Wildcat Nr. 90, Sommer 2011 [w90_krisenthesen_anfang.html]



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Thesen zur Krise aus der Wildcat 90 von Mitte Juni 2011

On the road to nowhere

1) Polarisierung und Spaltung

In allen Krisen des Kapitalismus haben sich die Kräfteverhältnisse zunächst zu Ungunsten der Arbeiterklasse verändert. Auch diesmal wurden weitere Verschärfungen durchgedrückt (die Arbeit intensiviert, Reallöhne gesenkt, Sozialtransfers gekürzt). Wir erleben die größte Umverteilung von unten nach oben in der Geschichte der Menschheit. Diese verläuft aber nicht nur als krasse Polarisierung zwischen den »Superreichen« und den »Armen«, die Krise(npolitik) vertieft auch die Unterschiede innerhalb der Klasse selber und treibt die Vereinzelung voran.

2) Umbrüche

Aber in solchen historischen Momenten definieren sich auch Gesellschaften neu. Die globale Krise hat viele Leute über das Wesen des Kapitalismus, der Staaten, der Banken usw. aufgeklärt; sie entlegitimiert den Kapitalismus. Neue Akteure ergreifen die Initiative im Bewusstsein, Subjekt ihrer Geschichte und zugleich aller Geschichte zu werden. Die Aufstände in Nordafrika sind die Spitze von weltweiten Kämpfen. Sie haben schon jetzt Bewegungen in Europa und den USA inspiriert – und mittelfristig zwei Grundpfeiler des globalen Kapitalismus umgestürzt: billiges Öl und das Recycling der »Petrodollars« auf den globalen Finanzmärkten.1

3) Crash oder Stagnation?

Die aktuelle Krise ist in Verlauf, Reichweite und historischer Bedeutung mit der long depression von 1873-1896 zu vergleichen. In diesem Vierteljahrhundert ging es nicht ständig nach unten, es gab auch Perioden von Wirtschaftswachstum. Diese reichten aber nie aus, um den anfänglichen Einbruch auszugleichen, und wurden selber immer wieder von Rückschlägen unterbrochen. Seit dem Kriseneinbruch 1973 (»Ölkrise«) fallen die Akkumulationsraten und steigt die Arbeitslosigkeit, der globale Einbruch nach der Finanzkrise 2007 ist der Übergang in die Stagnation. Alle Bestandteile des Kapitalismus stehen infrage, Banken, Technologie, Sozialsysteme, politische Repräsentanz, Währungssystem, Energiegewinnung; »Fukushima« zeigt allen, dass kapitalistische Energiegewinnung sogar den Planeten selber bedroht. Zu Beginn der Krise hatte der Club of Rome den Forderungen der Arbeiterklasse die ökologischen Grenzen entgegengehalten. Mit Wachstum konnte der Kapitalismus immer wieder »Verteilungskämpfe« unterlaufen. Heute sind die »Grenzen des Wachstums« zu seinen Grenzen geworden.

4) Das Fließband hat den Planeten verändert

In der long depression entwickelte sich das, was man heute überhaupt unter »Kapitalismus« versteht: industrielle Herstellung von langlebigen Produkten des Massenkonsums (Nähmaschine, Staubsauger, Auto, Kühlschrank…). Die Branchen der Chemie- und Elektroindustrie oder die Konzerne als typische Organisationsform des Kapitals entstanden in dieser Phase. Erdöl/Strom ersetzte Kohle/Dampf als hauptsächliche Energiequelle. Ebenfalls in dieser Periode gründeten sich die Sozialdemokratie und die (Industrie-) Gewerkschaften. Und die Kolonialmächte zerstörten die Ökonomie der damaligen Peripherie (vor allem in China und Indien) derart umfassend, dass eine Hungerkatastrophe mit Millionen Toten die Folge war – das gilt als Geburtsstunde der »Dritten Welt«.

Die wesentliche Innovation war das Fließband, die Ingenieure nannten es »Bauerngeschirr«, denn mit ihm konnten die qualifizierten Handwerker-Arbeiter mit MigrantInnen und »freigesetzten« BäuerInnen ersetzt werden. Damit entstand eine ungeheuer produktive Kombination aus Arbeitsverausgabung und Akkumulation der vergegenständlichten Arbeit in Maschinen, die den ganzen Planeten umgegraben hat. Die Lebensmittel der Arbeiterklasse konnten so billig wie noch nie in der Geschichte hergestellt werden und prägten die »Konsumgesellschaft« der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Nahrungsmittel, Textilien, dann auch Haushaltsgeräte und schließlich das Auto – fast alle Waren, die wir heute kaufen, sind industriell produziert) .

5) Die Etappen des Fordismus

Das war keineswegs so angelegt, sondern Ergebnis von harten Kämpfen. Ford duldete keine gewerkschaftlichen Organisationen im Betrieb, setzte Spione und Schläger ein, verbot seinen ArbeiterInnen sogar miteinander zu reden. Sie beschrieben das damals größte Ford-Werk River Rouge als »großes Konzentrationslager, das auf Angst und körperlicher Gewalt beruht«. In den 30er Jahren setzten Arbeiterrevolten und die Fabrikbesetzungen in den USA dem autoritären System der Massenproduktion am Fließband ein Ende. Anerkennung und Integration der Gewerkschaften, an der Produktivitätsentwicklung orientierte Reallohnsteigerungen, Arbeitsplatzgarantien, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, (Betriebs-)Renten usw. legten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Grundlage für die kurze Phase des »keynesianischen Fordismus« – in der Produktivitätsfortschritte mehr denn je durch »wissenschaftliche« Zerlegung des Arbeitsprozesses, das Aufzwingen von in der Maschinerie verkörperten Arbeitsrhythmen und Intensivierung der Arbeit erreicht wurden.

Innerhalb von zwei Jahrzehnten unterhöhlte dieses Modell seine internationale Basis, Japan und Deutschland wurden zu ernsthaften Konkurrenten der USA, was auch die monetäre Grundlage zersetzte. Das auf der Goldbindung des Dollars beruhende Währungssystem mit festen Wechselkursen kam ins Wanken und brach schließlich 1971 endgültig zusammen. Vor allem aber nahmen in genau diesen Jahren die Arbeiterkämpfe gewaltig zu, und sie forderten nicht nur mehr Lohn und weniger Arbeit, sondern richteten sich im Kern gegen die »Fabrikdisziplin« selbst. Aus der buntscheckigen Klasse »angelernter BauernarbeiterInnen« entstand in den Massenarbeiterkämpfen, die sich gegenseitig mit den antikolonialen Kämpfen im globalen »Süden« und der Jugendbewegung verstärkten, erstmals in der Menschheitsgeschichte ein weltweites Subjekt mit zutiefst egalitären Inhalten. Diese breiten Kämpfe in Fabrik und Gesellschaft, in deren Zentrum der multinationale Fließbandarbeiter stand, haben die Konstellation aus Fließband und damit verbundener (Reproduktion der) Arbeiterklasse aufgesprengt.

6) Überakkumulationskrise

Das Kapital hat versucht, diese Krise zu überwinden durch eine radikale Umstrukturierung der Arbeitsmärkte und des Arbeitsprozesses selber, um jedes kollektive Subjekt zu zersetzen. Belegschaften wurden durch Prekarisierung und Auslagerung aufgespalten, Großbetriebe zergliedert, Leiharbeit und »atypische Beschäftigungsverhältnisse« ausgeweitet, soziale Sicherungssysteme privatisiert, usw.

In den 70er Jahren wurde versucht, die großen Fabriken durch Automatisierung und »Humanisierung der Arbeit« einzukreisen und die Unternehmer durch Subventionen und Steuersenkungen dazu zu bringen, wieder mehr zu investieren. Die sozialstaatlichen Leistungen wurden zunächst sogar ausgeweitet. All das führte zu massiver Staatsverschuldung, brachte aber keine Ergebnisse, Löhne und Ansprüche stiegen weiter an, die Investitionen blieben aus.

Erst mit der »zweiten Ölkrise« Ende der 70er begann das »große Abbremsen« (massive Zinserhöhungen, Kürzungen sozialstaatlicher Leistungen; Ende der Humanisierungsprojekte). Paradoxerweise führte aber gerade die »monetaristische Wende« in der Wirtschaftspolitik – symbolisiert durch den Machtantritt von Reagan und Thatcher – zur Explosion der Geldmenge und der Staatsverschuldung.

Trotz all dieser Maßnahmen sanken die Akkumulationsraten seit Anfang der 70er Jahre immer weiter ab, und die Kapitalisten suchten nach anderen »Anlageformen«, ein Teil ging in die Verlagerung der Produktion in »Billiglohnländer«, wachsende Teile flossen in Finanzgeschäfte. Diesen Zusammenhang von Verwertungskrise und wachsenden Finanzströmen bei gleichzeitiger Ausweitung des Kredits fassen wir als »Überakkumulationskrise«; die seitherigen Etappen waren lediglich eine Transformation dieser Krise.

7) Die 80er Jahre – die Dekade, die alles änderte

Der kapitalistische Gegenangriff kam letztlich nur voran, weil er an Verhaltensweisen von unten ansetzen konnte: Flucht aus der Arbeit, Selbständigmachen, Alternativökonomie, Aktien kaufen usw.. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre hatte dem Kapitalismus die große Krise gedroht. Aber die 80er Jahre wurden zum Wendepunkt: Scheitern der iranischen Revolution, Putsch in der Türkei, Niederlage im britischen Bergarbeiterstreik… Am Ende der 80er Jahre war »alles« anders als an ihrem Beginn; auch die ehemals radikale Linke hatte sich von egalitären und gemeinschaftlichen Vorstellungen verabschiedet und sprang auf den Zug des postmodernen Individualismus oder die antideutsche Begeisterung für große Politik in ihrer übelsten Form (Krieg) auf. Den Zusammenbruch des Ostblocks interpretierten diese Leute von Anfang an nicht als Aufbruch, sondern als weitere Niederlage egalitärer Vorstellungen.

Kurz zuvor hatte sich eine neue Geldpolitik durchgesetzt; den Bankencrash in den USA 1987 konterte der neue Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Fed, Greenspan, mit einer Niedrigzinspolitik, die sicherstellte, dass die Preise von Aktien und anderen Geldanlagen nicht unter ein bestimmtes Level fielen. Dieser sogenannte Greenspan put war das Gegenstück zu den keynesianisch nach unten starren Löhnen – und ermöglichte »Profite ohne Investitionen«.

8) Kreditausweitung und Aktieninflation

Seit Mitte der 90er Jahre ist die sogenannte »Realwirtschaft« nur noch gewachsen aufgrund der Ausweitung des Kredits. Zunächst in der Internetblase, die Greenspan nach ihrem Platzen in eine Immobilienblase überführte (Great Bubble Transfer). Deren Platzen trat die aktuelle globale Krise los – und diese Kombination aus Immobilien- und Bankenkrise ist bis heute weder in Irland, noch in Spanien, Großbritannien oder gar den USA gelöst.

Auch diesmal wurde das Ende der Rezession durch eine bewusst herbeigeführte Aktienblase erreicht. Die als Quantitative Easing bezeichnete Kombination aus Nullzinspolitik und Aufkaufen der eigenen Staatsanleihen sollte nicht, wie in der Öffentlichkeit behauptet, die Banken durch Zuteilung von billigem Geld zu mehr Kreditvergaben motivieren – sondern die Preise an den Wertpapiermärkten anheben und damit den Anleihenmarkt stabilisieren. Das ermöglichte das Überleben der Banken und gab ihnen die Mittel, schon bald wieder gewaltige Profite zu machen; bestimmte Industriebranchen wuchsen wieder.

9) Im Zentrum der Staatsschuldenkrise stehen die Banken

Durch die Flucht des Kapitals in Finanzgeschäfte ist die Finanzbranche seit den 70er Jahren überproportional gewachsen. In den USA lag der Anteil des Finanzsektors (Banken und Versicherungen) 1947 bei 2,5 Prozent, Anfang der 80er Jahre bei 5, seit 2000 liegt er um die 8 Prozent des bip (der Anteil der Industrieproduktion sank von 25 Prozent 1947, auf 20 Prozent1980 und liegt seit 2007 auf Werten zwischen 11 und 12 Prozent des BIP). Der Anteil des Finanzsektors an allen Unternehmensgewinnen in den USA lag am Ende des Zweiten Weltkriegs bei etwa 10, 2002 bei 40 und selbst im ersten Halbjahr 2009 noch bei 28 Prozent (zum Vergleich: laut Statistischem Bundesamt machten in der BRD die Banken 2008 18,5 Prozent aller Kapitalgewinne). Die Finanzbranche ist die am stärksten überakkumulierte Branche im heutigen Kapitalismus.

2007/2008 stand dieses globale Bankensystem am Abgrund. Zu seiner Rettung haben die Staaten 2008/2009 mindestens 18 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts ausgegeben. Sie konnten damit den Crash verhindern – haben sich selbst aber in historisch noch nie dagewesene Schulden gestürzt. Trotzdem sind viele Banken weiterhin insolvent und werden durch die riesigen Kapitalspritzen nur künstlich am Leben gehalten (»Zombiebanken«). Eine wichtige Beatmungsmaßnahme ist, dass sie an den Schulden, die Staaten für ihre Rettung aufnahmen, prächtig verdienen. Würde ein solcher Staat Konkurs erklären, würden einige Banken in den Abgrund gerissen. Deshalb tun IWF, EU, die USA, China und deren Notenbanken alles, um eine Staatspleite zu verhindern. Den solchermaßen geschützten Banken drohen nur zwei Gefahren: ein bank run (die Leute verlieren das Vertrauen und heben ihr Geld ab) oder der Interbankenmarkt friert ein (die Banken verlieren untereinander das Vertrauen und leihen sich kein Geld mehr). Beide Ereignisse strukturierten sowohl den Krisenverlauf 2007/2008 wie auch das aktuelle Gezerre um die sogenannte »Eurokrise«.

10) Krise der EU

Die Staatsschuldenkrise wurde im November 2009 an Dubai deutlich, entfaltet sich aber seit 2010 in der europäischen Peripherie. Die krassen Ungleichgewichte im Euroraum, die für die Exportökonomie der BRD so gut funktioniert haben, treiben die Peripheriestaaten in den Bankrott. Die in kurzen Abständen wiederkehrende »Eurokrise« ist keine der Währung – der Euro ist bisher stabiler als die D-Mark, im Vergleich zum Dollar sogar überbewertet, seine Bedeutung als Reservewährung nimmt zu –, sondern eine Krise der europäischen Banken, der Politik und der EU selber. Gerade die Konstruktion der EU verschärft die Krise. Sie sieht keine gemeinsame europäische Sozial- und Fiskalpolitik vor, die EZB entscheidet unabhängig über die Geldpolitik und hat dabei nur die Stabilität des Euro als Ziel. Die Krise wurde deshalb von »Brüsseler Schattenregierungen« und in einem »Dauer-Ausnahmezustand der Euro-Rettung«2 gemanagt. Die Hauptlast trug aber die EZB, sie rettete die Banken, denen sie die Schrottpapiere abkaufte, sie kaufte Staatsanleihen der überschuldeten Staaten (ein »Tabubruch«) und setzte diese gleichzeitig unter Druck; vor allem aber versucht sie durch ihre Zinspolitik zu verhindern, dass die ArbeiterInnen höhere Löhne erkämpfen.

11) USA – der Hegemon zerfällt

Die Peripherie Europas war nur das schwache Glied in der Kette, die Eurokrise nur der Auftakt zur nächsten Runde. Inzwischen rückt die Krise der USA in den Fokus. Am 16. Mai 2011 haben die Staatsschulden der USA die gesetzliche Obergrenze von 14,3 Billionen Dollar überschritten; mit einigen Tricks kann sich die Regierung noch bis zum 2. August durchschummeln, bis dahin muss der Kongress die Obergrenze angehoben haben, sonst droht Zahlungsunfähigkeit. Ende Juni läuft die zweite und letzte Phase des Quantitative Easing (QE2) aus, somit dürften die Zinsen steigen und die Immobilienkrise sich erneut verschärfen (bereits jetzt spricht man vom »double dip am US-Wohnungsmarkt«). Bisher konnten die USA von der Krise insofern profitieren, als gewaltige Summen in den »sicheren Hafen USA« flossen, sie somit ihre Staatsanleihen zu sehr niedrigen Zinsen absetzen konnten. Wenn die Zinsen steigen, könnte die USA-Staatsanleihenblase platzen und die Leitwährung Dollar crashen, damit ginge die erste wirklich weltweite Leitwährung zu Bruch. Keynes warnte einst, zum Sturz einer Gesellschaftsordnung gäbe es kein besseres Mittel, als ihre Währung zu ruinieren…

12) Globale tektonische Verschiebungen

Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus zerfällt ein Hegemon, ohne dass ein neuer an seine Stelle tritt.3 ... [den Rest könnt Ihr im Heft nachlesen]


Fußnoten:

[1] Die folgenden Seiten sind eine Synthese der Artikel zur Krise in den letzten Wildcats. Dort findet Ihr Belege und Erklärungen zu allen Behauptungen, die hier nur kurz dargestellt werden können, dort werden auch die Begriffe (Chimerica, Great Bubble Transfer, Quantitative Easing, BRICS u.ä.) eingeführt bzw. erklärt.

[2] Die Leitartikel der FTD vom 12. und 20. April 2011.

[3] Siehe Immanuel Wallerstein und Giovanni Arrighi zur Frage, dass kapitalistische Weltwirtschaft eine hegemoniale Macht braucht; Arrighi sieht vier in der Geschichte des Kapitalismus: Genua im 16., Holland im 17., Britannien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, danach die USA. Vgl. auch die Ausführungen von Steven Colatrella in seinem Artikel in diesem Heft und Wildcat 66



aus: Wildcat 90, Sommer 2011



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