aus: Wildcat 94, Frühling 2013
Seit Ausbruch der globalen Krise hat sich die soziale Situation in Osteuropa verschärft. In vielen Ländern protestieren die Menschen gegen die Sparpolitik und gegen die Eliten. Die Arbeiterklasse hat das Warten auf ein versprochenes Paradies durch »Transformation« satt, die seit zwei Jahrzehnten als Dauerbegründung für immer neue Wellen der Verarmung dient.1 Kürzlich stürzte die Regierung in Bulgarien. Schon 2011 fragte ein Paper: »Ist der Balkan ein neues Maghreb?«2 Als stille Ausnahme erschien bis zuletzt Slowenien, das mit seinen zwei Millionen EinwohnerInnen bisher nicht mit wütenden Arbeiter- und Straßenprotesten aufgefallen war. Nun aber sind diese auch im ehemaligen EU-Modellstaat angekommen. Wie in Ägypten und Tunesien bereitete eine Welle von Arbeiterkämpfen die Revolte auf der Straße vor. Sie markiert das endgültige Scheitern der »Transformation«.
Slowenien trat 2004 der EU bei und 2007 der Währungsunion. Bemerkenswert schnell konnte es die Maastricht-Kriterien erfüllen. Der Schein hielt nicht lange. Im Sommer 2012 stuften die Ratingagenturen das Land knapp über Ramschniveau herab. Der Rettungsschirm schien die einzige Chance zu sein, eine Staatspleite abzuwenden. Slowenien war von zwei Seiten in Bedrängnis gekommen.
Schon in Jugoslawien war Slowenien die am weitesten industrialisierte Teilrepublik und produzierte vor allem Kraftfahrzeuge und Textilien für den Binnenmarkt und für die Armee. Beides kam in den 90ern an ein Ende, die Arbeitslosigkeit stieg massiv. Aber aufgrund der vergleichsweise schnellen Gründung eines eigenen Staates, dessen Infrastruktur statt zehn Jahre nur zehn Tage Krieg überstehen musste, konnte in den Fabriken die Produktion auf vergleichsweise hohem Niveau wieder aufgenommen und der schon unter Tito versuchte Weg der verstärkten Export-Orientierung fortgesetzt werden.3 Seither gehen zwei Drittel der Warenexporte in die EU, was seit Ausbruch der Eurokrise zu einem Wachstumseinbruch geführt hat. Die Industrieproduktion und die Auslastung der Anlagen haben das Vorkrisenniveau nicht wieder erreicht. Letztere fiel auf unter 80 Prozent und stagniert seitdem, ebenso gehen die Auftragseingänge seit dem ersten Quartal 2012 zurück.
2012 war für die slowenischen Banken das dritte Verlustjahr in Folge. Der noch größtenteils staatliche Bankensektor ist stark überakkumuliert und der Kern der Krise. Nach dem EU-Beitritt hatte ein Bauboom eingesetzt, der durch niedrige Zinsen getrieben war. Die Banken vergaben massenhaft Kredite. Von 2005 bis 2007 stieg der Anteil des Bausektors am BIP um 1,1 auf 7 Prozent. So wie in den USA oder in Spanien wuchs das BIP nur aufgrund des boomenden Immobiliensektors.4 Als die Blase platzte, gingen viele Baufirmen in Konkurs. Seit 2009 schrumpft der Bausektor jährlich um 20 Prozent, die Auftragseingänge gingen in der ersten Jahreshälfte 2011 um 52 Prozent zurück. Mittlerweile ist er bei zwei Drittel des Niveaus von 2007 angekommen – wobei auch 2011 Hypothekenkredite noch immer 60 Prozent aller Kredite an Haushalte und Unternehmen ausmachten. Ende 2011 schätzte die slowenische Zentralbank, dass 18 Prozent der Unternehmenskredite, die zwei Drittel des gesamten Kreditvolumens ausmachen, und die Hälfte aller Kredite im Bausektor faul sind. Die slowenische Regierung macht keine genauen Angaben über den Geldbedarf der Banken, aber aktuelle Meldungen reden von sieben Mrd. Euro – 15 Prozent des BIP.
Zudem beschleunigt sich die Verschuldungsdynamik. Seit 2008 haben sich die Staatsschulden verdoppelt, das Budgetdefizit ist von 0,1 Prozent auf 6,4 Prozent gestiegen. Als im Oktober die Zahlungsunfähigkeit drohte, musste der Staat für neue Anleihen 6,9 Prozent Zinsen bezahlen (sieben gelten als nicht rückzahlbar, Spaniens Anleihen waren gerade auf 6,8 Prozent). Slowenien wird 2013 zusammen mit Spanien und Portugal unter den Ländern mit der höchsten Neuverschuldung sein (5,1 Prozent; EU-Schnitt: 2,8). Die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich seit 2007 auf 13 Prozent, von den unter 25-jährigen ist jeder fünfte arbeitslos. Aktuell gibt es mehr Arbeitslose als in der ersten Hälfte der 90er Jahre.
Diese Entwicklung wollte die Regierung mit einem Trick stoppen. Der mittlerweile abgewählte Ministerpräsident Janez Janša sagte im September, dass »jede slowenische Regierung viel sozialer sein wird als das mildeste Diktat der Troika«. Aber niemand glaubte ihm, dass sich seine Politik von jener der EU-Troika unterscheiden würde. Auch sein Programm sah Privatisierungen, Einsparungen im Staatshaushalt und den Verkauf von Staatseigentum vor. Zudem wollte die Regierung nach dem Vorbild Spaniens eine staatliche bad bank gründen, in der die faulen Wertpapiere gesammelt werden sollten. Die Gewerkschaften versuchten mit einer Klage dagegen zu punkten, aber auch sie wurden wie die Regierung von den Protesten überrollt.
Seit 2009 gab es eine Reihe von Streiks in Industriebetrieben, im Transportsektor, im Dienstleistungssektor und im gewerkschaftlich dominierten Öffentlichen Dienst. Die zwei Generalstreiks in diesem Sektor im April 2012 und im Januar 2013 standen völlig unter gewerkschaftlicher Kontrolle – und die Gewerkschaften selber genießen kein Vertrauen unter den ArbeiterInnen. Zudem ist die slowenische Arbeiterklasse stark gespalten, weil ein Teil noch in halbstaatlichen Unternehmen mit entsprechenden (Job-)Garantien arbeitet, bei rein privaten Unternehmen vor allem im Dienstleistungssektor aber befristete Verträge und schnelle Kündigungen vorherrschen.
Dieser Unterschied spielt vor allem bei Streiks eine wichtige Rolle. So hatten die Security-ArbeiterInnen von Sintal im September 2011 zum »Picknick« aufgerufen, um sich zu organisieren – sie wollten öffentlich machen, wie das Management sie betrug. Damit erhielten sie zwar die unbezahlten (Über-)Stunden nachbezahlt, aber das Unternehmen schickte einen Spitzel zum Picknick, der die Namen der Anwesenden aufschrieb. Deren auf drei Monate befristete Verträge wurden dann nicht mehr verlängert. Ein Genosse kommentiert: »Alle, die den Job noch haben, sind ziemlich verzweifelt und haben einfach zu viel Angst, um irgendwas zu tun. Sie könnten natürlich streiken, aber dann stellen sie einfach neue Leute ein.«
Die zwei wichtigsten Streiks fanden in halbstaatlichen Unternehmen statt. Und zwar 2009 und 2012 beim Hausgerätehersteller Gorenje und 2011 im Hafen von Koper. Der Streik bei Gorenje war der erste wildcat überhaupt seit Staatsgründung und das slowenische Pierburg Neuss5 . »Was die Gewerkschaften in jahrelangen Verhandlungen nicht erreicht hatten, erreichten die Arbeiterinnen in einer Woche«, erzählt der Genosse. Vorausgegangen waren dem Kampf eine zehnprozentige Lohnkürzung Ende 2008, wochenlange Kurzarbeit bei gleichzeitigen Überstunden und schließlich Zwangsurlaub im Sommer 2009. Der Großteil der Belegschaft sind Frauen. Als sie für eine 36-Stunden-Woche mit Überstunden nicht mehr als für einen Monat Zwangsurlaub bezahlt bekamen, legten sie im September im Hauptwerk in Velenje die Arbeit nieder.
Der Kampf weitete sich auf andere Werke in Slowenien aus. »Obwohl Sie uns ständig Vorträge über die Rezession halten, arbeiten wir hart für schändlich niedrige Löhne«, steht in ihrem Brief an den Vorstand. Schändliche 400 netto standen bei einigen auf dem September-Lohnzettel – der gesetzliche Mindestlohn lag in der Hausgeräteindustrie 2009 bei 433 Euro. Das Management versuchte sich damit zu rechtfertigen, dass die ArbeiterInnen durchschnittlich 500 Euro verdienten. Half nix, 2000 Leute besetzten die Fabrik in Velenje und forderten 15 Prozent mehr Lohn und die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche, was 60 Euro zusätzlich ausmachen würde. Nach zwei Wochen hatten die Arbeiterinnen erkämpft: Auf den Vormonat angerechnete Erhöhung des Lohns um ein Viertel über dem gesetzlichen Mindestlohn auf 540 Euro netto, 150 Euro Einmalzahlung und Extrazuschläge für vier Monate in Höhe von 40 bis 90 Euro. Alles nach einem Halbjahresverlust des Konzerns von 18 Millionen Euro. Die 40-Stunden-Woche wurde mit 1. Oktober 2009 wieder eingeführt. Seitdem strukturiert der Konzern ununterbrochen seinen europäischen Produktionsverbund um und verlagert die hinzu gekauften nordeuropäischen Standorte vor allem nach Serbien, Teile nach Tschechien, aber auch nach Slowenien – von wo sie ebenso Teile nach Serbien verschieben. Zwei slowenische Fabriken (in Maribor und in Nazarje) wurden gerade an einen US-Investor verkauft.
Nicht nur dagegen nahmen Ende 2012 die Frauen den Kampf erneut auf. 1000 Arbeiterinnen skandierten im Hauptwerk »Gauner, Gauner!« und den Slogan der sich gerade am Höhepunkt befindenden Protestbewegung »Gotof si!«6 in Richtung Management, weil neben der drohenden Auslagerung das Weihnachtsgeld um die Hälfte auf 150 Euro gekürzt wurde. Diesmal war schon nach vier Stunden alles klar. Der Vorstand trat vor die aufgebrachten Frauen, die mit Generalstreik aller 4500 ArbeiterInnen drohten und verkündete, dass das Weihnachtsgeld und die ausständigen Überstunden in vollem Umfang ausbezahlt werden. Zusätzlich solle es keine Kündigungen wegen Streik oder Verlagerung geben. Die Arbeiterinnen ließen sich das schriftlich geben und hatten Anfang des Jahres ihr Geld. Und wie 2009: Das alles nach einem Konzernverlust in den ersten neun Monaten von 6,4. Mio. Euro. Endlich wieder Arbeiterinnen, die der »Ökonomie« trotzen und ihre Forderungen nicht am Gewinn/Umsatz oder an der »Gesundheit« des Unternehmens messen!
Ende Juli 2011 streikten im Hafen von Koper 380 ArbeiterInnen, die sich in einer Basisgewerkschaft organisieren7, und 200 Arbeiter unterschiedlicher Subfirmen. Es wurden nur fünf Stunden pro Streiktag gearbeitet (bei normalerweise 24 h Betrieb). Die Firmenleitung wollte den steigenden Warenumschlag mit Arbeitsintensivierung und längeren Arbeitszeiten durchdrücken. Dabei kam es zu Arbeitsunfällen, weil die Sicherheitsstandards nicht mehr eingehalten wurden. Vor allem die migrantischen und überausgebeuteten Arbeiter bei den Subfirmen – Elf-Stunden-Schichten für zwölf Euro – bekamen die immer schlechteren Bedingungen ab. Die Kranführer konnten zwar einen Teil der neuen Arbeitsorganisation in dem achttägigen Streik nicht abwehren (drei wechseln sich an zwei Kränen ab statt wie bisher zwei an einem8), doch alle zusammen konnten die Spaltung in Feste und Prekäre umdrehen und gegen die Firmenleitung, die den Streik zuerst für illegal erklärte und Arbeiter entlassen hatte, die Lohnspaltung aufbrechen (und gegen die Gewerkschaft, die Unterschriften gegen den Streik sammelte). So werden jetzt alle Hafenarbeiter ungeachtet ihrer Firmenzugehörigkeit nach einem Kollektivvertrag bezahlt. Die entlassenen Kranfahrer wurden wiedereingestellt und sind nun zu 30 Prozent im Aufsichtsrat vertreten (ihr Argument: »nützlich für zukünftige Streiks«). Den Hafen-Manager konnten sie auch verjagen, allerdings verschlechtern sich die Bedingungen der Subfirmen-Arbeiter gerade wieder9 und ihr Streikführer klagt noch immer für seine Wiedereinstellung.
Wie so oft in letzter Zeit bei Aufständen feuert die staatliche Repression die Proteste nur weiter an. Alles, was die Herrschenden machen, wendet sich gegen sie. Auslöser der Revolte waren unzählige Radarkästen, die der Bürgermeister von Maribor, Franc Kangler, über Private-Public-Partnership installieren ließ. Das Geld wanderte in die privaten Taschen des Unternehmens, das die Kästen montiert hatte. Damit wurde der korrupte Hintergrund der Regierung öffentlich. Die Ursache ist die massive Arbeitslosigkeit, die in dieser ärmsten und am dichtest besiedelten Region zwischen 20 und 25 Prozent liegt. Der Nordosten war einmal ein industrielles Zentrum Jugoslawiens, bis Mitte der 90er Jahre arbeiteten Tausende in der Bus- und LKW-Fabrik TAM und der Textilfabrik Mura. Der EU-Beitritt hatte den Niedergang nicht gestoppt und die Leute hatten sich in immer höherem Ausmaß verschuldet. Nur ein Teil der Arbeitslosigkeit wird durch die Pendlerei nach Österreich abgefangen, wo vor allem die Facharbeiter aus den ehemaligen Metallfabriken das Doppelte verdienen. Sie können leider nur wenig erzählen, weil sie deswegen nicht am Aufstand teilnehmen.
Dafür aber viele andere Leute. Der Sturm ging los, als Kangler in den Regionalrat gewählt wurde und nun Immunität genoss. Am 26. November kam schon jeder zehnte aus Maribor zur zweiten großen Protestkundgebung auf dem Freiheitsplatz. Vor allem Ältere und in Maribor (Noch-)Beschäftigte versuchten, einen Demonstrationszug zum Rathaus zu organisieren, wurden aber von der Polizei mit Tränengas und mit Verhaftungen gestoppt. Am 3. Dezember konnten 20 000 – ein Fünftel der Stadt – das Rathaus erreichen und entglasen. »Gotof je!« – Kangler war fertig und kündigte seinen Rücktritt zum 31.12. an.
Flankiert wurde der Aufstand ab 27. November von Demonstrationen im ganzen Land – in Städten, in denen noch nie eine Demo stattgefunden hatte und von Leuten, die noch nie auf einer waren. In den letzten fünf Wochen des Jahres waren in der Hauptstadt Ljubljana bis zu 10 000 auf der Straße, am 7. Dezember allein in der 20 000-Einwohner Stadt Murska Sobota 3000 Leute, sowie regelmäßig bis zu 1000 Menschen in den Kleinstädten mit 20 bis 50 000 Einwohnern wie Celje, Jesenice, Krško, Ptuj, Novo Mesto. Ebenso in den »Hochburgen« der Wildcat-Streiks Koper (wo die Hafenarbeiter zusätzlich im Bus zur Demo nach Maribor fuhren) und Velenje (wo gerade die Gorenje-Arbeiterinnen streikten, s. o.).
Mit der räumlichen Ausweitung radikalisierten sich auch die Forderungen – von den jeweiligen korrupten Bürgermeistern hin auf die ganze slowenische Regierung. »Dauernd wurden neue Fragen aufgeworfen« sagt ein anderer Genosse. »Es ging sehr schnell um die soziale Situation und um die ganze politische Kultur.« Es bildeten sich Stadtteilversammlungen, die bis heute mit Blick auf »Porto Alegre«10 diskutieren, wie eine alternative Verwaltung unter dem Schlagwort »direkte Demokratie« aussehen könnte. Die Forderungen beschränken sich nicht mehr auf Personen, sondern zielen gegen das ganze System und gegen die Ideologie der Transformation.
Der Staat hatte in der Situation versucht, durch Wegsperren junger Demo-TeilnehmerInnen und der üblichen Schlägertaktik die Leute zu schocken. Das machte sie nur noch wütender. In Ljubljana schickte der Staat slowenische Blood & Honour-Nazis auf die Demo, die randalieren sollten. Deren Vorsitzender ist Mitglied der damaligen Regierungspartei und arbeitet für den Geheimdienst. Die Straßenpolizisten waren nicht eingeweiht, also ging das daneben, weil sie die Nazis verhafteten. Erst in der Bullenstation kam der Befehl, sie wieder freizulassen.
Anfang des Jahres beeindruckten vor allem die Zahlen: 100 000 im Ausstand beim Generalstreik am 23. Januar, 20 000 ArbeiterInnen auf der Demo in Ljubljana, 25 000 auf der Demo am 8. Februar – eine der größten Demos in der Geschichte der Stadt. Aber der Generalstreik stand gänzlich unter gewerkschaftlicher Kontrolle, und auch die Demos, woran sich sozialrevolutionäre Linke beteiligten, waren eher auf einen Tag beschränkte »Events«, die als Ventil funktionierten und unkontrollierte, von oben nicht geplante Proteste vereinnahmen und schließlich untergraben sollten. Ende Februar hatten die Gewerkschaften mit Hilfe der »Antikorruptionsbehörde« ihr Ziel erreicht. Janša wurde im Parlament das Misstrauen ausgesprochen, weil er die Herkunft von 210 000 Euro auf seinem Konto nicht erklären wollte. An seine Stelle trat Alenka Bratušek vom Finanzministerium, die kurz vorher in der linken Oppositionspartei ihren korrupten Chef abgelöst hatte.
Einerseits mit den erwähnten BürgerInnen- und Stadtteilversammlungen, die die Statuten der Stadt Maribor und das Gesetz diskutieren. Das ist auch im Sinne der neuen Regierungschefin, die im Februar im Parlament sagte, nun müsse »der soziale Dialog [sic!] von den Straßen und Plätzen wieder an den Verhandlungstisch«.
Der Protest verliert seine anfängliche Dynamik (an der letzten Demo am 9. März in Ljubljana beteiligten sich deutlich weniger Leute) und droht sich zu institutionalisieren, weil er sich auf das Terrain des Feindes einlässt und sich dort raushält oder zurückzieht, wo er was reißen kann: in den Betrieben und auf der Straße. Die Arbeitermacht, die der Straßenprotest so dringend braucht, um über das Stürzen von Regierungen hinauszukommen und die Fragen nach einer anderen Gesellschaft zu stellen, wird durch die gewerkschaftlichen Generalstreiks eher abgewürgt.
Dagegen zirkulieren die Erfahrungen der Arbeiterkämpfe von Gorenje und Koper. Genau das brauchen wir!
Andererseits: Was passiert, wenn die (Staatsschulden-)Krise die noch garantierten ArbeiterInnen wirklich trifft und ihr Lebensunterhalt nicht mehr sicher ist? Historisch kam hier als nächster Schritt fast immer die Selbstverwaltung, aktuell in Serbien und Griechenland, wobei auch in Frankreich (in der Reifenfabrik in Amiens) die ersten Arbeiter wieder davon reden.
Bisher bleiben die Kämpfe auf »ihren« Nationalstaat beschränkt. Vor allem in Maribor fokussieren AktivistInnen auf »lokale Ziele«, weil sie damit eine leichtere Erreichbarkeit assoziieren. Auch die Leute in Kroatien, Serbien, Bulgarien, Rumänien... kämpfen bis jetzt erst mal gegen die eigene Regierung, gegen das nationale System aus Sparpolitik, Korruption/Privatisierungen und steigender Arbeitslosigkeit.
Ob der Balkan ein neues Maghreb ist – diese Frage ist beantwortet! Aber wird daraus mehr? In den Kämpfen dort steckt auch deshalb so viel Sprengkraft, weil Osteuropa nicht nur eine der strategischen Regionen für den Warenstrom von Asien nach Westeuropa (und umgekehrt) ist, sondern in der auch alle westlichen und östlichen Konzerne in Produktionsbetriebe investiert haben.
Update 19.3.2013: Gerade als wir in Druck gehen, kommen Meldungen über Fabrikschließungen: Die Snowboardfabrik in Kärnten, ein Werk vom slowenischen Sportartikel- und Yachthersteller Elan, sperrt zu. Elan gehört zu 100 Prozent einem slowenischen Staatsfonds, beschäftigt 800 ArbeiterInnen und hatte 2010 elf Mio. Euro Staatshilfe bekommen, die das Unternehmen nicht zurückzahlen kann. Ebenso schließt der Autozulieferer Boxmark im Norden Sloweniens, eine Lederfabrik mit 150 ArbeiterInnen – Grund: »die Talfahrt des europäischen Automarkts«11.
Seit dem Erscheinen des Slowenien-Artikels trafen wir uns zwei Mal mit Hafenarbeitern aus Koper. Vor einigen Monaten standen die Chancen gut, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Aber mit der Bestellung eines neuen Managers, den die slowenische Regierung schickte, um die stockende Privatisierung und Expansion wieder voranzutreiben – größere Terminals, mehr Lagerfläche und Gleise, »um im Wettbewerb mit den Nordhäfen bestehen zu können« –, erhöht sich der Druck auf die Hafenarbeiter. Sie versuchen dagegen anzugehen – bis jetzt ohne Streiks. Das könnte sich schnell ändern, wenn sich die Bedingungen weiter verschlechtern. Denn die Regierung braucht dringend Geld, wenn sie ihre Agenda durchsetzen und nicht unter dem »Diktat der Troika« enden will. Die Privatisierungen sollen das hereinspülen, ohne diese wird sie die (Banken-)Verschuldung nicht in den Griff bekommen. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer in einem Land, dessen Konsum aufgrund der drastisch steigenden Arbeitslosigkeit sinkt, wird die so dringend gebrauchten Summen nicht einspielen können. Die Einführung einer Grundsteuer ist ebenso festgefahren, aber der Zank zwischen den Parteien um eine schrittweise Einführung soll in erster Linie Zeit für die Vermögensbesitzer gewinnen, um ihr Kapital in Sicherheit zu bringen.
Die Herrschenden sind also blockiert und ihnen bleibt nur der direkte Angriff auf die ArbeiterInnen, aber was kommt »von unten« nach den Streiks und Protesten in den letzten Jahren? Die Demos vor kurzem gegen die Sparpolitik am 29. Oktober mit je ca. 600 Leuten in Maribor und Ljubljana sind jedenfalls nichts im Vergleich zum »Aufstand« von 2012.
Ein Problem, das die Klassenspaltung vertieft, ist die Hoffnung der ArbeiterInnen auf »Investoren«. Als Ende April die ArbeiterInnen der Metall-Fabrik MLM in Maribor, die Sanitärteile produzieren und die schon zwei Monate keine Löhne mehr bezahlt bekamen, von der Schließung ihrer Abteilungen erfuhren und 226 ArbeiterInnen gekündigt wurde, traten sie in den Streik. Die StreikführerInnen organisierten zusammen mit UnterstützerInnen zusätzlich eine Demo. Nicht nur, dass die ArbeiterInnen der Abteilungen, die bestehen bleiben sollen, sich zurück hielten – auch zur Demo kam nur ein Teil derjenigen, die der Jobverlust trifft. Das Management hatte zuvor die Hoffnung geschürt, dass eventuell ein Investor einige ArbeiterInnen wieder anstellen würde. So beugte sich der Protest dem Konkursverfahren, was für die anfangs enthusiastischen StreikführerInnen und auch für die UnterstützerInnen aus der anarchosyndikalistischen Szene zu Frust führte.
Ein tragischer Fall ereignete sich Mitte Oktober: Ein Arbeiter aus Albanien erschoss seinen Chef in Maribor, dessen Sohn und sich selbst, weil er seinen Lohn die letzten Monate nicht ausbezahlt bekam. Die Stimmung geht nun aber nicht in Richtung Rassismus gegen »Albaner«, stattdessen sagen slowenische ArbeiterInnen, dass sie dies verstehen, weil vor allem im Nordosten des Landes jedeR jemanden kennt, dem es gerade genau so geht mit nicht ausbezahlten Löhnen. Es betrifft alle!
An dieser Flanke entzünden sich schon länger und gerade auch aktuell Konflikte in den anderen Ländern Südosteuropas: Am 16. Oktober streikten 500 von 2400 Werftarbeiter in Split (Kroatien) wild und stürmten die Werftzentrale, weil ihnen der Lohn gekürzt und verspätet ausbezahlt wurde. Am 17. Oktober protestierten ehemalige Zastava-Arbeiter vor den Toren der neuen Fiat-Fabrik in Kragujevac (Serbien) für ihre Wiedereinstellung, die ihnen vertraglich zugesichert wurde, als sie gekündigt wurden, damit Fiat die Fabrik adaptieren kann. Am selben Tag fingen Arbeiter eines serbischen Busunternehmens in Kragujevac an, Eisenbahngleise zu blockieren, um ihre Löhne einzufordern. So konnten sie einen Zug stoppen, der Autos aus der neuen Fiat-Fabrik zum Montenegriner Hafen Bar liefern sollte, von wo sie exportiert werden. 1000 ArbeiterInnen der LKW-Fabrik FAP in Priboj machten das am 28. Oktober nach. Sie blockierten ebenfalls einen Abschnitt auf der gleichen Strecke, weil nicht nur Löhne ausständig sind, sondern ihnen auch die Krankenversicherung gekürzt wurde.
Rund um den Balkan bekämpft die Klasse die »Transformation«. Aber wie sich zeigt, geht es oft zunächst um das eigene Überleben. Das »Ende der Transformation« bedeutet insofern erst mal »Durchhalten« und noch keine gemeinsame Offensive gegen das Kapital.
[1] Siehe vor allem die Artikel zu Rumänien in den letzten Wildcats.
[2] S. Horvat/I. Štiks: Is the Balkans a new Maghreb? http://nutopia2sergiofalcone.blogspot.co.at (Wir haben eine deutsche Rohübersetzung. Schreibt uns, wenn ihr eine wollt!)
[3] Die Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung ab den 50ern im Norden und der Unterentwicklung im Süden, die mitunter auch den Krieg in den 90ern erklärt, ist hier nicht Thema. Aktuell findet sich ein schöner Abriss von Goran Musić im neuen Buch zur Geschichte der Selbstverwaltung von Azzelini/Ness: »Die endlich gefundene politische Form«, ISP 2012.
[4] Siehe Robert Brenners Vorwort zur spanischen Ausgabe seines Buches The Economics of Global Turbulence: What is good for Goldman Sachs is good for America, 2009. Wir haben es in der Wildcat 87 sehr lobend besprochen, weil er fundiert die Krisendynamik rausarbeitet.
[5] Zu Pierburg Neu-ss siehe die Buchbesprechung in diesem Heft.
[6] »Gotof si!«, zu deutsch: »Du bist fertig!«
[7] Sindikat Žerjavistov Pomorskih Dejavnosti, dt. Gewerkschaft der Kran- und Seefahrer-Tätigkeiten. Das ist die anarchosyndikalistische Gewerkschaft hauptsächlich der Kranführer, in der auch Feuerwehr-Leute, ArbeiterInnen in der Verwaltung und etwa Reinigungspersonal – alle festangestellt im Hafen – organisiert sind.
[8] Nachdem wir den Artikel gedruckt hatten, erzählte uns ein Kranführer, dass dies eigentlich eine Verbesserung bedeutet, denn an den Arbeitsbedingungen der großen Post-Panamax Kräne konnten sie nicht rütteln – dort arbeiten noch immer vier auf zwei Kränen. Im Zuge der Intensivierung wollten sie drei auf zwei Kränen – aber das ging nicht durch, im Gegenteil, die Arbeiter benutzten die Forderung und wandten sie woanders an: An den kleineren Kränen in den Lagerzonen musste vor dem Streik ein Arbeiter eine Schicht lang einen Kran bedienen. Im Streik forderten sie hier »drei Arbeiter für zwei Kräne« und setzten das durch.
[9] Ein anderer Kranführer erzählte uns, dass der Vertrag nie unterzeichnet wurde. Die Arbeiter der Subfirmen müssen nun zwar weniger arbeiten, aber ihr Lohn reduzierte sich dafür von 1000,- auf 800,- Euro.
[10] In der brasilianischen Stadt Porto Alegre wird seit 1989 ein »partizipatorischer Haushalt« versucht. Dabei entscheiden die BürgerInnen in Versammlungen, wohin wieviel Geld fließt, zB. in Wohnbau, Schulen, Straßen, usw. Das Modell wird heute in vielen Städten weltweit als Alternative angesehen, weil »das Volk« und nicht irgendwelche abgehobenen, korrupten Politiker über die Stadtentwicklung entscheiden. Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Bürgerhaushalt.
[11] Wirtschaftsblatt, 13./15. März 2013