Wildcat Nr. 90, Sommer 2011 [Portugal]
Vorabdruck aus Wildcat 90, die Ende Juni erscheint
Portugal - Ein Musterschüler geht pleite
Von Charles Reeve
Ein paar Wochen vor dem Sturz der Regierung senkte der sozialistische Premierminister die Mehrwertsteuer für Golfplätze von 23 Prozent auf sechs Prozent. Angesichts der allgemeinen Verblüffung erklärte er, dass der Golf-Tourismus Portugal helfen würde, aus der Krise zu kommen… Zwei Tage bevor das Land finanzielle »Hilfe« von Brüssel anforderte, kündigten die Bürgermeistereien der beiden Großstädte Porto und Faro an, dass die Schulküchen während der Ferien geöffnet blieben, damit die Kinder wenigstens eine Mahlzeit pro Tag bekämen. In der Stadtregion Porto, der zweitgrößten Stadt des Landes, leben tatsächlich zwei Drittel der Armen und die Mehrheit der SozialhilfeempfängerInnen Portugals. In Faro, der großen Stadt des Touristengebiets Algarve, liegt die Arbeitslosigkeit über dem nationalen Durchschnitt von offiziell elf Prozent. Diese beiden Anekdoten beleuchten einerseits die Arroganz der politischen Klasse, andererseits die allgemeine Verarmung der Gesellschaft.
Zehn Jahre nach seiner Einstufung als »Musterschüler der europäischen Integration« ist das bankrotte Portugal auf den Titelseiten der Zeitungen. Die Medien decken einerseits die Armut und die soziale Ungleichheit auf, andererseits die zur Schau gestellte Verschwendung der Bourgeoisie, vor allem die der »Neuen Reichen«, die von dieser »Integration« profitiert haben. Zwischen Autobahnen und Einkaufszentren, in denen die großen deutschen, französischen und spanischen Handelsketten ihre Waren ausbreiten - unter den gierigen Blicken einer Bevölkerung mit beschränkter Kaufkraft, aber mit problemlosem Zugang zu Krediten - war der durchreisende Europäer schließlich zu dem Glauben gekommen, dass Portugal ein modernes Land in Europa wäre, während das portugiesische Volk nicht mehr weiß, woran es ist… Der Kapitalismus ist ein auf soziale Ungleichheit gegründetes Klassensystem, und das kleine Portugal bleibt nicht davon ausgenommen, auch nicht von den Konsequenzen der neoliberalen Periode, in der das Einkommen stark zugunsten des Kapitals verlagert wurde. Aber hier wird diese Entwicklung zu einer Gesellschaft der »zwei Geschwindigkeiten« auf eine altüberlieferte Armut aufgepresst.
Einige Zahlen werden helfen, zur Wirklichkeit zurückzukommen. In Portugal beträgt das mittlere monatliche Einkommen 1000 Euro, aber in den armen Regionen des Landes die Hälfte. Von einer Bevölkerung von zehn Millionen sind mehr als zwei Millionen Rentner, von denen kaum zehn Prozent mehr als 1500 Euro Rente beziehen. Die durchschnittliche Monatsrente liegt bei 380 Euro. 1,3 Millionen Menschen leben von 189 Euro Sozialunterstützung. Fast eine Million, insbesondere junge Leute, arbeiten prekär mit den berühmten »Grünen Scheinen« (recibos verdes) als Scheinselbständige - und müssen ihre Sozialbeiträge selbst bezahlen. Seit einigen Jahren steigt die Armutsrate wieder an. Nach Aussagen der Wohltätigkeitsorganisationen wurden allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 2011 40 Prozent mehr Anträge auf Hilfe gestellt. Und die Suppenküchen werden gestürmt. Im Auswanderungsland Portugal suchen viele wieder ihr Glück im Exil.Viele osteuropäische MigrantInnen, die in Portugal waren, sind zurückgegangen. Seit 2000 ist die Auswanderung fast wieder so hoch wie in den 1960er Jahren; jeden Monat verlassen 2000 Arbeitslose das Land und werden aus Wählerlisten gestrichen.
Der portugiesische Staat ist heute hoch verschuldet und hat nicht einmal mehr die Mittel, weiter Geld zu horrenden Zinsen aufzunehmen, um die Schulden zu bedienen. Deshalb wurde er unter die direkte Kontrolle von Brüssel gestellt. Bevor wir den ökonomischen Neusprech über die Schulden dechiffrieren, ist es wichtig zu klären, wie es zu dieser Situation gekommen ist.
Die Folgen des EU-Beitritts
Die Situation der ArbeiterInnen hat sich in den letzten 35 Jahren stark verändert. Die erste Veränderung haben die sozialen Bewegungen nach der »Portugiesischen Revolution« erreicht, die zwar nicht die gesellschaftliche Ordnung umwälzten, aber die sozialen Bedingungen total transformierten, was Löhne, Arbeitsbedingungen, Arbeitsgesetzgebung usw. betrifft. Nach dem EU-Beitritt 1986 stiegen die Löhne und die Beschäftigung, ein Sozialstaat wurde aufgebaut, entsprechend den neuen Bedingungen der Ausbeutung der Arbeitskraft. Die Infrastruktur wurde ausgebaut, und die niedrigen Löhne zogen ausländisches Kapital an; die kapitalistische Entwicklung wurde in Schwung gebracht. Für eine kurze Zeit ging die Auswanderung zurück, staatliche Investitionen stiegen und die allgemeinen Lebensbedingungen verbesserten sich. Da die Löhne die niedrigsten in Europa blieben, wurden Konsumentenkredite eingeführt, um den Konsum der Arbeiterklasse zu steigern. Die enormen Finanzinvestitionen, die in Form von Krediten oder direkter Hilfe von Brüssel kamen, finanzierten diese Modernisierung des Landes und verteilten Geld an die großen europäischen Baufirmen und andere Branchen, aber auch an einen wichtigen Sektor der lokalen Kapitalistenklasse. Einige konzentrierten sich auf besondere Großereignisse wie die Weltausstellung in Lissabon, Porto als Europäische Kulturhauptstadt oder die Fußballeuropameisterschaften.
Mit der Osterweiterung der EU und den ersten Anzeichen der jetzigen kapitalistischen Profitkrise begann sich das Bild zu ändern. Fabriken gingen weg, schlossen, Löhne wurden gar nicht, verspätet oder nicht in voller Höhe ausgezahlt. Die Arbeitslosigkeit stieg, die Auswanderung stieg wieder an und das soziale Elend nahm zu. Die traditionellen Armutssektoren der portugiesischen Wirtschaft waren im vorangehenden Zeitraum zerstört worden und konnten keine Arbeitsplätze schaffen. ArbeiterInnen standen auf einmal ohne Job da, aber mit einem Haufen Schulden. Auch die traditionellen Familienstrukturen, die Verbindungen zum Land, die zur Reproduktion der Arbeitskraft beitragen konnten, waren entweder durch die rasche Landflucht oder durch die neuen isolierten und atomisierten Lebensformen zerstört worden. Der jüngste Angriff auf den Sozialstaat schließlich führte zu dieser sozialen Krise. Interessant ist, dass die alten Formen von Armut, also die alten Leute auf dem Land, nie verschwunden sind und sich mit den neuen jungen urbanen Formen verbanden. Zusammengefasst kann man sagen, dass in all diesen verschiedenen Zeiträumen die Löhne immer die niedrigsten in Europa geblieben sind. Als die jetzige Krise begann, war die Arbeiterklasse schon geschlagen. Die »Europäische Entwicklung« hat eine »Mittelklasse« im öffentlichen Sektor hervorgebracht, die – nach dem Versagen des Staates und der Zerstörung staatlicher Sozialpolitik (Erziehung, Gesundheit, Funktionsfähigkeit der Städte) - nun direkt angegriffen wird und langsam aber sicher dabei ist, der Arbeiterklasse in die Armut zu folgen.
Portugal ist also ein exemplarischer Fall der »Europäischen Integration«. Diese armen Gesellschaften der Peripherie wurden in der Tat von den Unternehmen und Banken der großen europäischen kapitalistischen Zentren ausgeplündert. Die schwache lokale Wirtschaft von einst wurde zerstört, Landwirtschaft und Fischerei, von der ein Teil der Bevölkerung – wenn auch schlecht – lebte, existieren praktisch nicht mehr. Die niedrigen Löhne haben einige Jahre lang Industrien mit hohem Bedarf an wenig qualifizierter Arbeitskraft angezogen – bis zum Anschluss der mittelosteuropäischen Staaten. Ein paar moderne Unternehmen und einige Zulieferfirmen großer Multis, die alle von der weltweiten Rentabilitätskrise betroffen sind, gibt es auch heute noch. Das soziale Netz ist ausgeblutet. Allein in der Stadtregion Porto gehen täglich 50 Läden oder Kleinbetriebe pleite. In manchen Einkaufsstraßen der Altstadt hat die Hälfte der Läden geschlossen und ein Drittel der Immobilien steht leer oder ist sogar eine Ruine. Im Handel sind zugunsten der großen Ketten europäischer Konzerne 2010 landesweit 40 000 Stellen weggefallen. In der Landwirtschaft haben die Landflucht, die Aufgabe von Feldern, die touristische Immobilienspekulation und die europäischen Flächenstilllegungsprämien zu einem Einbruch der Produktion geführt. Das frühere Agrarland Portugal importiert heute ein Drittel seiner Nahrungsmittel.
Der Diskurs über die Verschuldung
Kommen wir nun zu dem Schwindel, der sich hinter dem Diskurs über die Schulden verbirgt. Wir beziehen uns hier nur auf die Staatsschulden und lassen die privaten Schulden beiseite. Das, was man die »Hilfe« aus Brüssel oder vom IWF nennt, ist nichts anderes als dass weitere Darlehen vergeben werden zu Zinsen, die kaum niedriger sind als die auf dem privaten Markt – unter der Bedingung, dass äußerst aggressive Sparmaßnahmen durchgeführt werden. Diese »Hilfe« ist in Wirklichkeit eine Hilfe für den europäischen Bankensektor, damit sie weiterhin Zinsen für ihre Kredite kassieren können. Allein für das Jahr 2011 muss der portugiesische Staat 39 Milliarden Euro Kredit aufnehmen, von denen 32 Milliarden für Zinsen und Schuldentilgung bestimmt sind. Die europäischen Banken sind dadurch erheblich gefährdet. Von den an die portugiesische, irische, griechische und spanische Regierung verliehenen 380 Milliarden Euro kamen 264 Milliarden von den Banken anderer Länder der Eurozone, und im Fall Portugals haben sich spanische Banken besonders »exponiert«. Das heißt, allein die Zinszahlungen für die schon bestehenden Schulden treiben die Gesamtschuld immer weiter nach oben… – ein Schneeballmechanismus, dem ein Staat nur durch Konkurs und Zahlungsverweigerung entkommen kann. Was für die Banken zählt, ist die Fortsetzung der Zinszahlungen, die Schuld selber muss womöglich nie zurückgezahlt werden. Das scheint sich im Fall Griechenlands schon zu bestätigen.
Außer der Sicherstellung des Schuldendienstes muss der Staat auch die Finanzierung seiner eigenen Dienstleistungen und anderer Aufwendungen abdecken. Zu den Aufwendungen für sogenannte »Investitionen« gehören »Konjunkturprogramme«, die nach guter keynesianischer Logik die Wirtschaft wieder ankurbeln sollen. Aber wenn man den großen europäischen Konzernen mit einigen lokalen Zulieferern Geld für öffentliche Arbeiten gibt, wirkt sich das beschäftigungsmäßig letztlich kaum aus. Das gilt auch für das Projekt einer Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Madrid und Lissabon, deren Umfang von Tag zu Tag kleiner wird…
Da nun einmal der Druck des internationalen Finanzsektors es nicht erlaubt, den Schuldendienst zu umgehen, muss offensichtlich am Staatshaushalt gekürzt werden, von der Bildung bis zum Gesundheitswesen.
Wie überall gehorchen auch in Portugal die Notmaßnahmen derselben kapitalistischen Logik. Ziel ist es, die Löhne drastisch zu drücken. Die Ökonomen, die die Fäden der politischen Marionetten ziehen, sehen das aktuelle Problem in den Arbeitskosten, diese müssen für die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals gesenkt werden, um Privatinvestitionen anzuregen und damit den Aufschwung zu fördern. Aber in einer Gesellschaft wie der portugiesischen, wo die gesellschaftliche Armut strukturell und die Prekarität der Arbeit eine der höchsten in Europa ist und wo der Anteil der Löhne am produzierten Reichtum schon lange vor dem Beginn der Krise zu sinken begann, ist dieses Argument unhaltbar. Die Austeritätspläne der sozialistischen portugiesischen Regierung haben zuerst die Industriearbeiter verarmt und haben es nun geschafft, den Lebensstandard der Mittelklasse zu schleifen: der Beamten, Lehrer usw. - und damit das Feuer der Revolte in zuvor friedlichen Bereichen entfacht..
Das Feuer der Revolte…
Anfang April haben die Medien lang und breit über die neue politische Instabilität schwadroniert und sie mit dem skrupellosen Politikerleben erklärt, das sich über den Köpfen der einfachen Jedermänner abspiele. Nichts ist falscher als das; denn diese politische Krise – der Sturz der Regierung – wurde durch eine gesellschaftliche Krise ausgelöst, die nicht erst heute begann, mit einer Vielzahl von Streiks, einschließlich Generalstreiks und beeindruckenden Straßendemonstrationen. Die Gewerkschaften – dominierend dabei die von der kommunistischen Partei kontrollierte CGTP, die vor allem im öffentlichen Dienst verankert ist – haben diese Aktionstage vor allem mit dem Ziel organisiert, die Unzufriedenheit in Richtung auf einen Verhandlungsweg zu kanalisieren.
Tatsache ist, dass die Beteiligung an den Streiks massiv zunimmt und die Stimmung kämpferisch ist. Besonders exemplarisch ist der sehr hart geführte Konflikt der Lehrer der Sekundarstufe gegen die Zerschlagung ihres Status und die absehbare Verschlechterung der Lehrbedingungen, der sich seit zwei Jahren hinzieht. Der letzte Tag des Generalstreiks am 24. November 2010, an dem es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam, mobilisierte die Beschäftigten im öffentlichen und im Privatsektor. Zum ersten Mal seit den Jahren der Portugiesischen Revolution wurden Streikpostenketten gebildet, es gab Versuche von Besetzungen und Aufrufe zur Fortsetzung der Bewegung.
Ende 2010 gab es einzelne Anzeichen, dass die Unzufriedenheit auf eine neue Stufe gestiegen war. In den Demonstrationen traten kleine Gruppen mit antikapitalistischen Positionen auf, Zeichen einer Radikalisierung der prekarisierten Jugend. Die ArbeiterInnen zeigten sich gegenüber den revolutionären Parolen der Jugend so aufgeschlossen, dass der Ordnungsdienst der CGTP mehrmals einschritt, um die »Kontamination« ihrer Umzüge zu verhindern. Dann gab es den Vorfall Deolinda, der schnell zu einer »nationalen Affäre« wurde. Anfang 2011 produzierte diese bekannte Rockgruppe einen Song mit dem provokativen Titel »Parva que sou!« (Wie blöd bin ich doch!), der hinaus schreit: »Ich gehöre zur resignierten Generation / Ich habe im Fernsehen Leute gesehen, denen es schlechter geht als mir. / ich bin aus der Generation, die das nicht mehr aushält! / Diese Situation dauert schon viel zu lange / und weil ich nicht mehr blöd bin / sage ich mir, / Was ist das für eine blöde Welt / wo man studieren muss, um Sklave zu werden« Die Konzerte der Gruppe verwandelten sich in politische Versammlungen, es gab stehenden Applaus mit erhobener Faust. Über YouTube verbreitet erreichte der Song, der eine simple Feststellung zur Lage macht, eine politische Dimension und wurde zum Wahrzeichen der »prekären Generation«. Die Intellektuellen diskutierten, die Politiker wurden unruhig, die Medien begeisterten sich und die Gruppe machte ihre Schnitte… und verwahrte sich dagegen, Politik zu machen. Einige Wochen später wurde Os homens da luta (Männer des Kampfes), eine mittelmäßige Gruppe mit populärer Musik, die die Lieder der Revolutionszeit (1974-75) parodiert, von den Fernsehzuschauern ausgewählt, um Portugal beim Eurovision Song Contest zu vertreten, was bei denselben Intellektuellen Bestürzung auslöste! »Kämpfen macht Spaß« ist der populäre Nachfolgesong von »Wie blöd bin ich doch!«
[http://www.eurovision.de/teilnehmer/homensdaluta107.html - Portugal ist im Halbfinale ausgeschieden.]Und dann ging man am 12. März 2011 abrupt vom Showbiz und schlechter Poesie zum Konkreten über. Ein Demonstrationsaufruf, der von jungen Leuten, die sich selbst Geraçao à rasca (Generation in der Klemme oder verlorene Generation) nennen, über die sozialen Netze verbreitet wurde, brachte massenhaft Leute auf die Straßen der wichtigsten Städte des Landes: 300 000 in Lissabon, 100 000 in Porto und 6000 in Faro. Die Aufrufer hatten vor allem junge Leute erwartet, die jungen Leute dachten, es ginge nur um sie selbst, aber der Rest der Gesellschaft sagte schnell: es geht um uns alle! Wir stecken alle in der Tretmühle, es ist keine Frage der Generation! In der Menge mischten sich die Generationen, Volks- und Mittelklasse-Schichten, es mischten sich in einer unbefangenen Atmosphäre Fahnen schwingende Patrioten, Punks, Kommunisten, Anarchisten, Einzelpersonen, die stolz die Verfassung mit sich trugen, andere, die mit Aufklebern an die »Nelken-Revolution« erinnerten. All das außerhalb von Parteien und Gewerkschaften. Zahlreiche Parolen äußerten eine radikale Gesellschaftskritik: »Weder Ökonomie, noch Arbeit…Verpisst euch alle!«, »Eine andere Krise ist möglich!«. Zwei Gedanken dominierten: Die Ablehnung der politischen Klasse insgesamt und die Bejahung von Autonomie in der Aktion: »Das einige Volk braucht keine Parteien!« Eine geheimnisvolle Erinnerungsarbeit brachte das Wort »apartidarismo« (Organisierung außerhalb von Parteien) wieder zum Vorschein, das während der Nelken-Revolution geprägt worden war.
Bei der Mobilisierung am 12. März 2011 gab es mehr Bezüge auf die tunesischen und ägyptischen Revolten als die griechischen. Auf einem auffälligen Transparent stand auf portugiesisch und arabisch »Basta!«. Als wäre die Fäulnis der politischen Demokratie mit einer neuen Diktatur vergleichbar, erstickenden Verhältnissen, von denen man sich befreien müsse. Die Anspielungen auf die Revolution von 1974 können ebenso interpretiert werden als Feststellung, dass ein Emanzipationsprojekt verpfuscht wurde. Dieses Projekt ist mit einer Aura versehen und hat für die jungen Leuten von heute nur vage Umrisse, aber es ist in der gesellschaftlichen Vorstellung präsenter, als man vermuten könnte. Der Aufruf zu einer zweiten Demonstration am 25. April 2011 ist aus diesem Blickwinkel noch eindeutiger, »Der 25. April in der Klemme!«.
Diese erste Demonstration besiegelte das Schicksal der sozialistischen Regierung, sie war aber Ausdruck des Misskredits gegenüber der politischen Klasse insgesamt. Die angeblich beleidigten Aufschreie der Politiker, die den sogenannten Nihilismus der »Jungen« anprangern, zählen angesichts der konkreten Erfahrung wenig. In 36 Jahren ist das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie dahin geschwunden, Politiker gelten als verabscheuenswerte Betrüger. Die Portugiesische Sozialistische Partei trägt eine erhebliche Verantwortung für dieses Image. Ihre Nomenklatura ist eine Bande von gierigen Raubtieren, Neureichen und Geschäftemachern, ein mafiöser Krake, der sich alles unter den Nagel reißt, was Vorteile oder Privilegien bringen kann, der in die Finanz-, Immobilien- und spekulativen Bereiche investiert, Freunde, Familienmitglieder und Bekannte auf einträglichen Posten platziert. Die sozialistischen Minister und Notabeln werden vom Volk verabscheut. Nur wenige von ihnen sind nicht in fragwürdige Affären verwickelt, die meistens straffrei ausgehen.
Die Sozialistische Partei ist eine Sozialmafia, die sich auf alle Industriebranchen (soweit sie überlebt haben), hauptsächlich aber auf die Finanzbranche erstreckt. In der Gesellschaft gibt es allgemein das Gefühl, dass sie versuchen, ihre korrupten Machtmethoden zu schützen und deshalb lange Zeit eine direkte Intervention von Brüssel und dem IWF vermeiden wollten. Das ist ein politischer Grund. Man könnte sogar sagen, dass es im Volk Erwartungen an diese Intervention von außen gibt, als ein Weg, wieder Moral in das öffentliche Leben zu bringen, um die »Sozialistenbande« loszuwerden. Es gibt auch wirtschaftliche Gründe, wichtiger ist meiner Ansicht nach aber die Tatsache, dass Spanien geschützt werden muss, weil Portugal die letzte Mauer ist, bevor auch Spanien fällt. Der Finanz- und Spekulationssektor in Spanien ist enorm in der portugiesischen Verschuldung engagiert und deshalb bankrott.
Für die »normalen Leute« wird diese Rettung natürlich mehr Leiden bringen, die Mittelklasse im öffentlichen Sektor wird noch mehr absteigen und nichts wird gelöst werden. Es ist nur eine Hilfe für die Banken, die in der öffentlichen Verschuldung engagiert sind.
Portugal ist das erste Land in Europa, in dem eine linke, sozialistische Regierung sich gezwungen sieht, wegen der durch die Austeritätspolitik hervorgerufenen sozialen Unzufriedenheit die Macht aufzugeben.
Das Beispiel zeigt auch gut, wie sehr die politische Klasse durch die Krise destabilisiert ist. Obwohl der Misskredit gegenüber dem parlamentarischen Systems groß ist, sind die großen Parteien gezwungen, sich mit ihrer Wählerschaft auseinanderzusetzen. Die Sozialistische Partei macht das schlau. In Portugal waren anfangs die Notmaßnahmen gegenüber dem öffentlichen Dienst moderater als in Griechenland oder Irland: nur die Löhne, die oberhalb von 1500 Euro lagen, wurden um fünf Prozent reduziert, das 13. und 14. Monatsgehalt belassen. Die PS hat soweit wie möglich auf ihre Wählerschaft Rücksicht genommen, zögerte aber nicht, die ärmsten Arbeiter heftig anzugreifen. Die Abfindungszahlungen wurden um ein Drittel reduziert und die ohnehin schon miserablen Sozialleistungen eingeschränkt. Durch neue Berechnungskriterien für den Zugang zur Sozialhilfe schaffte es die Regierung, in einem Jahr 30 000 Familien aus dem Empfang auszuschließen.
Kaum hatten sie die Staatsgeschäfte aus der Hand gegeben, haben die Sozialisten ihren neuen Wahlslogan gefunden: »Portugal verteidigen!« – eine nationalistische Demagogie, hinter der sie die Verteidigung ihrer mafiösen Interessen und ihre Verbindungen zu den lokalen und internationalen Finanz- und Industriesektoren verbergen, um die es wegen der Intervention des IWF schlecht stehen könnte. Darüber hinaus folgten die sozialistischen Sparpläne derselben Logik wie die zukünftigen: Senkung der Löhne, Verringerung der Sozialleistungen, rechtliche Deregulierung des Arbeitsmarkts, Schutz der hohen Einkommen und der kapitalistischen Klasse. In Erwartung der Ankunft des IWF hat die Sozialistische Partei unverfroren ihre Aufgabe als Bewahrerin des Systems übernommen, so wie sie schon 1975 unter sehr viel gefährlicheren Umständen mit militärischem Druck und Unterstützung der Vereinigten Staaten die Rückkehr zur kapitalistischen Ordnung durchgesetzt hatte.
Nach drei Sparpakten schien die Partei in einer schlechten Position für die Fortsetzung der Schmutzarbeit zu sein. Es war dringend, das Gesicht der politischen Klasse zu säubern/renovieren, auch wenn jeder weiß, dass die an ihre Stelle tretenden Politiker der rechtssozialdemokratischen Partei Klone der Sozialisten sind. Hat nicht Brüssel – wo von nun an alles entschieden wird – zur Bedingung für die »Hilfe« gemacht, dass die gesamte politische Klasse vor Ort der Fortsetzung der Austeritätspolitik zustimmt? Das wird nicht gemacht, um die Glaubwürdigkeit der Politik wieder herzustellen; auf die Gefahr hin, den Raum für den sozialen Protestes noch zu erweitern.
Wenn sich Länder wie Portugal, Griechenland, Irland und dann noch Spanien von der isländischen Haltung – Ablehnung der Schuldenzahlung – anstecken ließen, könnte das den Zusammenbruch des Europäischen Währungssystems nach sich ziehen. Der Zusammenbruch der Peripherien zöge den der kapitalistischen Zentren Europas nach sich und würde endlich eine einheitliche soziale Situation in Europa schaffen. Andernfalls wird es in jedem Land zu einer fremdenfeindlichen Absetzbewegung wie in Finnland, mit noch viel verheerenderen sozialen Folgen kommen. »Das ist Politik vom Schlimmsten«, werden die Taliban des »Kapitalismus als einzig mögliche Perspektive« schreien, aber die jetzige Situation ist für die Mehrheit der Bevölkerung in Portugal wie überall in Europa schon die schlimmste Politik.
Auf Anti-Atom-Demos in Berlin nach dem kapitalistischen Verbrechen von Fukushima kam ein Slogan besonders gut an: »Unsere AKWs sind so sicher wie unsere Renten!« Diese kluge Parole paraphrasierend könnte man ebenso gut sagen, dass »die Beherrschung der kapitalistischen Ökonomie genau so sicher ist, wie die Beherrschung der Kernenergie durch die Wissenschaft.« Es ist Zeit, sich mit der realen Situation zu befassen, den von der Ökonomie vergifteten Boden aufzugeben und autonome Praktiken der Übernahme der Gesellschaft durch die Betroffenen selbst zu entwickeln. Der Kapitalismus ist ein gefährliches System und die Folgen seiner Krise sollten uns auf Trab bringen. Attentismus und Resignation bringen keine Sicherheit mehr; sie sind eine Gefahr.
Charles Reeve, 20. April 2011
aus: Wildcat 90, Sommer 2011