»Wenn ich eine Wahrheit ausspreche, dann nicht, um diejenigen zu überzeugen, die sie nicht kennen, sondern um diejenigen zu verteidigen, die sie kennen.«
William Blake
Das vorliegende Buch des anarchistischen Ethnologen David Graeber wurde von der Frankfurter Allgemeine Zeitung begeistert besprochen, von der amerikanischen Financial-Times-Redakteurin (und studierten Ethnologin) Gillian Tett mehrfach abgefeiert und erntete ganz allgemein zustimmendes Nicken im Kulturteil der seriösen bürgerlichen Presse. Es fragt sich, warum das eigentlich so ist, denn Graeber vermeidet ganz bewusst die üblichen Abkürzungen, mit denen linke Polemik für Liberale verdaulich gemacht wird: Das Buch ist weder eine von schwacher Analyse begleitete Auflistung von moralischen Aufregern noch eine akademische Abhandlung, die einen taktvollen Bogen um die sozialen Widersprüche der Gegenwart machen würde. Graebers beeindruckender Kenntnisreichtum hat nichts von der positivistischen Art der peer-reviewten Geisteswissenschaften und aus jeder Zeile spricht seine Feindschaft gegen den Kapitalismus oder wenigsten gegen die ihn nach seiner Wahrnehmung umgebende Gesellschaftsordnung, was vielleicht nicht ganz dasselbe ist.
Ein Grund, warum das Buch in der FT und der FAZ so gut ankommt, könnte sein, dass Graeber sich zur Urheberschaft an der schlechtesten politischen Parole der letzten Jahre bekennt: »Wir sind die 99 Prozent«. Er drückt sich nicht um die Verantwortung dafür, ganz im Gegenteil. Natürlich lassen sich die tatsächlichen Praktiken, die die »Occupy-Bewegung« ausmachen, nicht so leicht abtun oder einer einzigen »Politik« zuordnen, aber um die tatsächlichen Praktiken geht es den Kommentatoren, die die im Namen von »Occupy« abgegebenen öffentlichen Statements wie auch Graebers Buch ernsthaft zu analysieren versuchen, auch gar nicht. Diese Journalisten – oder wenigstens einige von ihnen – sind keine Idioten. Technisch wissen sie über die Schuldenkrise Bescheid, also können sie die mit den »Schulden« verbundenen Widersprüche, das alle Grenzen sprengende Ausmaß der »Krise« und die damit verbundene soziale Konfrontation kaum ignorieren. Vielmehr bieten die Erklärungen von Occupy und das Buch von Graeber – auf jeweils etwas unterschiedliche Art – den Experten eine unwiderstehliche Gelegenheit, beliebig viel über soziale Widersprüche und Krise zu reden, ohne jemals Produktion, Arbeit oder Klasse zu erwähnen. Es ist leicht für die kapitalistischen Medien, darüber zu reden, dass der Kapitalismus nicht »nachhaltig« sei, wenn sie dabei alles ausblenden können, was spezifisch für das Kapital als solches ist.
All das hilft vielleicht verstehen, warum Graeber bei den professionellen Erklärern so beliebt ist, aber es macht ihn nicht verantwortlich für das, was sie sagen. Es wäre vollkommen sinnlos und akademisch, einem nicht-marxistischen Autor vorzuwerfen, dass er die marxistischen Kategorien vernachlässigt. Selbst Bücher, die direkt auf eine Nische im Ideologien-Markt zielen (und das tut dieses nicht!), enthalten manchmal wichtige beschreibende oder kritische Anstöße: Ein gutes Beispiel ist der von Graeber mehrfach zitierte Michael Hudson, der ganz offen den Kapitalismus vor sich selbst retten will. Was Schulden. Die ersten 5.000 Jahre teilweise bedenklich macht, ist nicht die Zustimmung, auf die das Buch bei »reformistischen« Kolumnisten stößt, sondern dass seine radikalsten »antikapitalistischen« Momente einen »Kommunismus« beschwören, der sich kaum von der »Community« unterscheidet, d.h. der aktuellen Lieblingsbegründung für die polizeiliche Kontrolle der Gesellschaft, die der Autor ganz ehrlich hasst.
Es geht Graeber nicht um sektiererisches Punktesammeln. Er will die ganze westliche politische Ökonomie beiseitefegen (innerhalb derer Marx für ihn nur eine kleine Störung darstellt) und durch etwas anderes ersetzen. So fragt er am Ende einer überzeugenden Widerlegung des »Mythos vom Tauschhandel« im Allgemeinen und bei Adam Smith im Besonderen ganz nebenbei, warum spätere Ökonomen diesen Mythos nicht einfach ebenso fallengelassen hätten wie andere offensichtlich peinliche Teile von Smiths Denken, z.B. die Arbeitswerttheorie. Dieser Einzeiler bekommt mehrere ethnographische und althistorische Kapitel lang erstmal Zeit, sich zu setzen, bevor der Autor bestätigt, dass er das wirklich ernst meint und auch belegen will. Aber dabei geht es dann gar nicht mehr um das Verhältnis der Arbeit zu Schulden, Geld oder Wert. Stattdessen greift Graeber das gesamte materialistische Kategoriengerüst an, innerhalb dessen so etwas wie eine »Arbeitswerttheorie« überhaupt entstehen konnte.
Der stärkste Teil des Buchs ist eine zwei Kapitel lange Beschreibung der reziproken Bestimmung von Formen von Geld, Staat und Religion/Ideologie in Asien, Europa und Teilen von Afrika zwischen 800 v. Chr. und 1450 n. Chr., d. h. zwischen der »Achsenzeit«1 und dem »Mittelalter«. Dieser Abschnitt trägt nicht nur zur Korrektur des in der orthodoxen Wirtschaftsgeschichte und einem Gutteil des Marxismus gängigen Eurozentrismus bei. Seine Behandlung der ökonomischen Formierung der Kultur und der kulturellen Artikulation von Ökonomien kommt der besten materialistischen Geschichtsschreibung nahe. Allerdings ließe sich Graeber nicht gern als Materialisten bezeichnen, und damit hätte er recht. Zum einen versteht er seit der Zeit vor 800 v. Chr. bis heute unter Wirtschaft fast ausschließlich den Austausch oder die Zirkulation: diese Kategorie ist nicht trivial, aber sie lässt sich nicht trennen von der Produktion und ist nicht deckungsgleich mit dem gesamten materiellen Leben an sich. Zum anderen sieht Graeber trotz seines aufmerksamen Blicks auf Details der historischen Zusammenhänge und Umbrüche über viele Jahrhunderte hinweg und auf einem Großteil des Globus durch das Raster einer einzigen transhistorischen Struktur, nämlich von »Geschichtszyklen«2, die überall zu einem ewig wiederkehrenden Wechsel zwischen persönlichen »Kredit«- und unpersönlichen »Münz«-Ökonomien (bzw. -Zirkulationssystemen) führen.
Mit der detaillierten Beschreibung in diesen Kapiteln will Graeber ausdrücklich den »Materialismus« angreifen, der dabei als eine Art atrophierter Szientismus dargestellt wird. Dabei ist Graeber in seinen semi-materialistischen Passagen selbst noch schlimmer. Graeber erkennt den sogenannten »Materialismus«, der seit der Achsenzeit in Zeiten der »Münz-Ökonomie« blühe – und mit der Anhäufung von trägen Objekten zum Verkauf einhergehe –, zu Recht als die eine Seite eines rohen Dualismus zwischen Materie und Geist, in dem die eine Seite Folge der anderen ist, ob das ideelle Gegenstück eine theologische Konstruktion oder das »objektive« Auge/Ich des empirischen Beobachters (z.B. eines Ethnologen) ist. Wenigstens ist Graebers Darstellung originell: Statt auf den Idealismus der positiven Wissenschaft hinzuweisen (ein unvollendetes Projekt, bei dem jede Hilfe willkommen wäre), deckt er den Skandal des geheimen Materialismus der Spiritualität der Achsenzeit auf! Damit landet Graber zwar eine rhetorische Überraschung, aber es ist unredlich, den der akademischen, kommerziellen und politischen Rationalität innewohnenden metaphysischen Dualismus als »Materialismus« zu bezeichnen. Der Materialismus hat diesen Dualismus in seinen »wissenschaftlichen« und »spirituellen« Formen bereits vor Newton und Kant im Denken und in seiner Geste negiert und negiert ihn immer noch (Spinoza, Milton, Marx, Iggy Pop ...), wobei ihm als Schatten ein dialektischer Idealismus folgt, der das Weltliche nicht austreiben, sondern umfassen will (Bruno, Hegel, Blake, John Coltrane ... und Graeber?). Das Problem am Materialismus ist aber nicht, dass er irgendetwas mit der technischen Priesterschaft und dem spirituellen Buchhaltertum zu tun hätte, die dem Kapital seine Metaphysik und seinen common sense verleihen; vielmehr darf die materialistische Negation ein Nischendasein als kulturell tolerierte Kuriosität führen, während die ihr entsprechenden gesellschaftlichen Praktiken der Negation vorläufig mit Gewalt niedergehalten werden.
Wenn man ständig im Kopf behält, dass es sich bei dem, was Graeber »Materialismus« nennt, tatsächlich um den Materie-Geist-Dualismus handelt, den die Materialisten von den monistischen Scholastikern bis zu den dialektischen Riotern schon immer negieren, dann ist die Geschichte dieser im Zusammenhang mit mehr oder weniger merkantilen Gesellschaftsverhältnissen immer wieder auftauchendenentleerten Wissenschaft tatsächlich nützlich. Aber Graebers Beharren darauf, den ideologischen Bestandteil von »Münz-Ökonomien« als »Materialismus« zu bezeichnen, erinnert unweigerlich an eine umgangssprachliche Bedeutung des Wortes (die eigentlich weniger in einer gesprochenen Sprache vorkommt als in Zeitungspredigten): »Materialismus« als ungehörige Fixierung auf bloße Waren oder einfach »Gier«. Wie in: »Bankster / Gangsta-Rapper / wir westlichen Konsumenten sind oberflächlich und materialistisch und müssen wieder geistige / gemeinschaftliche Werte beigebracht bekommen.« Im Gegensatz zu den professionellen und Amateur-Ideologen, die so etwas tatsächlich sagen, predigt Graeber nicht die spirituelle Erneuerung als Ersatz für die Befriedigung materieller Bedürfnisse. Aber er spricht sich ganz klar gegen den »Materialismus« im »vulgären« Sinne aus, auf den er das Wort reduziert: Er empfindet überhaupt keine Sympathie für das elementare Prinzip, dass proletarische Gier gut ist.
Die Verachtung für »bloße« materielle Befriedigung teilt Graeber mit vielen Post-Situationisten und einigen (wenngleich nicht allen) Theoretikern der »Kommunisierung«, die ebenfalls meinen, jede Revolution müsse zuerst eine anthropologische sein: eine kollektive Selbstheilung von der psychologischen »Entfremdung«, bei der die Entfremdung der Arbeit in der Ware sich als sekundärer Effekt von allein auflösen würde. Eine der besten Antworten auf diese Art von Denken hat schon vor langem ein satter bourgeoiser Professor gegeben, und zwar fast 30 Jahre bevor die kulturelle »Befreiung« als Antwort auf »die Ereignisse von 1968« zum ersten Mal in materielle Einschnitte verpackt wurde. »Zart wäre einzig das Gröbste: dass keiner mehr hungern soll.« Nur »einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten.«3
Worum es bei der Polemik gegen den »Materialismus« eigentlich geht, wird am nächsten Ziel dieser Polemik klarer, nämlich dem »Interesse« (wie »in Selbstinteresse«). Diese Zielscheibe hat wahrscheinlich von vornherein weniger Verteidiger. Graeber beginnt mit dem »Eigeninteresse« bei Hobbes, macht eine Anmerkung zur Etymologie vom (römischen Rechtsbegriff) interesse zum interest (Zins) an einer Schuld und bleibt danach bei einer derart engen Definition, dass noch nicht einmal ein Vertreter einer Theorie der Angebotsökonomie oder rationaler Märkte widersprechen würde. Das »Selbst« ist strikt ein einzelnes Individuum ohne widersprüchliche Begierden und äußere Bindungen. Das »Interesse« unterliegt weder Schmerz und Lust noch Zerstörung und Bewahrung, sondern bedeutet strikt »Streben nach fortgesetztem Gewinn«. Diese schwindelerregend reduktive Formel dient dem Zweck einer pauschalen moralischen Verdammung, aber wie beim »Materialismus« wird hier der Großteil der mit dem jeweiligen Wort konnotierten Inhalte entweder aus der Definition ausgeschlossen oder pauschal niedergemacht. Graeber will darauf hinaus, dass die in einer Tradition von Hobbes bis zu den heutigen Ökonometrikern »Eigeninteresse« genannte persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung nicht im Entferntesten dem Gewirr von Bedürfnissen, Impulsen und Einschränkungen ähnelt, das die soziale Interaktion der Menschen in Wirklichkeit bestimmt. Das ist ja richtig, aber überhaupt kein Grund, subjektive (inklusive kollektive) Interessen überhaupt nach dem Schema von Hobbes oder der Chicago School auf einfache Gewinn- und Verlustrechnungen von einfachen Individuen zu reduzieren. Sobald man zugibt, dass diese Beschreibung eine Karikatur ist, dann ist klar, dass sie fast alles ausschließt – aber wie verstehen wir eben diesen großen Rest? Graeber schlägt »nicht nur Liebe und Freundschaft, sondern auch Neid, Bosheit, Ergebenheit, Mitleid, Lust, Peinlichkeit, Empörung und Stolz« (S. 349) als echte menschliche »Motivationen« vor. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber es fällt auf, dass sie ausschließlich psychologische und individuelle »Motivationen« enthält. Ein paar Seiten später heißt es, Adam Smith habe »die Rolle von Güte und Bosheit im Wirtschaftsleben« (S. 353) ignoriert. Einer Sphäre von engem, konkurrenzorientiertem, individuellem »Interesse« wird also eine interessenlose Sphäre gegenübergestellt, die den ganzen Rest der persönlichen Moral enthält. Mehr analytisches und strategisches Material bleibt einem nicht übrig, wenn man die Welt verstehen und verändern will, ohne sich mit den widersprüchlichen, veränderlichen, vermittelten Interessen zu beschäftigen, die die gesellschaftlichen Subjekte konstituieren, beleben und zerreißen.
Eine dynamische Auffassung von unpersönlichen Interessen ist weder eine exklusive Spezialität des Marxismus noch sonstwie exzentrisch: ohne sie wäre der politische Aufstieg der Bourgeoisie nicht weit gekommen, genauso wenig hätte die aufsteigende Bourgeoisie auf eine Welt der persönlichen Moral zur Erbauung der Unterklassen verzichten können. Graeber bemerkt, dass Hobbes das »Interesse« aus der Buchführung in die Sozialphilosophie übernommen hat4, behauptet aber, dies sei keinesfalls eine »Eröffnungssalve« gewesen. Tatsächlich war das Wort Mitte des 17. Jahrhunderts fester Bestandteil des englischen politischen Vokabulars und gehörte ganz klar zur Ideologie der Besitzenden, hatte aber nicht nur die enge Bedeutung einer »Gebühr für die späte Rückzahlung eines Kredits«. Vielmehr behaupteten die Landbesitzer unter Vorwegnahme eines Arguments, das bis ins 19. Jahrhundert hinein immer wieder gegen die Abpressung von Konzessionen vorgebracht wurde, ihr Interesse am Land [country] – gegen die willkürliche Macht des Königs ebenso wie gegen den unnützen landlosen Pöbel. »Interesse« ist hier im heutigen finanziellen ebenso wie umgangssprachlichen Sinne von Risiko zu verstehen, wobei der letztere sich vom ersteren ableitet. Wer Eigentum an Land und/oder Handelskapital hat, für den steht im politischen Kurs des Staates etwas auf dem Spiel, der hat etwas zu verlieren und somit ein Recht, bei der Regierung mitzureden. Diese Doktrin, die so viel zur politischen Legitimität der Bourgeoisie beitrug, enthielt gleichzeitig schon den Keim zu ihrer Überwindung. Der Widerspruch bricht auf, als bei den Putney Debates von 1647 (vier Jahre vor dem Leviathan), wo für einen Moment mehr als eine einzige Zukunft greifbar nahe schien, Oliver Cromwell das Wort ergriff: »Wo kann es irgendeine Grenze oder ein gesetztes Maß geben«, fragte er, wenn die Wahlen auch »Männern geöffnet werden, die kein Interesse haben außer dem zu atmen«?5 Das »Interesse zu atmen« ist keine ironische Redewendung: jede erfolgreiche bürgerliche Macht seit 1640 hat wie Cromwells Generäle das Interesse am bloßen Atmen ernst genug genommen, um ihm mit einer Mischung aus Repression, Spaltung und präventiver Korruption zu begegnen.
Ohne die widersprüchlichen, undeutlichen, veränderlichen Interessen von in sich selbst widersprüchlichen, undeutlichen, veränderlichen »Subjekten« lässt sich weder der endlose Krieg zwischen den bloß Atmenden verstehen, noch seine Überwindung denken – falls man nicht gerade erwartet, dass dies durch eine allerhöchste moralische Willensanstrengung geschehen werde. Daher bin ich auch – wie schon zu Anfang gesagt – gegen die Parole von den »99 Prozent«. Selbst angenommen, dass die Verfechter dieser Parole damit nicht einen nationalen, sondern einen globalen Prozentsatz meinen, so haben doch 100 Prozent der Weltbevölkerung ein gemeinsames abstraktes Interesse – oder unendlich vermitteltes konkretes Interesse – an der Abschaffung der Wertform, die letztlich auf die Vernichtung der Menschheit hinausläuft. Aber die Aufteilung 99 zu 1 widerspricht jeder harmlosen Träumerei über diese Dinge. Sie behauptet eine klare Gegenüberstellung – die sich sogar so anhört wie ein Klassenkonflikt – und benennt die Seiten. Aber diese Seiten sind keineswegs Klassen: Sie werden nicht über ihre materielle Interaktion, sondern demographisch bestimmt, d.h. über persönliche Identitäten: eine beliebige Anzahl (70 Millionen bzw. 1 Prozent von 7 Milliarden) der reichsten Menschen gegen alle anderen auf der Welt. Intelligente Verfechter werden einwenden, dass es sich bei den »99 Prozent« »nur« um eine Parole handelt, die weder als Analyse gemeint ist, noch aus einer solchen folgt, aber wenn eine Parole so oft wiederholt wird wie diese, lohnt es sich meistens, über die genaue Bedeutung der Worte nachzudenken. Und in diesem Fall wird behauptet, dass die Interessen innerhalb der Gruppe der »99 Prozent« bzw. innerhalb der Gruppe des »1 Prozent« vielleicht nicht vollkommen, aber immerhin so weitgehend übereinstimmen, dass alle »inneren« Konflikte auf den jeweiligen Seiten zweitrangig, unwichtig würden und z.B. der Unterschied zwischen einer Londoner Rechtsanwältin mit einem großen, hypothekenbelasteten Haus (die immer noch zu den 99 Prozent gehört) und einem Hedgefonds-Milliardär mit einem Portfolio von Besitztümern (der zu dem 1 Prozent gehört) viel grundlegender sei als der Unterschied zwischen der Rechtsanwältin und dem Kindermädchen, das mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis bei ihr arbeitet. Während es sich bei dem Konflikt zwischen den afrikanischen WanderarbeiterInnen in den südafrikanischen Townships und den lokalen afrikanischen ArbeiterInnen, von denen sie in den Pogromen von 2008 abgeschlachtet wurden, um ein tragisches Missverständnis oder vielleicht um falsches Bewusstsein oder einen Anfall von individuellen Sünden gehandelt haben müsste. Genauso unwirklich wäre dann auch der Widerspruch, den ein schlecht bezahlter Spezialist für gewaltsame Repression – der z.B. als outgesourceter Polizist bei der Sicherheitsfirma G4S oder als Handlanger einer »kriminellen« Organisation arbeitet – einerseits als Proletarier und andererseits als Bestrafer von ProletarierInnen erlebt. Nochmals: Ich will hier nicht die mit der Parole von den »99 Prozent« verbundenen Praktiken kritisieren (und sie erst recht nicht durch 75:25, 50:50 oder irgendein anderes Verhältnis ersetzen). Die geistige Schlichtheit von Parolen, die die Welt nach Identitätgruppen unterteilen (ob 99:1 Prozent, nach Nationalität oder nach kulturell halluzinierten »Klassen«) betone ich nur, weil sie genau den Verlauf widersprüchlicher Interessen durch diese ganzen Gruppen hindurch verdeckt. Nur mit einem dynamischen Interessenbegriff – der weit über Graebers Definition von »Profitstreben« hinausgeht, nämlich bis hin zu seinen »Liebe, Empörung ... Ergebenheit, Mitleid« usw., wie sie von den rohesten materiellen Bedürfnissen vermittelt werden – können wir anfangen, die widersprüchlichen Bedürfnisse, Ziele oder Risiken zu verstehen, die sich in jeder Subjektposition und den Abhängigkeitsverhältnissen, die diese widersprüchlichen Elemente miteinander verbinden, kreuzen.
Auf Interessen zu schauen, ist auch keineswegs pessimistisch. Graeber ist ein erklärter Feind der »Unpersönlichkeit«, die er in der Geschichte immer wieder in Episoden von »Münzökonomie« auffindet, bis sie zum wesentlichen Merkmal von »kapitalistischen Imperien« werde. Ihm entgeht dabei aber völlig, dass die Unpersönlichkeit der Interessen – und der von ihnen konstituierten Klassen – die einzige Möglichkeit darstellt, den Krieg zwischen den Klassen zu überwinden, selbst wenn die Tiefe der miteinander im Konflikt stehenden Abhängigkeiten den Versuch sehr traumatisch macht. Ein Subjekt gehört nicht in dem Sinne zu seinen Interessen, wie man (so lange der Aberglaube anhält) glaubt, eine Person gehöre zu Identitätskategorien: Verwandschaft, Kaste, feudaler Stellung, Nationalität, psychologischem Profil usw. All diese Kategorien stellen natürlich auch Interessen mit einem zwanghaften gesellschaftlichen Gewicht dar, aber sobald sie als solche erkannt – oder säkularisiert – werden, ist der Bann gebrochen. Ein Interesse verrät eher ein Verhältnis, eine Situation, als ein angeborenes persönliches Merkmal. Und als solches lässt es sich, anders als persönliche Eigenschaften, verändern, verwerfen oder – um es in der den Interessen oft übergestülpten Sprache der Identität zu sagen – verraten.
Beim Verwerfen von Interessen geht es nicht um eine innere Konversion, sondern eine Veränderung von »äußeren« Beziehungen, wodurch sich in der Folge eine aus Interessen zusammengesetzte Subjektposition ändern kann. Das ist wiederum keine esoterische marxistische Auffassung. Auch die Realpolitik, wie sie von den Fraktionen praktiziert wird, die in ihrem Umgang miteinander und in ihrer privaten Diskussion über die bloß atmende und arbeitende Klasse Teile des Kapitals verwalten, enthält einen Begriff von zufälligen, interessegebundenen, in sich widersprüchlichen Subjektpositionen. Identitätsaberglaube kommt erst dann ins Spiel, wenn die Verwalter sich an ihre Untergebenen wenden, die gern im Namen der »Konkurrenz« oder der »Gemeinschaft« aufeinander losgehen dürfen, da sich ein realistisches Bild der widersprüchlichen Interessen bei ihnen in die falsche Art von sozialem Sprengstoff verwandeln könnte.
Ein kollektives Interesse ist auf ganz andere Weise möglich als eine kollektive Identität, denn ein Interesse bedingt die beteiligten Körper nicht vollständig: Es beschreibt ein gemeinsames Verhältnis zur gesellschaftlichen Totalität und lässt alle anderen Widersprüche weiter wüten. Solidarität in einem kollektiven Interesse muss sich gegen die widersprüchlichen Interessen derselben Subjekte durchsetzen, wenn sie nicht von den Widersprüchen aufgerieben werden soll (wie z.B. in einem Streik, der wegen der unmittelbaren Bedrohung des Überlebens der Streikenden in einer Niederlage endet). Selbstverrat für ein kollektives oder ein erweitertes kollektives Selbstinteresse kann vorübergehend (wie beim »Waffenstillstand zwischen den Gangs«, über den letztes Jahr während der Riots in London berichtet wurde) oder überhaupt langsam und ungleichmäßig stattfinden und lässt sich immer wieder rückgängig machen (wie in den harten Klassenbildungsprozessen in der ganzen Geschichte). Seine verallgemeinerte, irreversible Form war bisher noch nicht zu sehen: Marx nannte sie die Selbstaufhebung des Proletariats.
Den »kapitalistischen Imperien« ist ein eigenes Kapital gegen Ende des Buches gewidmet; danach kommt noch eine Zusammenfassung der Periode seit Bretton Woods. Diese Aufteilung überrascht ein wenig angesichts der mehrere Jahrtausende umspannenden Perspektive. Nach einem etwas beliebigen »Beginn der Entwicklung« (S. 363), dem Jahr 1700, sei zwar wirklich etwas Neues passiert, aber letztlich habe es sich dabei höchstens um eine radikale Neuzusammensetzung von Elementen früherer »Geschichtszyklen« gehandelt. Die Beschäftigung mit einer anderen Produktionsweise würde, wie Akademiker gern sagen, »das Thema der vorliegenden Untersuchung sprengen«. Ein Abschnitt des Kapitels über die »kapitalistischen Imperien« trägt die Überschrift Was ist also der Kapitalismus? Dabei wird allerdings nicht ganz klar, ob die auf der darauf folgenden Seite gegebene Antwort als allgemeine Definition oder nur als Beschreibung eines andernorts als »ursprüngliche Akkumulation« bezeichneten Moments im engeren Sinne zu verstehen ist. »In der Entstehungszeit des modernen Kapitalismus [stoßen wir] auf einen gigantischen Finanzapparat von Kredit und Schulden, der in der Praxis dazu dient, aus fast allen Menschen, die mit ihm in Berührung kommen, mehr und mehr Arbeitskraft6 herauszupumpen und damit eine unendlich anwachsende Menge materieller Güter zu produzieren.« (S. 363f.) Weiter vorne im Buch hatte Graeber schon Adam Smiths Arbeitswerttheorie mit einer beiläufigen Spitze abgetan. Jetzt wird die Auspressung von Arbeit mehr oder weniger theoretisch als sekundäre Folge des »aus Krediten und Schulden bestehenden Finanzapparats« abgehandelt: Beim Inhalt der »Kredite und Schulden« muss es sich um etwas anderes handeln, selbst wenn der Sammelapparat ein ungeheures Maß an Plackerei aus den Verschuldeten herauspresst. Dann gibt es die »unendlich anwachsende Menge materieller Güter«: nicht unbedingt falsch, aber in dieser Formulierung hört sich das eher nach einem Überfluss von Konsumartikeln als nach der Akkumulation von toter Arbeit zum Zwecke erneuter Investitionen an. Graeber ist frei von dem meist mit dem Mythos von Überfluss einher gehenden Anti-Konsum-Moralismus, aber er erklärt nicht das Verhältnis zwischen der Zunahme von »materiellen Gütern« (als Ursache) und dem Herauspumpen von mehr Arbeit (als Wirkung und dann wieder Ursache usw.).
Eine weitere Fehldeutung der Ausdehnung des Kapitals kommt ein paar Seiten später, wenn unentlohnte oder unvollständig entlohnte Arbeit als »der geheime Skandal des Kapitalismus« (S. 368) bezeichnet wird. (Als Beispiele werden Kaufklaverei (chattel slavery), Schuldknechtschaft (indentured service), Trucksysteme7 und die informelle Aneignung von Naturalien aufgeführt; Hausarbeit fehlt in der Auslistung) Wahrscheinlich kann man nie genug betonen, wie groß die in Kapital verwandelte Menge an unentlohnter Arbeit ist, aber als Beweis anzuführen, dass das Kapital nie »hauptsächlich auf der freien Arbeit beruhte« (S. 368), läuft fast auf die Behauptung des Gegenteils hinaus. Wenn ein auf warenförmiger abstrakter Arbeit beruhendes soziales Verhältnis nur in Enklaven formell freier Arbeit existiert hätte, ließe sich die Einverleibung von Fremdkörpern in das Kapital nur als eine Serie von einzelnen, nicht miteinander verbundenen Wundern verstehen, und der größte Teil der Welt wäre heute nicht kapitalistisch. Zur Illustration des »geheimen Skandals« verweist Graeber auf Peter Linebaughs The London Hanged. In Linebaughs großartigem Buch geht es aber gerade darum, wie ein auf formell freier Arbeit beruhendes Kapital äußere soziale Praktiken vereinnahmt und verschlingt und dabei nur teilweise voll ins »freie« Lohnsystem assimiliert. Die Vorstellung, die Organisation des Kapital reiche nur so weit wie seine formelle Vollendung, ist ein seltsames Spiegelbild des allerfabrikzentristischsten Operaismus. Wenn es ein Skandal ist, dass das Kapital immer unentlohnte Bestandteile hat, dann ist es auch ein Skandal, dass Apple seine Computer nicht in einer vergrößerten Garage in Palo Alto montiert oder dass ein Mafia-Boss die Leute nicht persönlich erschießt.
Trotzdem reduziert Graeber den Kapitalismus nicht wie üblich auf Kredite und Schulden. Das würde auch nicht passen – schließlich hat er viel gegen das Kapital einzuwenden, nicht aber unbedingt gegen den Kredit. Denn wie jeder »englische oder französische Bauer« im 16. Jahrhundert wusste (ebenso wie viele andere von Ethnologen beobachtete Dorfbewohner), sind es gerade die Schulden zwischen Personen, die »Gemeinschaften zusammenschweißen«. Die Geschichte vom »Ursprung des Kapitalismus«, in denen diese gemeinschaftliche Bindung zerfiel, handelt davon, »wie eine auf dem Kredit beruhende Wirtschaftsordnung n eine auf den Zinsen beruhende Wirtschaftsordnung verwandelt wurde. Es ist eher eine Geschichte der Verwandlung moralischer Netzwerke durch die Einmischung der unpersönlichen und oft rachsüchtigen Staatsmacht.« (S. 350) Graeber behauptet nicht, es habe einen »staatlichen Putsch« gegeben: Es ist eine Stärke des Buches, immer die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Konsolidierung von Militär und Staat einerseits und privater Akkumulation andererseits hervorzuheben. Die Schlüsselwörter in der zitierten Passage lauten »unpersönlich« und »einmischen«. Die ganzen »5000 Jahre« des Titels hindurch hättten sich unpersönliche Münzregimes und vom persönlichen Kredit geprägte »humane Ökonomien« abgewechselt. Mit »Einmischen« und »Verwandlung« ist hier aber weniger ein einfaches Sichabwechseln als vielmehr eine Übernahme gemeint: Wenn die Unpersönlichkeit, die bisher mit einfachen Geldgeschäften verbunden war, zeitlich ebenso elastisch wird und unter neuen militärisch-staatlichen Formen eine ebenso große gesellschaftlich bindende Kraft annimmt, wie sie bisher persönlich haftenden »moralischen Netzwerken« zugeschrieben wurde, dann fliegen die historischen Zyklen von der Achse (oder wenigstens ordnen sich die Speichen der Räder neu).
Es ist genau diese Unpersönlichkeit, die den im Kapital gesehenen »gigantischen Finanzapparat von Kredit und Schulden« (S. 364) im Gegensatz zu früheren, nicht auf Geld beruhenden Kreditstrukturen zu einem spezifisch »finanziellen« macht. Niemand wird Graeber widersprechen, wenn er behauptet, dass der Finanzapparat zeitlich der voll ausgebildeten industriellen Warenproduktion vorausging. Es überrascht höchstens, dass er diese Abfolge für ein »eigentümliches Paradox« und einen Widerspruch zur »herkömmlichen Theorie« hält. Denn: »Wir sind geneigt, die Fabriken und Werkstätten als die ›Realwirtschaft‹ und den Rest als Überbau zu betrachten, der auf diesen grundlegenden Bauteilen errichtet wurde. Doch wie kann es sein, dass der Überbau zuerst da war? Ist es möglich, dass die Träume des Systems seinen Körper hervorbrachten?« (S. 363) Nachdem er vorher jede Erwähnung der kapitalistischen Produktion als dummen Dualismus zwischen Basis und Überbau karikiert hat, legt er hier eine erschreckend simplistische Geschichtstheorie vor, in der zeitliche und ontologische Priorität gleichgesetzt werden: Wenn der Finanzapparat vor den anderen mit dem »Kapitalismus« verbundenen Erscheinungen entstehe, dann müsse ihr Wesen schon in ihm enthalten sein. Nach dieser Logik könnte man die Wahrheit des Kapitalismus genauso gut in der feudalen Landwirtschaft wie in der absolutistischen Monarchie oder in den ersten atlantischen Sklavenjagden suchen, wie die Beispiele im Buch selbst zeigen. Tatsächlich beantwortet Graeber sein Pseudo-Paradox schon beinahe selbst in seiner eigenen Darstellung von Fortbestand und Transformation der »vorkapitalistischen« Gesellschaftsformen im 18., 19. und 20. Jahrhundert, in der er viele Elemente der in seiner Theorie verworfenen historischen Dialektik beschreibt, z. B. den Beitrag eines vorhandenen »Apparats« zur Entstehung einer Produktionsweise, die diesen »Apparat« selbst verändert und sich chaotisch unterwirft.
Eine derartige Transformation ist jedenfalls anzunehmen, wenn aus der in einzelnen lokalen Episoden bis nach Babylon zurückverfolgbaren Unpersönlichkeit der Geld-/Interessenökonomien seit 1700 ein Weltsystem der Unpersönlichkeit geworden sein soll. Aber da Graeber sich nicht mit dem Inhalt der zweiten »gigantischen« Unpersönlichkeit auseinandersetzen will – oder anerkennen will, dass die Kapitalisierung der Arbeit mehr ist als eine zufällige Begleiterscheinung dieses erstaunlichen Sprungs –, wird es noch wirrer. Ein brillanter Einblick in die historische Wechselwirkung zwischen Lohnarbeit und moderner Sklaverei (»weil die meisten Techniken der wissenschaftlichen Betriebsführung , die in der Industriellen Revolution in den Fabriken eingeführt wurden, ihren Ursprung auf eben diesen Zuckerpflanzungen hatten«, S. 370) geht in eine Spekulation über eine abstraktes »Nahverhältnis« über: Sowohl Lohnarbeit als auch Sklaverei seien »grundsätzlich unpersönlich«. Dieses »Nahverhältnis« täuscht aber vollkommen. Während man die Lohnarbeit theoretisch »unpersönlich« nennen kann (trotz der jüngsten Intensivierung der mindestens bis zu Henry Ford zurückgehenden Versuche, die Disziplin zu vertiefen oder personalisieren), lässt sich das über die Kaufsklaverei nur im Zusammenhang mit dem Sklavenmarkt behaupten. Der Sklave oder die Sklavin ist eine fungible Ware mit einem Geldäquivalent – wie eine Stunde der Arbeitskraft jedes anderen Menschen – in einem Prozess, in dem sie en gros eingekauft, verschifft, en détail verkauft und später weiterverkauft wird. Aber das Verhältnis zwischen der Arbeitssklavin und dem Eigentümer, der ihr einen Namen gibt oder auch nicht, sie ernährt oder auch nicht, ihr ein Dach über dem Kopf gibt oder auch nicht, sie vergewaltigt oder tötet oder auch nicht, ist streng persönlich: die absoluten juristischen Rechte des Besitzers an der Person des Sklaven beziehen sich nicht auf die Sklavin eines anderen, und ebenso wenig hat irgendjemand anderes dieselben Rechte an dieser bestimmten Sklavin. Erst recht nicht könnte natürlich eine Sklavin, die gefoltert oder freigelassen werden soll, ihren Platz mit einer anderen tauschen. Die Struktur der Sklaverei als eine Funktion persönlicher Identität wird vielleicht am besten in Mark Twains Roman Knallkopf Wilson ausgeführt, einem Buch voller komprimierter, aber gewalttätiger Wut, das die rechtlichen und logischen Folgen konsequent durchspielt.
Tatsächlich ist die Kaufsklaverei die perfekte Verkörperung eines der zwei Merkmale der »humanen Ökonomien«, für Graeber das Gegenteil der »kommerzielle[n] Ökonomien – Marktwirtschaften, würden wir heute sagen«. Diese »humanen Ökonomien« »häufen in erster Linie nicht Wohlstand an, sondern kümmern sich darum, die Welt der Menschen zu schaffen, zu zerstören und neu zu ordnen.« (S. 138) Nicht alle Punkte dieser Liste treffen auf die Plantagen der amerikanischen Südstaaten und der kolonialen Karibik zu, denn sie häuften natürlich sehr wohl Reichtum an (bis er aus ihnen auszubluten begann), aber hinsichtlich ihrer direkten Praxis der »Erschaffung, Vernichtung und Umschichtung« von lebenden, persönlichen Körpern sind sie ein leuchtendes Beispiel der »Menschlichkeit«. Das offensichtlichste Problem an diesem zweiten Kriterium ist, dass es nichts ausschließt. Graeber benutzt nicht das Wort »direkt«; er scheint einfach zu glauben, dass es einige Ökonomien gibt, die »Menschen erschaffen, vernichten und umschichten«, während es irgendwo anders irgendwelche anderen gibt, die das nicht tun. (Und nicht zu vergessen: diese anderen sollen heute die Norm sein.) Natürlich ist Graeber nicht verpflichtet, sich die Definition zu eigen zu machen, nach der die Ware eine Form ist, die ein Verhältnis zwischen Menschen vermittelt, aber entweder hat er diese Definition völlig vergessen, oder er sieht sie als unter seiner Würde, denn auf den 475 Seiten des Buches fertigt er sie nicht einmal mit einem glatten Einzeiler ab wie die Arbeitswerttheorie.
Was die Nicht-Akkumulation des Reichtums angeht, soll hier nicht noch einmal die Diskussion um den »Primitivismus« aufgerollt werden, aber es ist auffällig, dass in sämtlichen Beispielen, die Graeber – auf der Grundlage von Jahrhunderten ethnologischer und historischer Forschung – für menschliche Ökonomien bringt, die Akkumulation von Armut sichtbar wird. Daher möchte ich hier noch mal einen Allgemeinplatz wiederholen: Der Versuch, die Akkumulation in ihrer gegenwärtigen Form, d. h. in der Form des Kapitals, abzuschaffen, bedeutet nicht unbedingt die Ablehnung der gesellschaftlichen Akkumulation von Gebrauchswerten oder materiellem »Reichtum«. Auch wenn einige Leute die gesellschaftliche Akkumulation ablehnen und gerne im Zelt schlafen: Sie sollten vorsichtig mit ihren Wünschen sein, speziell mit ihren Wünschen für andere.
Graeber ist nicht automatisch ein Befürworter jeder Ökonomie, die er als »human« einordnet: Schon bei der Einführung des Begriffs gibt er zu, dass einige dieser Systeme »ziemlich menschlich, andere außerordentlich brutal« (S. 137f.) sind. Vielmehr scheint er die Merkmale einer »humanen Ökonomie« für eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung jeder wünschenswerten Form von gesellschaftlichem Leben zu halten. Auch wenn er mit »die Welt der Menschen zu schaffen, zu zerstören und neu zu ordnen« seine Definiation sehr allgemein formuliert, ist ziemlich klar, welche Merkmale er meint. An der letzten Stelle im Buch, an der von »menschlichen Ökonomien« die Rede ist, wird als »typisch« gesehen, dass sie auf »einem Ehrencodex, auf Vertrauen, auf Gemeinsinn und gegenseitiger Hilfe« (S. 404) beruhen; diese Elemente langfristiger Interaktion zwischen miteinander bekannten Individuen sind auch wesentliche Bestandteile des informellen »Kommunismus« und schließlich der »Liebe«, die Graeber gern davor retten würde, auf »Zahlen« oder eine »Schuldenethik« reduziert zu werden.
Hier sollte ich endlich auch anmerken, dass Graebers Attacken auf die strafende »Moral aus dem Schuldverhältnis« speziell im Schlusskapitel oft viel stärker sind als viele umständliche Ausführungen auf der Basis orthodoxer materialistischer Theorien des Kapitals. In einer scheinbar beiläufigen Bemerkung über die Verschuldung von Studierenden zeigt Graeber, dass der katastrophale – in der Linken in Großbritannien, wo Graeber inzwischen lebt und arbeitet, anscheinend unüberwindliche – »Gerechtigkeits«-Fetisch zum Bau von Gefängnissen führt: Wenn man die heutigen Schulden streichen würde, so Graeber, wäre das genauso »ungerecht« gegenüber den Leuten, die ihre Schulden schon abgezahlt haben, »wie die Behauptung, es sei unfair gegenüber dem Opfer eines Raubüberfalls, seine Nachbarn nicht ebenfalls auszurauben« (S. 409). Erst recht stellt sich Graeber gegen den Konsens, wenn er die perverse Idee zurückweist, jemand könnte Schulden bei »der Gesellschaft« haben – ein Spruch, der wirtschaftliche Strafe und Strafjustiz zusammenbringt – oder, ganz ähnlich, »wir« hätten Schulden bei »der Natur«. Und hier findet er genau die richtigen Worte: »Was könnte anmaßender oder lächerlicher sein, als zu glauben, man könnte mit den Grundlagen des eigenen Daseins verhandeln?« (S. 406) Er beschließt das Buch mit einer etwas zaghaften Verteidigung der »untüchtigen Armen« (»zumindest schaden sie niemandem«, S. 409) im Abschnitt mit dem Titel Vielleicht [?!] schuldet uns die Welt tatsächlich ein Leben. Hier ist er politisch völlig konsequent, und seine Ablehnung der »Moral der Schulden« ist trotz aller oben genannten Einwände uneingeschränkt zu begrüßen. Meine Kritik soll vielmehr den Faden von wichtigen und selten ausgesprochenen Wahrheiten, die sich durch das Buch ziehen, verteidigen – gegen die Einverleibung in eine kommunitäre Version des »Kommunismus« oder eine Welt, in der lokale »Netzwerke«, die auf »Ehrgefühl« beruhen, rohe mathematische Schulden durch radikal persönliche ewige Bande ersetzen.
In einem Artikel in Mute vor ein paar Jahren, der ebenfalls den Titel Schulden, die ersten 5000 Jahre trug8, machte Graeber als einer der seltenen linken Autoren auf sich aufmerksam, die bereit waren, die einzige jemals von Margaret Thatcher ausgesprochene Wahrheit anzuerkennen: So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht. In diesem kurzen Artikel verpasst Graeber dem Gebrauch des Wortes »Gesellschaft« als Euphemismus für den »Staat« eine schallende Ohrfeige, und im Buch wiederholt er das noch einmal, falls jemand den Artikel damals nicht gelesen hat. Leider ist die Sache nicht so einfach, was im kurzen Format kaum ins Gewicht zu fallen schien, im Buch aber problematischer ist. Der Mythos von der »Gesellschaft« dient zwar zweifellos zur moralischen Rechtfertigung der polizeilichen Gewalt von Staaten, dehnt diese Moral – d.h. die Disziplin im Namen der Identität, die Leugnung von störenden Interessen – aber weit über die Reichweite des Gesetzes hinaus tief ins informelle alltägliche materielle Leben hinein aus. An diesem Punkt (oder angesichts der Zunahme der rechtlich ungeregelten persönlichen Überwachung9 meistens sogar lange vorher) wird das Wort »Gesellschaft« austauschbar mit »Gemeinschaft«10 wie in community values, community leaders, community service, community punishment.11
Graeber verwendet das Wort »Gemeinschaft« nur sehr sparsam. Er macht keinen Hehl aus dem patriarchalen und Zwangscharakter bestimmter menschlicher/gemeinschaftlicher Ökonomien, sondern macht auf diese Aspekte aufmerksam, wo sie vorkommen, um seine Argumentation von einer bestimmten Art von unkritischem, romantischen Primitivismus abzuheben. Aber ob er es so nennt oder nicht: So etwas wie »Gemeinschaft« ist die Vorbedingung für fast jeden im Buch als hoffnungsvoll oder erstrebenswert hingestellten Fall von »kommunistischer« sozialer Interaktion.
So wie Graeber den Begriff »Kommunismus« benutzt, bezieht er sich weder auf eine hypothetische Gesellschaftsstruktur noch auf irgendeine »wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«. Vielmehr meint er damit eine »zugrundeliegende« Gewohnheit geselliger, kooperativer persönlicher Interaktion einschließlich unmittelbarem Teilen von materiellen Dingen (Arbeitswerkzeugen, einem Dorffest usw.) von Angesicht zu Angesicht. Dieses Fundament des menschlichen Zusammenlebens, das »Gesellschaft möglich macht« (S. 102) wird überlagert von ebenso überhistorischen Strukturen des »Tauschs« (der sich über »Unpersönlichkeit« und »Äquivalenz« definiert, als ginge das eine nicht ohne das andere) und der »Hierarchie« (in der »formelle Gleichheit« und »Gegenseitigkeit« nicht existieren und auf die die Katastrophen der Identität bequem verdrängt werden). Diese »grundlegenden« Elemente des gesellschaftlichen Lebens sind scheinbar ewig oder ziehen sich wenigstens durch 5000 Jahre hindurch, aber das Verhältnis zwischen ihnen wird als etwas veränderliches behandelt. Auch wenn das Buch keine konkreten Vorschläge machen will12, wird schon früh eine grobe politische Fragestellung deutlich, die später im Verlauf der (trans-) historischen Untersuchung vertieft wird, nämlich so etwas wie: Wie lässt sich die Rolle, die der »Alltagskommunismus13« im gesellschaftlichen Leben spielt, ausweiten und dadurch Tausch und Hierarchie soweit wie möglich verdrängen?
Aber diese Frage lässt sich eben nicht beantworten, da sich Verhaltenskommunismus oder Kommunitarismus per Definition nicht ausweiten lässt. Als einziges Beispiel für »kommunistisches« Verhalten zwischen Fremden erwähnt Graeber, dass man einem Passanten auf dessen Bitte Feuer oder eine Zigarette gibt. Selbst hier – und »grundlegender« geht es wohl nicht – ist ein direkter persönlicher Kontakt nötig. »In großen, unpersönlichen städtischen Gemeinschaften geht solch ein Standard vielleicht nicht weiter um Feuer zu bitten oder nach dem Weg zu fragen. Das erscheint als nich viel, aber es legt den Grundstein für umfassendere gesellschaftliche Beziehungen.14 In kleineren, weniger unpersönlichen Gemeinschaften – besonders solchen ohne soziale Klassenunterschiede – wird diese Logik noch viel breiter angewendet: zum Beispiel ist es oft praktisch unmöglich, die Bitte nicht nur um Tabak, sondern auch um Nahrung abzuschlagen – manchmal selbst die Bitte eines Fremden, ganz sicher aber die Bitte eines jeden, der als Mitglied der Gemeinschaft gilt.« (S. 104) Mit anderen Worten: je intimer die Gemeinschaft, desto kommunistischer das Verhalten. Dauerhafte persönliche Bekanntschaft wird mehrfach als Vorbeugung gegen Ausbeutung ins Feld geführt; höfliche anonyme Begegnungen gehören zur Welt des Geldes, der Sklaverei und des Krieges.
Graeber gibt kein programmatisches Statement über die dauerhafte interpersonelle Intimität als Bedingung für den »Kommunismus« ab, sondern präsentiert einfach eine Reihe von wertenden Beispielen. Trotzdem hält er hartnäckig an dieser Prämisse fest. Graeber hätte sicherlich etwas über die Ausweitung des »Kommunismus« auf eine überlokale – und damit notwendigerweise unpersönliche – Ebene schreiben können, wenn er die Frage für sinnvoll gehalten hätte. Aber sobald es nicht um die Zyklen der Vergangenheit, sondern um die Eventualitäten der Zukunft geht, verbietet Graebers mikroökonomischer Fundamentalismus »von unten« jeden überpersönlichen, universellen Standpunkt. Für ihn bedeutet ein größerer Maßstab einfach eine Menge von Beziehungen zwischen Individuen, keine andere Perspektive ist menschlich genug.
Von Anfang an definiert Graeber als »elementaren Kommunismus« die Annahme »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«. Solche rhetorischen Anleihen sind ja in Ordnung, aber irgendwie ist es niederschmetternd, wie er hier die Bedeutung dieses Slogans trivialisiert, wie es nicht mehr um die totale gesellschaftliche Umwälzung, sondern um Verhaltensänderungen in persönlichen Begegnungen geht. Die Macht der Individuen, darüber zu entscheiden, ob sie etwas nehmen oder geben – je nach Fähigkeiten, Bedürfnissen oder sonstwie –, ist und bleibt objektiv erbärmlich – bis ganz nach oben zum allerreichsten wohltätigen Spender. Wenn die Logik von »Bedürfnissen und Fähigkeiten« jemals die Logik der Kapitalrendite überwinden soll, dann muss sie sich global, d. h. weit über den Bereich freundlicher Geselligkeit hinaus, und kollektiv, d. h. unpersönlich durchsetzen.
[*] Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl, Stephan Gebauer.
Stuttgart 2012 (Klett-Cotta). 26,95 Euro. Originalausgabe: Debt. The First 5,000 Years. New York 2011 (Melville House).
Der folgende Text wurde ursprünglich auf Englisch verfasst und bezog sich auf die englischsprachige Originalfassung des Buches. Für die deutsche Übersetzung haben wir die entsprechenden Zitate und auch die Übersetzung der wichtigen Begriffe aus der deutschen Ausgabe des Buches herausgesucht. Das ist nicht immer ganz gelungen.
[1] Der Philosoph Karl Jaspers bezeichnet so in »Vom Ursprung und Ziel der Geschichte« (1949) den Zeitraum von 800-200 v. Chr. (http://de.wikipedia.org/wiki/Achsenzeit). [Anm. d. Übers.]
[2] Nein, Giambattista Vico wird weder im Text noch in der umfangreichen Bibliographie erwähnt.
[3] T.W. Adorno, »Sur l'Eau«, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 1951, S. 295 ff.
[4] Der Leviathan erschient 1651.
[5] Christopher Hill, God's Englishman, 1970.
[6] Tatsächlich schreibt Graeber labour, also »Arbeit«, was in diesem Fall deutlich näher an Marx ist als die irreführende Übersetzung »Arbeitskraft«. »Arbeitskraft« kann man nicht aus Menschen herauspumpen. Ob und inwieweit die Kapitalisten aus der »Arbeitskraft« der ArbeiterInnen tatsächlich »Arbeit« herauspumpen können, ist wiederum die zentrale Frage des Klassenkampfs im Kapitalismus. Anm. d. Übers.
[7] Entlohnung mit Gutscheinen, mit denen man faktisch nur in Firmenläden mit Wucherpreisen einkaufen kann.
[9] Englisch policing, Anm. d. Übers.
[10] Englisch community, Anm. d. Übers.
[11] Das ist britischer Jargon, der sich eigentlich nicht übersetzen lässt, weil es auf deutsch keinen vergleichbaren Sprachgebrauch gibt. Gemeint sind die moralischen Werte, an die sich die Jugendlichen halten sollen, moralische Autoritäten im Stadtteil, »freiwilliges soziales Engagement« und Strafen wie »Sozialstunden« (englisch community service). Anm. d. Übers.
[12] Die einzige Ausnahme ist ein Aufruf für einen totalen Schuldenerlass (jubilee) im Einklang mit ähnlichen, wenn auch politisch anders begründeten Forderungen von Michael Hudson und Autoren aus dem Umfeld der Midnight Notes und später The Commoner. Graeber hat ein gespaltenes Verhältnis zu den Midnight Notes. In seiner Darstellung des nichtentlohnten Bestandteils des Kapitals bedient er sich ausgiebig bei dem Buch von Peter Linebaugh und anderen (nicht in der Literaturliste erwähnten) Arbeiten des Kollektivs, aber eine polemische Fußnote watscht sie für ihre »ökonomistische« Fixiertheit auf die Reproduktion der Arbeitskraft ab, ohne zu bemerken, dass sie im Gegensatz zu ihm über eine spezifische Charakteristik des Kapitals sprechen.
[13] Graeber benutzt meist den Begriff baseline communism. Anm. d. Übers.
[14] »Nach dem Weg fragen« bezieht sich nicht auf einen zweiten Fall von Kommunismus zwischen Fremden, sondern auf einen Vorfall, bei dem Nuer-Hirten im südlichen Sudan dem Ethnologen auf die Frage nach dem Weg eine falsche Auskunft gaben – aus dem guten Grund, dass er ein Agent der britischen Regierung war.