forscher 87 000 Arbeiterproteste, an denen Millionen beteiligt waren. Und ohne Zweifel hat 2010 die Streikaktivität, die Anzahl der betroffenen Arbeitsstätten und der beteiligten ArbeiterInnen wie auch die Intensität der Streiks und die Überzeugung der Streikenden zugenommen.

Die Streikaktivitäten bis zum Spätherbst 2010 waren der Höhepunkt einer Streikwelle seit 2007, die nach und nach globaler, intensiver, militanter wurde und sich gleichzeitig geografisch ausdehnte. Die Gleichzeitigkeit von großen Streiks in vielen Ländern und ihre fast universelle Ausweitung ist außergewöhnlich – nur in den USA hat es keine nennenswerten Streiks gegeben, und auf den Philippinen scheint es erstaunlicherweise weniger Arbeitermilitanz zu geben als in den letzten Jahren. Südkorea hat früher als die meisten Länder strenge antigewerkschaftliche Gesetze und andere staatliche Methoden eingeführt, um der Macht der Arbeiterklasse entgegenzutreten, die nur wenige Jahre zuvor eine der militantesten der Welt gewesen war. Genauso hielt auch in Mexiko und Honduras allein massive Unterdrückung die Arbeiterunruhen unter Kontrolle. In Honduras gehörte die Entlassung von 40 000 ArbeiterInnen eines Energieunternehmens durch den ehemaligen Staatspräsident und Repressionen nach dem Militärputsch dazu. In Thailand verstummte aller Protest nach dem Massaker an der Rothemden-Bewegung von Bauern und Arbeitern, die Demokratie forderten – auch wenn die Klassenzugehörigkeit auf beiden Seiten des Konfliktes verschwommen blieb.

In den letzten Monaten des Jahres 2010 machten die ArbeiterInnen in vielen Teilen der Welt Gebrauch von ihrer traditionellen Waffe der Arbeitsniederlegung. Die meisten der wenigen Ausnahmen bestätigen diese Regel, da sie nur die Folge von schwerer staatlicher Repression der Arbeiterkämpfe sind. Es ist tatsächlich schwierig, einen Teil der Welt zu finden, in dem es in den vergangenen drei Jahren keine bedeutenden Arbeiterproteste oder große Streiks gegeben hat. Anfang 2011 brachen die Dämme. Die Welt erlebte mit Erstaunen zuerst in Tunesien, dann in Ägypten, wie aus Massenbewegungen Revolutionen wurden, die eine Veränderung der Wirtschaftspolitik forderten, die wachsende Ungleichheit infrage stellten und verhasste Diktaturen stürzten. Mitte März 2011 war praktisch die gesamte arabische Welt in Aufruhr. Viele dieser Länder mit neoliberalen Sparregimes waren vor kurzem noch Musterbeispiele für die Umsetzung der von den Organisationen der Global Governance initiierten Maßnahmen. Nun wurden sie zu den »schwächsten Gliedern in der Kette« und waren die ersten, die zu spüren bekamen, dass die Sparpolitik unmittelbar politisch ist. In der klassischen Revolutionskonstellation vereinigte sich der Protest von Mittelschichten und Selbständigen mit den Massenstreiks der ArbeiterInnen im Versuch, die Macht zu ergreifen oder zumindest zu lähmen.

Aus gesondert ablaufenden Streiks, die vor allem dadurch verbunden waren, dass sie auf die gleiche Politik im Rahmen der neoliberalen Globalisierung reagierten, war Ende 2010 zunehmend eine gemeinsame Einsicht in die politische Natur der Bedingungen geworden, gegen die man streikte: erstens die Arbeitgeber benutzten die Krise politisch, zweitens es ging direkt gegen die Regierungspolitik. Von Griechenland über Frankreich, Rumänien, Jamaika und Indien bis nach Südafrika erkannten streikende ArbeiterInnen und ihre Gewerkschaften den IWF, die EU und andere Organisationen als die Kräfte, die der nationalen Politik Vorgaben zugunsten des Kapitals und zulasten der ArbeiterInnen machen. Seit der inspirierenden ägyptischen Revolution sehen viele Bewegungen die Kämpfe in den arabischen Ländern, die auch einfach als Besonderheit Nordafrikas und des Golfs wahrgenommen werden könnten, als wichtig für ihre eigenen Kämpfe, als Inspiration für ihre Bewegungen und sogar als taktische Anleitung für den Kampf gegen die Sparmaßnahmen. Hunderttausende amerikanischer ArbeiterInnen und StudentInnen in Wisconsin, in Ohio, Indiana, Illinois, Texas, Maryland, Michigan, New Jersey und Montana (!) bezogen sich auf die Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo als Vorbild für ihre eigenen Proteste, das heißt auf eine Massenbewegung in der arabischen Welt – das war nach den Anschlägen vom 11. September für völlig undenkbar gehalten worden. Die Leute, die in den USA Regierungsgebäude besetzen, ziehen selber Parallelen zwischen den undemokratischen und gegen die Arbeiterklasse gerichteten Methoden von konservativen Gouverneuren und denen der arabischen Diktatoren. Sie protestieren gegen gewerkschaftsfeindliche und undemokratische Gesetze und politisieren damit ein Thema, das normalerweise durch den entpolitisierenden Diskurs über Sparmaßnahmen legitimiert wird.

Um diese revolutionären Umwälzungen zu verstehen, müssen wir die globale Streikwelle gegen die Sparpolitik, aus der sie hervorgegangen sind, genauer untersuchen. Sie muss in ihrem Kontext, der weitgehend neu ist, verstanden und ins Verhältnis zu früheren historischen Streikwellen gesetzt werden. Klassen, ob national oder global, sind keine statischen Strukturen. Sie verändern sich ständig und befinden sich immer im Prozess von Ausbildung und Neuzusammensetzung. Das ergibt sich aus ihrem Kampf mit anderen Klassen und aus der Notwendigkeit, sich mit den daraus hervorgehenden nationalen und globalen gesellschaftlichen Veränderungen zu befassen.

Obwohl sie niemals auf formale Organisationen beschränkt ist, benötigt Klassenbildung und -neuzusammensetzung häufig organisierte Formen, die für Hilfe, Orientierung und Zusammenhalt sorgen. In diesem Kontext muss man die Rolle der Global Governance verstehen: nicht als einen Weltstaat, sondern als ein institutionelles Mittel, die herrschende Klasse weltweit zu einigen - ein Projekt, das nie vollständig abgeschlossen sein wird bzw. dessen vollständige Realisierung zumindest sehr unwahrscheinlich ist. Die Vielfalt der weltweiten Arbeiterklasse ist sicherlich sehr viel größer als die der Kapitalistenklasse. Homogenität, im Fall der Arbeiterklasse ohnehin immer relativ, ist für die ArbeiterInnen weltweit nicht in einer übergeordneten Organisation, sondern nur im gemeinsamen Kampf zu finden.

Heute ist der gemeinsame Kampf mit einem zunehmend geschlossenen Gegner konfrontiert. Einem Gegner, der sich weniger auf die diffuse Autorität des Kapitals an Millionen von Arbeitsplätzen als auf staatliche Politik verlässt, um seine Klasseninteressen durchzusetzen. Diese staatliche Politik wird wiederum von der Global Governance formuliert, initiiert und gefördert; und diese Politik, die die kleinste Kraft im Klassenkampf begünstigt, verringert die soziale Basis der Regierungen und der internationalen politischen Ordnung, die die Sparpolitik fördert, ungemein.

Im Ergebnis werden wir Zeugen des Beginns einer beispiellosen politischen Krise. Einer Krise, die die Legitimität und soziale Basis der weltweiten sozialen Ordnung ernsthaft gefährdet und in der die Autorität der Global Governance und die Klasseninteressen, die sie vertritt, zerbrechlich und angreifbar werden.

Die Hauptthemen der Streikwelle

Die momentane Streikwelle geht von bestimmten, wenn auch weit verteilten Arbeitergruppen aus. Wenn wir einen genaueren Blick auf die Beteiligten und ihre Besonderheiten werfen, bekommen wir eine bessere Vorstellung davon, wer streikt und warum. Bei der Untersuchung der Streiks der letzten Jahre und Monate fallen einige Punkte auf. Der erste ist ihre starke geographische Ausweitung – viele finden in den aufstrebenden Ökonomien statt, wo Industrie in großem Maßstab erst in letzter Zeit entstanden ist: Brasilien, Bangladesch, Kambodscha, Vietnam, Südkorea, Südafrika, Indien und vor allem China, um nur einige zu nennen. Dass die Streikwelle die Ukraine, Äthiopien, Swasiland, Kenia, Ägypten, Bahrain und Kasachstan umfasst, deutet an, wie global die Globalisierung und mit ihr die Revolten der ArbeiterInnen geworden ist. Brasilianische AutoarbeiterInnen, äthiopische Stahlarbeiter, kenianische TeepflückerInnen, swasiländische DiamantenarbeiterInnen, ägyptische ArbeiterInnen aus allen möglichen Sektoren, ukrainische WurstfabrikarbeiterInnen, Bekleidungs-, Jute- und UhrenarbeiterInnen aus Bangladesch, kambodschanische Bekleidungs- und TextilarbeiterInnen, vietnamesische Schuh- und BekleidungsarbeiterInnen und chinesische AutoarbeiterInnen, TextilarbeiterInnen und viele andere waren in großer Anzahl in den letzten Jahren im Streik. Parallel dazu gab es landesweite Streiks in Südafrika, Nigeria, Ägypten und Indien, darunter der sicherlich größte eintägige Generalstreik der Geschichte mit über 100 Millionen Beteiligten.

Zweitens, die Logistik – eine entscheidende Branche für eine auf dem Handel, also der Bewegung von Gütern, Dienstleistungen und zum Teil von Menschen, beruhende Weltwirtschaft – ist ein entscheidendes Terrain der Kämpfe. Die ArbeiterInnen drücken ihre oft gerade neu entdeckte Macht durch Streiks auf den Docks, Eisenbahnstrecken, LKW-Routen, an Bord, am Zoll und an Grenzübergängen, in Postämtern, bei Kurierdiensten und bei Luftfahrtunternehmen aus. Dockarbeiter von New Jersey bis Rumänien und von Piräus bis Bangladesch, von Nigeria bis Marseille waren an der letzten Streikwelle beteiligt. In nahezu jedem Land Europas wurden die Eisenbahnen bestreikt. Und bezeichnenderweise waren viele der globalen Logistikunternehmen wie DHL und UPS mit einer starken Arbeitermilitanz konfrontiert.

Ein dritter wichtiger Aspekt der Streikwelle waren die Streiks von Produktions- und anderen ArbeiterInnen, die an der Herstellung von oder Versorgung mit Rohstoffen und anderen wichtigen Gütern beteiligt sind – Agrarprodukte, Rohstoffgewinnung, industrieller Metallbergbau, Gas-, Elektrizitäts- und insbesondere Ölversorgung. Diese ArbeiterInnen sahen in den letzten Jahren, wie die Preise der von ihnen produzierten Waren in die Höhe schossen. Das gilt vor allem für den Preisanstieg in den Jahren 2007-08, der meist (wenn auch hinterfragbar) auf die gestiegene Nachfrage insbesondere von asiatischen Länder zurückgeführt wird. Die ArbeiterInnen haben mehr und mehr für einen größeren Anteil am von ihrer Arbeit produzierten Reichtum gekämpft. Insbesondere in diesem Sektor waren die Streiks ursprünglich eine Antwort auf die wahrscheinlich durch eine Kombination aus stärkerer Nachfrage und massiven Spekulationen an den Warenterminbörsen hervorgerufenen Preissteigerungen. Seit einigen Jahren sucht das Kapital sichere Häfen vor Arbeitermilitanz und politischem Aufruhr. Nach dem Zusammenbruch des Immobilien- und Derivatemarkts in den USA, der die Finanzkrise auslöste, verstärkte dieser Kapitalfluss die Preisanstiege. Die darauf folgenden Streiks, mit denen die ArbeiterInnen gegen eine Monopolisierung des in diesen Sektoren geschaffenen Reichtums kämpften, waren in Kombination mit dem Scheitern der Doha-Runde der WTO der letzte Tropfen, der die Finanzkrise in eine weltweite Rezession verwandelte. Kapital, das zuerst vor kämpfenden ArbeiterInnen in die Finanzsphäre geflohen war, flüchtete wieder aus den vormals sicheren Häfen der Warentermingeschäfte, als die ArbeiterInnen in diesen Industrien ihre Entschlossenheit demonstrierten, am gewaltig gewachsenen Reichtum ihrer Industrien und ihrer Arbeitgeber beteiligt zu werden. Chilenische Kupferbergleute, bolivianische Zinnbergleute, namibische Diamantenminenarbeiter, JutearbeiterInnen in Bangladesh, ZuckerarbeiterInnen in Guayana, mosambikanische KakaoarbeiterInnen, nigerianische und kasachische Ölarbeiter, kenianische TeepflückerInnen und viele andere haben in den vergangenen drei Jahren in großem Rahmen und in vielen Teilen der Weltökonomie für höhere Löhne gestreikt.

Viertens waren ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst und solche, die direkt von der staatlichen Sparpolitik betroffen sind, Hauptakteure in der globalen Streikwelle, von Frankreich bis Benin, von Nigeria bis Indien, von Brasilien über Argentinien bis Ägypten, von den griechischen Staatsbediensteten bis zu den britischen StudentInnen, von italienischen OberschülerInnen und LehrerInnen bis zu den ricercatori, von ArbeiterInnen bei der Stadtreinigung von Buenos Aires bis zu ungarischen BahnarbeiterInnen, von kenianischen Angestellten bei den Stromkonzernen bis zu tschechischen ÄrztInnen. Bei den öffentlich Beschäftigten und unmittelbar mit staatlichen Dienstleistungen verbundenen ArbeiterInnen wächst die Militanz. Öffentlich Beschäftigte bescherten den USA die größte Arbeiterklassenbewegung seit Jahrzehnten, sie drückt sich unmittelbar politisch aus, stützt sich auf direkte Aktionen und Besetzungen und war inspiriert von den Revolten in den arabischen Ländern. Diese ArbeiterInnen und verbündete Gruppen befinden sich an vorderster Front im Kampf gegen die Sparpolitik, die heute genauso global ist wie der Welthandel. Sie jetzt zu verschärfen, wo sogar China zu einem Zentrum der Arbeitermilitanz wird und der FIRE-Sektor3 sich noch in der Erholungsphase befindet, ist ein Angriff auf den öffentlichen Sektor, eine neue Einhegung, die zur Privatisierung aller gegenwärtig von der Regierung gewährleisteten Dienste führen soll. In Afrika, Europa oder den USA würde das bedeuten, sich gegen die wichtigsten sozialen Kräfte durchzusetzen, die ein Interesse an öffentlichen Dienstleistungen haben – insbesondere die öffentlich Beschäftigten und ihre Organisationen. Aber weil auch ein großer Teil der übrigen Arbeiterklasse im weiteren Sinne abhängig vom öffentlichen Sektor und seinen Programmen und Institutionen ist, ist es sehr gut möglich, dass die Streiks und Kämpfe der öffentlich Beschäftigten auf Solidarität stoßen und eine Spitze des klassenweiten Kampfes bilden können. Elemente eines solchen klassenweiten Kampfes waren bereits in Griechenland, Großbritannien, Italien, Frankreich und den Staaten des mittleren Westens der USA zu finden.

Die Sparpolitik ist heute völlig globalisiert, weil Regierungen auf der ganzen Welt im Prozess der Herausbildung einer einheitlichen herrschenden Klasse die gleiche politische Agenda durchsetzen. Diese globale herrschende Klasse wird auf den jährlichen Treffen des Weltwirtschaftsforums in Davos gebildet und intellektuell geformt. Zu einer »Eliten-Bildung« führt auch die Beteiligung an Organisationen wie der EU, G20, WHO und IWF. Da die Streiks die Sparprogramme angreifen, waren sie bis zu den Revolutionen in den arabischen Ländern das beeindruckendste Hindernis für deren Durchsetzung. Weil die Sparpolitik aus den Organisationen der Global Governance hervorgeht - EU, IWF und G20 – richtet sich die Streikwelle auch gegen diese Organisationen selbst. Aus einer neuen Perspektive sind es daher politische Streiks. Sie richten sich nicht nur gegen nationale Regierungen, sondern auch gegen die Global Governance selbst, für unsere Zwecke am besten definiert als die teilweise oder völlige Umwandlung von Nationalstaaten durch globale Organisationen mit dem Ziel und der Praxis, die Regierungen von ihrer jeweiligen Bevölkerung abzukapseln und sie zu effektiveren Instrumenten der Durchsetzung globaler kapitalistischer Interessen gegen den Rest der Gesellschaft zu machen. Irlands Regierung wurde gestürzt, nachdem sie ein EU-IWF initiiertes Sparprogram umgesetzt hatte.

Neben den Streiks und Protesten gegen den G20-Gipfel in Seoul im November 2010, u.a. von 40 000 Gewerkschaftsmitgliedern, haben mittlerweile eine Menge Streiks spezifisch die Organisationen der Global Governance und nicht nur den eigenen Nationalstaat angegriffen. Öffentlich Beschäftigte in Irland, jamaikanische Gewerkschaften und andere stellten die Vereinbarungen ihrer Regierungen mit dem IWF in Frage, kroatische Gewerkschaften bekämpften die geforderten Sparprogramme im Zusammenhang mit dem angestrebten EU-Beitritt . Tausende Angestellte des rumänischen Finanzministeriums legten aus Protest gegen Forderungen des IWF ihre Arbeit nieder, pakistanische Staatsangestellte protestierten gegen die Forderung des IWF die Stromversorgung zu privatisieren und europäische Gewerkschaften mobilisierten für einen gemeinsamen Protesttag gegen die europaweite Sparpolitik in Brüssel am 29. September 2010. Besonders ironisch war, dass Angestellte der Weltarbeitsorganisation (ILO) mit einem Sitzstreik eine Verwaltungsratssitzung ihrer eigenen Institution blockierten, die doch weltweit Programme für bessere Arbeitsstandards umsetzen und überwachen soll! Sie protestierten damit gegen ihre prekären Verträge und ihre Arbeitsbedingungen. Dass überall Global Governance-Organisationen die Sparpolitik bestimmen und der offensichtliche Klassencharakter des Globalisierungsprozesses führen zusammen mit der strukturellen Verknüpfung durch die Logistik und der geographischen Verbreitung von Klassenerfahrungen dazu, dass internationale Solidarität zumindest gefühlt in letzter Zeit Gemeingut geworden ist. Das schlägt sich zunehmend in Solidaritäts- und, wie der europäische Protesttag zeigt, sogar in gemeinsamen Aktionen nieder. Wie wir sehen werden, sind die Streikwelle selbst und der Klassenkampf insgesamt konstitutiv für die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Kämpfe.

Die globale Streikwelle verstehen

Traditionell werden Streiks in politische und ökonomische unterteilt. Das entsprang vor allem der Erfahrung, Analyse und Praxis der Parteien der Zweiten Internationale und spiegelt deren organisatorische Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaft und Partei wider, wobei erstere sich um die wirtschaftlichen Bedürfnisse der ArbeiterInnen kümmert, und letztere sich auf ihre politischen Bestrebungen bezieht. Marx und Engels haben die Kategorien ’politisch‘ und ’ökonomisch‘ in Bezug auf die Bewegungen der ArbeiterInnen zwar angedeutet, aber nicht als scharf getrennte Unterscheidungen benutzt. Die weitläufig bekannte Aussage im Kommunistischen Manifest, dass »jeder Klassenkampf ein politischer Kampf« sei, kann sich auf ein allen Kämpfen innewohnendes Potential beziehen, inhärent selbst lokalen Kämpfen. Jahre später machte Marx folgende Unterscheidung:

Andererseits ist aber jede Bewegung, worin die Arbeiterklasse als Klasse den herrschenden Klassen gegenübertritt und sie durch Druck von außen zu zwingen sucht, ein political movement. Z.B. der Versuch, in einer einzelnen Fabrik oder auch in einem einzelnen Gewerk durch strikes etc. von den einzelnen Kapitalisten eine Beschränkung der Arbeitszeit zu erzwingen, ist eine rein ökonomische Bewegung; dagegen die Bewegung, ein Achtstunden- etc. Gesetz zu erzwingen, ist eine politische Bewegung. Und in dieser Weise wächst überall aus den vereinzelten ökonomischen Bewegungen der Arbeiter eine politische Bewegung hervor, d.h. eine Bewegung der Klasse, um ihre Interessen durchzusetzen in allgemeiner Form, in einer Form, die allgemeine, gesellschaftlich zwingende Kraft besitzt. Wenn diese Bewegungen eine gewisse previous Organisation unterstellen, sind sie ihrerseits ebensosehr Mittel der Entwicklung dieser Organisation.4

Größere, die ganze Klasse umfassende politische Bewegungen haben ihren Ursprung also in einzelnen Kämpfen; diese selbst sind ein unausweichlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens im Kapitalismus, der sich durch die Zerteilung der Produktion in eine Vielzahl von Arbeitsplätzen auszeichnet. Die Überwindung dieser Zerteilung durch den Klassenkampf ist sowohl ein Mittel der gesellschaftlichen Veränderung als auch Ziel an sich. Eine Bewegung der Arbeiterklasse ist dann politisch, wenn sie eine Bewegung der Klasse ist, also die Bewegung eines großen Teils der arbeitenden Bevölkerung, und nicht nur ein lokaler Kampf oder der einer einzelnen Branche. Aber die vereinzelten ökonomischen Konflikte sind die Grundsubstanz, aus der politische Bewegungen entstehen. Diese beiden Momente des Klassenkampfs sind mit anderen Worten an keinem Punkt völlig getrennt voneinander, und wie Marx feststellt, geht Organisation dem Massenkampf sowohl voraus als auch aus ihm hervor.

Die aktuelle Streikwelle ist eine Antwort auf die Auswirkungen des neoliberalen globalen Kapitalismus und die ’harten Zeiten‘, auf die in allen Ländern wachsende Ungleichheit, die Unsicherheit der Arbeitsplätze, die Streichung staatlicher Dienstleistungen bei gleichzeitiger Steuerentlastung für die Reichen. Aber genau diese Aufzählung zeigt, dass die Grenze zwischen unmittelbarem materiellen Elend einerseits – sprich Lohnkämpfen oder Aufständen gegen steigende Preise – und politischer Mobilisierung andererseits weder scharf gezogen noch leicht zu finden ist. Ungleichheit ist weder die einfache Auswirkung eines neutralen Globalisierungsprozesses, der einigen mehr Vorteile einbringt als anderen, noch Ergebnis eines neutralen technologischen Wandels.5 Es ist vielmehr so, dass eine wachsende Zahl von ArbeiterInnen Ungleichheit und Unrecht in politischen Entscheidungen begründet sieht, sei es in Form von Handelspolitik, Steuergesetzen oder Haushaltskürzungen. Wenn nun viele Staaten gewerkschaftsfeindliche oder gegen Streiks gerichtete Gesetze verabschieden und gleichzeitig weitreichende Kürzungen im Sozialbereich und Privatisierungsprogramme durchsetzen, ist die Streikwelle gegen diese Maßnahmen eine politische Bewegung, sowohl was die Teilnahme und Unterstützung eines großen Teils der Arbeiterklasse, als auch was die Maßnahmen selbst angeht: dabei handelt es sich nicht um Lohnkürzungen durch diesen oder jenen einzelnen Unternehmer, sondern durch Regierungspolitik.

Die weitreichenden Streiks, die seit einigen Jahren den Globus umkreisen und seit letztem Jahr an Intensität zunehmen, müssen als politische Bewegungen verstanden werden. Ein bedeutender Teil der Arbeiterklasse nimmt daran teil; und oft drücken die Sektoren, die wirkungsvoll streiken können, direkt die Forderungen, Erfahrungen und Bedürfnisse eines größeren Teils der Klasse oder der Bevölkerung im allgemeinen aus. Die Streiks der TextilarbeiterInnen in Mahallah, in Ägyptens größter Fabrik, griffen in den Jahren 2006 und 2008 die allgemeine Lohnfrage auf, und thematisierten implizit die durch Mubaraks neoliberales Regime entstandene Ungleichheit und die Diktatur selbst. Bei jedem Streik in Vietnam oder China geht es automatisch um die Ungleichheit und die niedrigen Löhne, die die Exportmaschinerie dieser Länder am Laufen halten. Es geht um die Diktatur und die politische Einschränkung von Streiks, die die ArbeiterInnen in Frage stellen müssen, um überhaupt handlungsfähig zu werden. Fast jeder Streik in Südafrika schließt eine Kritik an der Regierungsführung seit der Apartheid ein, am Verhältnis zwischen dem Gewerkschaftsverband COSATU und dem regierenden ANC, und an einer Ungleicheit, die die schlimmste auf der Welt ist und selbst die Zeit der Apartheid in den Schatten stellt.

Die Auseinandersetzungen in Wisconsin und anderen Staaten im mittleren Westen der USA drehen sich augenscheinlich um Renten, Gesundheitsversorgung und Lohnvereinbarungen. Aber das von den Republikanern geführte Parlament in Wisconsin hat lediglich die anti-gewerkschaftlichen Abschnitte des Gesetzes verabschiedet, nicht aber die Haushaltskürzungen des ursprünglichen Entwurfs; die Gesetzesvorlage aus Michigan sieht Ausnahmebefugnisse vor, mit denen gewählte Kommunalregierungen abgesetzt werden können. Das deutet darauf hin, dass jeder Versuch von ArbeiterInnen, ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen, sich heute direkt mit der Regierungsmacht konfrontiert sieht. Die Proteste drücken aber auch eine weiterverbreitete Stimmung unter der arbeitenden Bevölkerung aus, dass eine Politik im Sinne von Wall Street, Banken, Weltkonzernen und Superreichen gemacht wird, während sie selbst Einrichtungen wie z.B. Schulen verteidigen müssen, an denen ein sehr viel größerer und potentiell machtvoller Kreis von Menschen Interesse hat.6

Die Neuentstehung der Arbeiterklasse

Die Durchsetzung des Neoliberalismus im globalen Süden hatte Riots, Streiks und Revolten in weiten Teilen der Welt zur Folge, die oft als »anti-IWF-Riots« bezeichnet werden. Diese fanden weitgehend in den Städten statt und waren »Folge einer immer engeren Verflechtung der Weltwirtschaft, deren Neuordnung das internationale Staatensystem mittels Institutionen wie dem IWF koordinierte.« Diese Kämpfe fanden einen Widerhall in der Anti- oder Alter-Globalisierungsbewegung, die sich im globalen Norden 1999 nach den WTO-Protesten in Seattle erhob und mindestens bis zu den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 andauerte. Die Bewegung gegen den neoliberalen Kapitalismus war teils innerhalb des Weltsozialforums, teils in Form eines weitläufigen und komplexen Milieus von Gruppen außerhalb jeder übergreifenden Struktur organisiert, und wird am besten durch die Parole »One No, many Yeses« auf den Punkt gebracht. Rückblickend wird deutlich, dass die amorphe organisatorische und ideologische Natur eines großen Teils dieser Bewegung die Zersetzung vorangegangener Formen organisatorischer Macht durch den Neoliberalismus widerspiegelt, im Verbund mit einer (ablehnenden) Reaktion auf das Erbe des Stalinismus.

Die globale Verlagerung der Produktion schuf keine ’neuen Arbeiterklassen‘, denn diese defnieren sich am ehesten durch Kämpfe und nicht allein strukturell durch Arbeitsplatzbezeichnungen – die Mehrheit der Beteiligten an den anti-IWF-Riots waren sicherlich ProletarierInnen. Vielmehr gab die globale Verschiebung großen Teilen der Arbeiterklasse eine neue strukturelle Macht, die sie vorher vielleicht höchstens auf nationaler Ebene gehabt haben. Von Bangladesch, Vietnam und China über Brasilien und Swasiland bis Kenia und Bahrain waren HafenarbeiterInnen, BahnarbeiterInnen, ArbeiterInnen in Textil- und Schuhfabriken, ArbeiterInnen in Autofabriken und der Produktion und Weiterverarbeitung von Rohstoffen nun in einer Position, die Weltwirtschaft gleichzeitig auf nationaler und globaler Ebene anzugreifen und genau die Schnittstelle von lokaler und weltweit herrschender Klasse und ihre Versuche einer stärkeren Einheitsbildung zu treffen.

In einer neoliberalen Welt kann die Fähigkeit von entscheidender Bedeutung sein, die Verbindung zwischen einer nationalen und der globalen Wirtschaft oder den Zusammenhalt zwischen einer lokalen und der globalen herrschenden Klasse zu kappen. Dies bestätigte sich z.B. als auf dem Höhepunkt der Revolution in Ägypten landesweit Streiks ausbrachen. Die aufkommenden Streiks bei Unternehmen am Suez-Kanal und die Gefahr, dass dieser bei einer Ausweitung der Streiks geschlossen werden müsste, markierten das Ende Mubaraks – so sicher wie der Streik der Ölarbeiter 1979 dem Shah-Regime im Iran den letzten Stoß versetzte. Rund sechs bis sieben Prozent des Welthandelsaufkommens und rund ein Viertel des weltweiten Öltransports wird durch den Suez-Kanal abgewickelt. ArbeiterInnen in den sich entwickelnden industriellen Ländern waren auch vorher schon ArbeiterInnen oder zumindest ProletarierInnen, diese Länder waren auch vorher schon kapitalistisch. Aber die engere Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft und der gleichzeitig stattfindende Angriff auf Lebensbedingungen und ArbeiterInnenrechte durch kapitalistische Kräfte hat sowohl die strukturelle als auch die organisatorische Macht der ArbeiterInnen vergrößert. Als ArbeiterInnen ihre traditionelle Waffe des Streiks in einem geografisch und quantitativ geschichtlich einmaligen Ausmaß gebrauchten, gab das zumindest eine Zeitlang den eher verzweifelten anti-IWF-Riots der 1980er und 90er Jahre und den breiteren, aber weniger zusammenhängenden Bewegungen gegen die kapitalistische Globalisierung in den späten 1990ern und frühen 2000ern eine klarere und einheitlichere Form. Diese neugefundene strukturelle Macht ist an sich Teil der politischen Krise, weil strategische Macht in den Händen von gesellschaftlichen Gruppen, die politisch nicht repräsentiert sind und deren Interessen der gegenwärtigen Politik entgegenstehen, zu einer politischen Krise bisweilen epischen Ausmaßes führen.

Die Streiks selbst können als Antwort auf die politische Krise sowohl der nationalen Regierungen als auch der Global Governance selbst verstanden werden, und sie vertiefen diese. Bisher sind die Streiks an und für sich nicht revolutionär im Sinne Rosa Luxemburgs. An keinem Ort hat die Arbeiterklasse aus eigener Macht versucht, Arbeitsplatz und Regierung in ihrem Namen zu übernehmen. Und bisher ist sie nur in seltenen Fällen organisatorisch über die Gewerkschaften hinausgewachsen, auch wenn die Kämpfe in einigen Ländern schneller zu Massenbewegungen geworden sind: in Ländern wie den USA oder Frankreich, in denen die Gewerkschaften schwach sind – und in Ländern wie Bangladesch, China und Vietnam, in denen die Gewerkschaften strengen gesetzlichen Einschränkungen unterworfen sind. Aber wie im Luxemburg-Zitat am Anfang angedeutet, ist das Verhältnis zwischen Streiks und Revolution eng und dynamisch, heute keinen Deut weniger als in der Vergangenheit.

Die Streikwelle ist sowohl aus den strukturellen Veränderungen der Weltwirtschaft als auch aus den Massenkämpfen und Bewegungen gegen die Auswirkungen der neoliberalen Globalisierung hervorgegangen. Sie hat die Sparpolitik direkt konfrontiert und die Opposition auf diese gegenwärtige Wegbereiterin des Neoliberalismus – die zuallererst mit der nationalen Regierung verbunden ist und dann mit der Global Governance, von der sie ausgeht – konzentriert und damit zunehmend politisiert. So hat weltweit die Klassenbeziehungen in den Fokus gerückt. Breite Streikaktivitäten in einem Land stellen die Sparmaßnahmen in den Zusammenhang einer wachsenden Klassenkonfrontation. Zudem hat die Streikwelle den Weg für die politischen Revolutionen geebnet, die gerade die arabischen Länder in Nordafrika und am Persischen Golf erschüttern, indem sie Kampferfahrungen lieferte und die Unbezwingbarkeit der Herrscher und ihrer Politik in Frage stellte. Sie bot Inspiration und Sammelpunkte, mit denen sich andere, auch FacharbeiterInnen aus der Mittelschicht und StudentInnen, identifizieren und dann auf eigene Initiative und mit ihren eigenen passenden Taktiken handeln konnten. Kurz gesagt, die Streikwelle ist ein Moment der Klassenformation, in diesem Fall der Neuzusammensetzung durch den massenhaften Kampf der Arbeiterklasse auf Weltebene. Aber wo die Anti-Globalisierungsbewegung versuchte, durch komplexe Unterschiede verschiedener Ansätze, Forderungen und Ansichten hindurch zu wirken (einige sprechen sich für lokale Ökonomien aus, andere fordern universelle Rechte usw.), hält die Streikwelle den Kampf gegen die kapitalistische Globalisierung in gewisser Weise zusammen, fokussiert und politisiert ihn.

Wo nun Revolutionen in einer Vielzahl von Ländern auf der Tagesordnung stehen (und falls die These dieses Papiers stimmt, werden diese letztlich nicht auf die arabischen Länder beschränkt bleiben), kehrt die Komplexität, die die Anti-Globalisierungsbewegung international ausmachte, in gewisser Weise wieder, weil die relative Einheitlichkeit der Streikwelle in nationaldemokratische (bisher implizit, und vielleicht später explizit anti-kapitalistische) Revolutionen übergeht. Zweifelsohne ist jedes Gemeinwesen komplexer und vielgestaltiger, als einfach aus zwei Klassen oder dem zu bestehen, was die vereinfachten Darstellungen einer strengen Klassenanalyse erfassen können. Aber die Streikwelle trägt zum Ausbruch eines massenhaften Kampfs bei, zur Identifizierung eines gemeinsamen Gegners in der herrschenden Klasse, die von der Sparpolitik profitiert und diese als Intensivierung des neoliberalen Angriffs durchsetzt. Sie trägt zudem zur Entstehung einer breiteren Klassenfront bei, in der die DemonstrantInnen, ein repräsentativer Querschnitt der nationalen Bevölkerung, um Schlüsselfragen herum zusammenkommen; in der aber zugleich ArbeiterInnen als ArbeiterInnen und auch als Teil dieser größeren Bewegung durch ihre schiere Anzahl, ihren stärkeren Zusammenhang als Klasse und ihre Fähigkeit, Produktion und Transport zum Stillstand zu bringen, zum allgemeinen Kampf gegen die Regimes beitragen. Darüber hinaus dauern die Streiks nach dem Fall der Diktatoren oder neoliberalen Regimes nicht nur an, sondern sie gewinnen bisher wie in Tunesien und Ägypten an Dynamik, weil die Arbeiterklasse, fast schon wie im Lehrbuch, kollektiv als eine der Kräfte auftritt, die um nationale Bedeutung, Macht und Einfluss ringen.

Die Entstehung einer globalen politischen Krise

Um es kurz zu fassen: eine machtvollere Arbeiterklasse, die sich weiter von den Mächtigen entfernt hat und in quantitativer und qualitativer Hinsicht global auf einer höheren Ebene rebelliert, bedeutet eine politische Krise von neuem welthistorischen Ausmaß. Die Krise ist die Krise der Global Governance, insofern diese mit dem langen historischen Prozess der Hegemonie internationaler kapitalistischer Politik verbunden ist. Giovanni Arrighi zufolge haben in der kapitalistischen Geschichte aufeinanderfolgende hegemoniale Mächte den vorherrschenden Fraktionen des Kapitals Schutzdienste geboten und ihnen mit jeder Abfolge einen größeren politischen Raum für eine umfangreichere Sphäre der Akkumulation geboten. Da das Vermögen der USA, diese politische Organisation systemweit aufzubringen, sichtbar schwindet, ihre militärische Unanfechtbarkeit aber in der nahen Zukunft fortbestehen wird, beginnt die Suche des Kapitals nach einem politischen Partner, der die für den Kapitalismus insgesamt notwendigen organisatorischen Funktionen ausüben kann. Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass die dominierenden Fraktionen des globalen Kapitals, vor allem das Finanzkapital, in den Organisationen der Global Governance und ihren Akteuren eine neue Klassenallianz zur politischen Vermittlung gefunden haben; eine Klassenallianz, die weder die politische Kontrolle noch die militärische Macht aufgibt, die sie historisch in den Territorialstaaten fand. Diese Allianz aus Finanzkapital und den Bürokratien der Global Governance stärkt auf nationaler Ebene insbesondere die Zentralbanken und Finanzministerien, und verwandelt sie in Instrumente der Global Governance. Allgemein wird die Exekutive gegenüber der Legislative aufgewertet und der Ausnahmezustand bevorzugt – weil er mehr Machtmittel bereitstellt, um dem Kapital dienliche politische Maßnahmen durchzusetzen. Das zeigen sowohl die Einschüchterungstaktiken, mit denen die Banken-Bailouts nach dem Finanzcrash 2008 in den USA durchgesetzt wurden, als auch der oben angeführte Konflikt um die Gesetzesreform in Michigan.

Außerdem befähigt diese Allianz das Kapital, drei von Arrighi ausgemachte Probleme der heutigen Krise hegemonialer Macht zu überwinden: die USA sind militärisch zu mächtig, um in absehbarer Zukunft durch eine andere Macht abgelöst zu werden, die ansonsten besser aufgestellt wäre, um das Kapital auf einer neuen profitablen Grundlage zu reorganisieren; keine neue territoriale Macht, und das schließt China ein, kann die historische Tendenz fortsetzen, dass der Hegemon sich flächenmäßig ausdehnt, um über die Ressourcen zu verfügen, die für eine umfassende Hegemonie über die kapitalistische Welt notwendig sind. Letztlich gibt es eine stärker werdende Tendenz, dass jede hegemoniale Macht seit dem nahezu rein-kapitalistischen Staat von Venedig weniger nach streng kapitalistischer Logik operiert als die vorhergehende; eine Tendenz, die, obwohl Arrighi keine Gründe benennt, wohl der wachsenden Macht der Arbeiterklasse, den Anforderungen des Sozialstaats und den Geboten der Demokratie zuzuschreiben ist. Global Governance liefert Lösungen für diese Probleme, aber sie tut dies auf eine Art, die eine erhebliche und wachsende Überschneidung und Verschmelzung zwischen den Klassen der globalen Finanzbourgeosie und der Bürokratie der Global Governance hervorbringt. Diese nie ganz vollständige Verschmelzung vollzieht sich durch den Prozess der ’Eliten-Bildung‘ und der Verflechtung der jeweiligen Personalkräfte und führt zur Vereinheitlichung der globalen herrschenden Klasse. Diese Allianz hat verschiedene Vorteile: sie bietet eine beispiellose Mobilität und Flexibilität um zu handeln und Zugang zur staatlichen Macht an nahezu jedem Ort zu haben. Daher stellt sie eine geographische Ausweitung dar, die nicht per se an eine territoriale Ausweitung gebunden ist. Dieser Zugang ist überall dort gegeben, wo der Staat entweder Mitglied in Organisationen der Global Governance oder in diese integriert ist (daher die von einem revolutionären Standpunkt aus gesehene Bedeutsamkeit des staatlichen Rückzugs aus der Mitgliedschaft z.B. im IWF, der WTO, dem Euro oder gar der EU). Selbstverständlich ist die Militärmacht der USA niemals formal-organisatorisch der Global Governance untergeordnet, insbesondere der politischen Rechten in den USA würde darüber der Kragen platzen. Aber die informelle Verschmelzung von Personalkräften und politischer Perspektive federt den Absturz der US-Hegemonie ab; und auch wenn Militäraktionen in Bezug auf die Global Governance ambivalent bleiben, wie es z.B. bei der Intervention in Libyen der Fall ist, lässt sich kaum bestreiten, dass die (Militär-)Macht der USA im allgemeinen für kapitalistische Ziele eingesetzt wird. Wie wir gesehen haben, schwächt die Global Governance jede nicht-kapitalistische Logik und Politik von Staaten und den Einfluss nicht-kapitalistischer Kräfte.

Aber trotz all dieser Vorzüge hat die Global Governance den möglicherweise ausschlaggebenden Nachteil, dass sie auf nationaler Ebene die EntscheidungsträgerInnen von ihrer sozialen Basis abtrennt und das kapitalistische Gesicht der globalen Organisationen und ihrer Verbündeten in den Nationalstaaten entblößt. Sie untergräbt die Legitimation der Global Governance an sich wie auch die jeder nationalen Regierung, die die Sparpolitik im Sinne begrenzter finanz-kapitalistischer Interessen gegen die Interessen der großen Mehrheit der jeweiligen Bevölkerung durchsetzt. Nationale Regierungen, die weiche oder härtere Ausnahmezustände ausrufen, um eine Sparpolitik im Interesse der Weltfinanz durchzudrücken, werden sich kaum beliebt machen. Mubarak, Ben Ali, Gaddafi sind bloß Extremfälle, sie sind schwache Glieder eines sich heute in alle Ecken und Winkel ausstreckenden Kontinuums. Noch nie hatte das Kapital einen derart universellen und potentiell machtvollen politischen Verbündeten wie die Global Governance, und noch nie war seine gesellschaftliche Basis so dünn und zerbrechlich. Von Tunesien und Ägypten aus ist diese soziale Basis im politischen Aufstand zerbrochen. Von Griechenland bis Wisconsin wird sie in Frage gestellt.

Schlussfolgerungen: Die politische Krise der Global Governance

Global Governance und Revolution sind die logischen Konsequenzen der Sparpolitik, d.h. des politischen Gebrauchs der ökonomischen Krise um Reichtum weiter (in wenigen Händen) zu konzentrieren und Macht zu zentralisieren. Dieses Projekt findet jedoch in einem Zusammenhang statt, in dem ArbeiterInnen in vielen Teilen der Welt, die bisher von den Hauptströmen der Produktion, der Weltwirtschaft und des politischen Einflusses ausgeschlossen waren, wichtige Positionen in den Transportketten, der Exportindustrie und der staatlichen Infrastruktur einnehmen. Eine Klasse, die neugefundene Machtpositionen einnimmt und dabei noch nicht vollständig abgewickelte, aber politisch weniger repräsentierte, alte Machtpositionen verteidigt, stellt an sich schon eine Form der politischen Krise dar – ähnlich der Stellung der Bourgeoisie in Frankreich 1789. Auf der einen Seite eine Klasse, die Macht, Politik und Wohlstand zu monopolisieren sucht, ihr gegenüber eine andere Klasse, die den Reichtum der Welt erschafft, Fachkräfte aus der Mittelschicht und ArbeiterInnen in Produktion oder Logistik – das sind die Bestandteile einer gesellschaftlichen Explosion. Wachsende Ungleichheit und Elend sind die Zündhölzer, man findet sie fast überall, und die Sparpolitik ist der Zündfunke. Global Governance, eine politische Kraft, die niemanden vertritt, die im Interesse weniger und zum Nachteil der Mehrheit handelt, ist Öl aufs Feuer. Als ich in jungen Jahren an Protesten und Hausbesetzungen am Tompkins Square in New York beteiligt war, riefen wir: »Tompkins Square ist überall!« Tahrir Square wird es vielleicht wirklich sein.

Fußnoten:

1 i.O. »Austerity« (wörtl. Einschränkung, Enthaltsamkeit, Entbehrung, Strenge, Herbe), steht weniger für einzelne Sparmaßnahmen als für eine umfassende staatliche Sparpolitik, mit der öffentliche und private Ausgaben gesenkt werden sollen; für harte Kürzungen im Sozialbereich, Gehaltssenkungen und Entlassungen im öffentlichen Dienst usw. Es ist außerdem eine politischer Kampfbegriff, mit dem in Zeiten der Krise ein vernünftiger Ausweg vorgegaukelt und die Arbeiterklasse zu Kasse gebeten wird.

2 Hegel verwendet den Begriff im Abschnitt »Polizei« in der Rechtsphilosophie, § 231 ff., wo es um Sozialstaat, Gesundheitsfürsorge, Kriminalitätsbekämpfung und Straßenbeleuchtung geht.

3 Finance, Insurance and RealEstae, also Finanzsektor, Versicherungen und Immobilienbranche

4Marx an Friedrich Bolte in New York, London, 23. November 1871, in: Marx Engels Werke 33, S. 332-333.

5Siehe Paul Krugman, »Graduates versus Oligarchs« New York Times 27. Februar 2006. [Vgl. auch: Paul Krugman »Degrees and Dollars« New York Times 6. März 2011, wo Krugman herausarbeitet, dass Bildung und Qualifikation auf dem US-amerikanischen Arbeitsmarkt gar nicht mehr gefragt sind! d. Übers.]

6Dies ist eine Form dessen, was Silver als »Organisationsmacht« bezeichnet; diese reicht von bloß gewerkschaftlicher Organisation und Solidarität zu breiteren Klassenbewegungen, die auf gemeinsamen Interessen, Anliegen und Inspirationen durch andere, sich stärker ausdehnende Kämpfe basieren. Beverly Silver, Forces of Labor: Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870; Berlin/Hamburg 2005 (Original 2003)



aus: Wildcat 90, Sommer 2011

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