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16.09.2017

aus: Wildcat 94, Frühling 2013

Staus lassen sich eine lange Zeit mit technischen Mitteln hinausschieben, sie zeigen aber die sozioökonomischen Grenzen eines Verkehrssystems und somit der jeweiligen Vergesellschaftungsform an. Der »Postkutschenstau« symbolisierte das Ende des Feudalismus, der »Eisenbahnstau« in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts symbolisierte das Ende des Obrigkeitsstaats und den Aufstieg der Konsumgüterindustrie; der »Autostau« seit den 60er Jahren die Krise des American way of life. In den letzten Jahren haben Staus zum ersten mal eine globale Dimension erreicht, indem sich bspw. Verzögerungen in US-Häfen bis nach China auswirken und LKW-, Bahn- und Schiffsverkehr miteinander verknüpfen. Hinter dem »Postkutschenstau« standen die nicht mehr kontrollierbaren Massen [siehe capital moves], hinter der Transportkrise der Eisenbahn standen die Facharbeiter mit ihren rätekommunistischen Vorstellungen. Hinter der Krise der Autoproduktion stand der Massenarbeiter mit seinen neuen Kampfformen und Bedürfnissen. Hinter den aktuellen Staus (s.u. »der globale Stau«) steht die Macht der entstehenden globalen Arbeiterklasse.

Kapitalismus und Verkehr

Die Geschichte des Staus

Bis ins 19. Jahrhundert hinein fand auch der Binnenwarentransport vor allem auf dem Wasser statt. Getreide wurde u.a. über Ostsee und Flüsse transportiert, Bauholz auf Flößen; Gemüse über Flüsse und Kanäle aus dem Umland in die Städte gebracht. In der »canal mania« wuchs das englische Kanalnetz von 1760 bis 1830 auf nahezu 7000 km. Kurz danach gab es in Frankreich einen kapitalistischen Kanalboom, wobei etwa 8000 km Kanäle gebaut wurden. Der 1761 nach nur zweijähriger Bauzeit in Betrieb genommene Bridgewater-Kanal in England verband das Kohlerevier des Duke of Bridgewater mit den Flussläufen und somit mit dem Industriegebiet in Manchester. Dadurch sank der Kohlepreis in Manchester innerhalb eines Jahres auf etwa ein Drittel, was einen erheblichen Nachfrageschub auslöste. Der Duke of Bridgewater hatte ca. 200 000 Pfund in den Bau investiert und erlöste nun jährlich 80 000 Pfund aus dem Betrieb. Das löste ein Spekulationsfieber aus, überall im Land wurden neue Kanäle gebaut – sehr bald aber in der Hoffnung, die investierten Kosten durch rechtzeitigen Verkauf der Anteilsscheine vervielfacht wieder einstreichen zu können. Das Pyramidenspiel brach zusammen, viele Kanäle spielten nie ihre Investitionskosten ein, andere Projekte wurden nie fertiggestellt. Und mit dem Erscheinen der Eisenbahn ab 1830 war das Treideln von maximal 30 Tonnen Nutzlast auf den englischen Kanälen sowieso nicht mehr konkurrenzfähig. – Auf den Kanalbau gehen wir im Folgenden nicht speziell ein.

Staat ...

Die Versuche seit dem 15. Jahrhundert, den Straßenbau zu fördern, etwa indem Landesherren Steuern erhoben, führten zu keinen nennenswerten Erfolgen – der Verkehr nahm zu, aber auf den alten Wegen, bis diese Infrastruktur zusammenbrach. Der Zentralstaat konnte die Einzelinteressen an maroden Straßennetzen nicht ausreichend kompensieren, etwa die Rechte der Landesherren an Gut, das aufgrund von Fuhrwerksbrüchen liegen blieb, oder das Einkommen des örtlichen Wagners oder Schmiedes. Weit stärker als Straßenbau und straßengebundener Güterverkehr wuchs in dieser Phase die menschliche Mobilität (Siedler, Saisonarbeiter, Soldaten ...).

Damals wie heute muss eine über einzelne Gemeinden und Städte hinausgehende Infrastruktur auch gegen Einzelinteressen durchgesetzt und koordiniert werden. Ein Streckennetz inklusive der notwendigen technischen Infrastruktur – Treibstoff- und Ersatzteilversorgung, Unterkünfte u.a.m. – muss zentral geplant, gebaut und überwacht werden. Heutigen Tankstellen- und Raststättennetz und der ADAC entprachen früher Poststationen, Schmiede, Futtermittellager usw. Infrastruktur und Technologie hängen zusammen; der Straßenbau ist am technischen Stand des vorherrschenden Fahrzeugtyps ausgerichtet.

Im 18. Jahrhundert spielten Straßenbau und industrielle Entwicklung zusammen. Einerseits waren befestigte Chausseen notwendig, damit die Technik der Fuhrwerke weiterentwickelt werden konnte: Federung zur verringerten Reibung, neue Geschirre der Zugtiere, neue Achsen und »Ausbüchsung« der Naben (damit Möglichkeit der Schmierung) oder die durch die Erfindung der Verkokung von Steinkohle verbilligten Eisenprodukte, wie z.B. langlebige Fahrzeugbestandteile. Andererseits benötigen neue Fahrzeuge oft neue Verkehrswege. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachte das Aufkommen des Autos eine allmähliche Umwälzung im Straßenbau mit sich (z.B. anderer Straßenbelag und gerader Straßenquerschnitt im Gegensatz zur geneigten Oberfläche der alten Chausseen).

... Kapital

Mit Beginn des 16. Jahrhunderts wurde in Frankreich wie in England das Kommunikationsnetz (Post) für den Verkehr und zur Nachrichtenübermittlung ausgebaut: ständige Poststationen zum Pferdewechsel, sowie ein regelmäßiger Verkehr (Fahrpläne) wurden eingerichtet, Verkehrsregeln aufgestellt. Aber zu einer wesentlichen Produktivitätssteigerung der Straßentransporte kam es erst im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Ausbau der überregionalen Landstraßen und der Entwicklung neuer Straßenbautechniken. Ein guter Gradmesser ist die Steigerung der Produktivität des Straßentransports. So stieg in England zwischen 1690 und 1840 die Produktivität des Straßentransport für schwere Transporte über große Distanzen um das Zweieinhalb- bis Dreifache. Für kurze Distanzen wurde sogar eine Vervierfachung dokumentiert. Entsprechend sanken Frachtraten und Transportpreise. Allein zwischen 1750 und 1820 sanken diese um etwa 40 Prozent.

Warum konnte England in dieser Phase Frankreich überholen?

Der französische Zentralstaat gründete bereits 1747 eine staatliche Ingenieursschule, die »École royale des ponts et chaussées«, und sorgte so für eine systematische technische Forschung. Außerdem wurde der Straßenverlauf zentral festgelegt, die regionalen Fürsten waren lediglich für die Umsetzung der Vorgaben der Krone zuständig, die ohne Rücksicht auf Landbesitz erfolgten. Seit 1738 durften sie dazu mit der »corvée royale« (»königliche Fronarbeit«) direkt die ansässigen Bauern ausbeuten. Das Ergebnis war beeindruckend: in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde ein großer Teil des 25 000km langen Netzes von Landstraßen gebaut, das Paris mit den Hafenstädten, anderen Zentren wie Lyon und dem Osten verband. Allerdings war das Straßennetz beim Ende der Monarchie schon wieder im Verfall – gerade die geschotterten Hauptstraßen bedurften einer ständigen Pflege, um nicht völlig unbefahrbar zu werden. Schuld daran war teilweise die Unfähigkeit der staatlichen Behörden, individuelle Interessen (bspw. der Ingenieure) einem »Allgemeininteresse« unterzuordnen (Brückenbau war z.B. wesentlich Karriere fördernder als Straßenbau, so dass – wie heute – manchmal beeindruckende Brückenbauten in der Landschaft standen – aber ohne Anbindung). Das eigentliche Problem lag aber in der fehlenden Kapitalbildung und mangelnder Kontrolle der Arbeitskraft. Zwar hatte man 1758 die corvee royale in eine Steuer für die bäuerlichen Straßenanrainer umgewandelt und konnte so vermehrt (produktivere) Lohnarbeiter einsetzen, aber eine allgemeine Steuer für den Straßenbau ließ sich nicht durchsetzen, auch Grundbesitzer und Adlige wehrten sich gegen den »Zwang der Krone«, der sie belastete – und mit dem Widerstand der Bauern und der Arbeiter konfrontierte. Wie auch in anderen Ländern gelang es dem französischen Zentralstaat nicht, entscheidende Schichten der Bevölkerung für den Straßenbau zu mobilisieren.

England hingegen setzte nach dem Bürgerkrieg um 1650 stärker auf Kapitalbildung. Der Straßenbau wurde seit 1707 von den sogenannten »Turnpike Trusts« vorangetrieben, vom Parlament autorisierte Gesellschaften aus zumeist örtlichen Landbesitzern. Im Gegenzug zur Verpflichtung, Straßen zu bauen und zu unterhalten, bekamen sie das Recht, Benutzungsgebühren zu erheben. Und vor allem konnten sie Kredite auf zukünftige Gebühreneinnahmen aufnehmen. Auch sie griffen zunächst auf Fronarbeit der Anwohner zurück, die auch hier im Laufe der Zeit durch Steuern ersetzt wurde. Parallel zu Frankreich wurde Verwaltung und Planung der Streckennetze zentralisiert. Der entscheidende Unterschied war, dass in England einer lokalen bürgerlichen Klasse Profitmöglichkeiten eröffnet wurden. Zwischen 1750 und 1760 erbauten 300 Turnpike Trusts 10 000 Meilen Straßen; in den 1830er Jahren unterhielt ihr Netzwerk 20 000 Meilen oder 17 Prozent des gesamten Straßennetzes, vor allem in den industriellen Ballungszentren wie Manchester und fast alle Ausfallstraßen Londons. Straßen wurden von den Trusts also dort gebaut, wo sich Industrie und Handwerk entwickelten.

Die Trust Company als Zusammenschluss selbstständiger Grundbesitzer-Unternehmer mit quasi-staatlichen Privilegien war keine Erfindung aus dem Straßenbau; zuerst waren solche Unternehmen im Bergbau entstanden, dann im großen Maßstab während der »canal-mania«. Sie transferierten die alten feudalen Beziehungen zwischen »Staat« und »Untertan« auf eine kommerzielle Ebene. Die Bauern mussten nun neben der Ableistung ihrer Pflichten für die »Allgemeinheit« zusätzlich als »Kunden« Entgelte für die Nutzung bezahlen. Durch die Kreditwürdigkeit der Trusts konnte weiteres Kapital mobilisiert werden. Das ermöglichte den im Vergleich zu Frankreich stärkeren Einsatz von Lohnarbeitern, die verlässlicher und produktiver und z.T. auch qualifizierter als die bäuerlichen Fronarbeiter waren. Sie hatten keine Verbindungen zum Ort, an dem sie arbeiteten und keine landwirtschaftlichen Verpflichtungen, die in Konflikt mit ihrem Einsatz geraten konnten.

Die in England weiter vorangeschrittene Proletarisierung hatte zwei Seiten: Es gab eine größere bürgerliche Klasse mit eigenen kommerziellen Zielen – es gab aber auch eine größere Lohnarbeiterklasse.

Eine Entwicklung von Maschinerie gegen die Widersetzlichkeit dieser Lohnarbeiter fand auch in England zunächst nicht statt.

Der Eisenbahnzyklus

Maschinen ...

Bei der Entwicklung des Verkehrs hatte der Antrieb eine besondere Bedeutung. Antrieb von Fahrzeugen und Antrieb von Produktionsmaschinen entsprechen sich: mit Kohle befeuerte Dampfmaschine in der Textilindustrie und Dampflok / Verbrennungsmotor und Diesellok bzw. Auto / Elektrizität ... Vor der Erfindung des motorischen Antriebs lohnte sich der Landtransport über große Distanzen nur für wertvolle Lasten; ein (Zug-)Pferd fraß über eine Distanz von 250 km so viel, wie es selber ziehen konnte (bei Traglast war das Verhältnis noch ungünstiger). Erst die Eisenbahnund ihr Dampfantrieb machten den Transport von Massengut über lange Strecken rentabel.

Hier war der Staat noch stärker als beim Straßenbau gefragt. Ein großer Vorteil der Eisenbahn liegt im Eisenbahnnetz. Die dafür erforderliche Koordination / Planung und Standardisierung der Technik musste staatlich durchgesetzt werden. Investitionen, etwa zur Einführung einer neuen Technik, sind jedoch extrem teuer. Sie ziehen sich über viele Jahre hin und werden meist erst wirksam, wenn das gesamte Netz umgebaut ist. Das bedingte einen sehr langsamen Fortschritt der Bahntechnik. Ein »Innovationszyklus« dauert hier 30 Jahre.

England: Take off

Der Aufbau von Verkehrs-Infrastruktur war und ist eine große gesellschaftliche Anstrengung, die sich nur in seltenen Ausnahmefällen finanziell lohnt. Der Bridgewater-Kanal ist eine solche Ausnahme – das Spekulationsfieber, das er auslöste, ist dagegen eher die Regel. Und diese »Regel« von Spekulationsfieber und Pleite wiederholte sich beim Eisenbahnbau. Die Eisenbahngesellschaften sammelten Kapital am Aktienmarkt ein, und schon in den 1830er Jahren begann eine Börsenspekulation.

Im Rahmen der napoleonischen Kriege war es zu enormen Preissteigerungen für Futtermittel gekommen. Die Grenzen des alten tierischen Antriebs (Pferdefutter war zu teuer geworden) beschleunigten den kommerziellen Betrieb der jungen Erprobungsstrecken der Eisenbahn und führten zu einem gewaltigen industriellen »Take off«.

Der Kanalbau hatte einen ersten Durchbruch im Massengütertransport zwischen den Ballungsgebieten in England und den Überseehäfen gebracht. Aber erst die Eisenbahn mit der Dampflok bewirkte einen gewaltigen Sprung im Steinkohlebergbau, einerseits durch eine enorme Absatzsteigerung für Steinkohle, andererseits durch die logistische Erschließung der Reviere. In der Folge wurde auch die Stahlerzeugung und -verarbeitung sehr viel profitabler – auch hier war die Eisenbahn Großabnehmerin. Zudem konnte das breite Wissen der Arbeiter aus dem Straßen- und Wegebau nun im Gleisbau eingesetzt werden (und die dabei entwickelten Techniken ermöglichten später wiederum die Weiterentwicklung des Straßenbaus; Bagger erschienen ab ca. 1850, Dampfwalzen um 1860).

Deutschland: Dominanz der Montanindustrie ...

Etwas später verlief dieselbe stürmische Entwicklung in Deutschland. 1835 wurde die erste Verbindung zwischen Nürnberg und Fürth eingeweiht, 1837 mit der Strecke Leipzig-Dresden die erste nur mit Dampflokomotiven betriebene Strecke. Bereits 1840 waren bei Bau und Betrieb der Eisenbahnen über 40 000 Menschen beschäftigt, mehr als im Steinkohlebergbau. 1846 waren es sogar fast 180 000 (25 000 im Betrieb, 155 000 beim Bau von Brücken, dem Verlegen der Trassen usw.). Gleisbau war nun endgültig keine Fronarbeit mehr, sondern Lohnarbeit, bei der industriell gefertigte Vorprodukte verarbeitetet wurden. Die Arbeiter waren oft verarmte Kleinhandwerker, Weber usw., also ländliches Proletariat – teilweise auch schon Arbeitsmigranten, etwa aus Italien.

Nun entwickelte sich auch der Lokomotivbau rasant; zu Beginn waren nahezu alle Lokomotiven aus England gekommen, zwischen 1850 und 1860 wurden schon über 3000 Stück in Deutschland gebaut, und Borsig in Berlin stieg zur weltweit drittgrößten Lokomotivfabrik auf. Der Eisenbahnbau wurde zum Zugpferd der deutschen Industrialisierung und besonders der Montanindustrie. In anderen Ländern war diese nicht so beherrschend; in England dominierte die verarbeitende Industrie (Textilherstellung) und in den USA kam eine bedeutende Landwirtschaft hinzu.

Erst mit der Eisenbahn konnten sich die Städte weiter ausdehnen. Innerstädtische industrielle Versorgungsbetriebe wie Bäckereien und Schlachthöfe konnten nun mit Massengut und Energie versorgt werden. Und die Arbeiter pendelten aus den neuen Vorstädten mit Straßenbahnen oder den umliegenden Dörfern mit dem Zug zur Arbeit. Nun konnten auch Industriekonglomerate wie das Ruhrgebiet entstehen, deren Rohstoffe (Eisenerz) in gewaltigen Massen herbeigeschafft werden mussten.

Dazu wurden Fernverbindungen in staatlicher Regie aufgebaut und nach der Reichsgründung 1871 fast alle Bahnen als Länderbahnen betrieben (entweder direkt vom Staat oder als Privatbahn unter Aufsicht einer Behörde). 1920 wurden die deutschen Bahnen unter der neuen Reichsbahn verstaatlicht. Angesichts der strategischen Bedeutung der Eisenbahn für die gesamte Wirtschaft übernahm der Staat auch Teile des Betriebs; Schrankenwärter und Streckenposten waren von Beginn an der Militärpolizei zugeordnet und somit Staatsbeamte. Im Laufe der Übernahme der Privatbahnen durch den Staat wurde das Beamtenverhältnis auf weitere Berufsgruppen ausgedehnt.

In nahezu allen Ländern wurde der Kernbereich der Bahnen staatlich betrieben oder war zumindest einer starken staatlichen Regulierung unterworfen: In den USA blieb die direkte Verstaatlichung eine kurze Episode zwischen 1917 und 1920, in Frankreich wurde mit der Gründung der sncf 1937 eine staatlich kontrollierte privatwirtschaftliche Lösung gefunden (mit Minderheitsbeteiligung der bisherigen Anteilseigner der enteigneten Privatbahnen) und in England fand sie endgültig erst 1948 statt.

In den USA , wo der regionale Zubringerverkehr zu den Bahnterminals sehr früh vom Bahnbetrieb getrennt wurde, kam es seit den 20er Jahren zu sehr militanten Streiks der Fahrer / Fuhrunternehmer (z.B. Minneapolis Teamster Strike 1934).

In Deutschland waren im 19. Jahrhundert Streiks vor allem von Gleisarbeitern und Metallarbeitern in den Eisenbahnwerkstätten ausgegangen, z.B. 1845 in Riesa ein Streik von 1000 Bahnarbeitern, im Oktober 1848 ein Streik in den Dortmunder Werkstätten der Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft für höheren Lohn und die Verkürzung der Arbeitszeit. Ein halbes Jahrhundert später waren diese Facharbeiter in den Werkstätten des Eisenbahnzeitalters die Kerne der Rätebewegung. Aber nach der Verbeamtung der Eisenbahner gab es in Deutschland nur noch zwei große Bahnerstreiks: 1920 gegen den Kapp Putsch und 1922 gegen die stark gesunkenen / entwerteten Löhne und für einen automatischen Inflationsausgleich. Die Verbeamtung des fahrenden Personals hat im Grunde bis zum GdL-Streik 2007 für Ruhe gesorgt.

... Aufstieg der Konsumgüterindustrie und Krise der Eisenbahn

Die Effizienz des Eisenbahnnetzes liegt in seinen Knotenpunkten, Rangierbahnhöfen und Terminals für das Umladen und (Neu-)Zusammenstellen von Ladung. Diese »Sammelladungen« waren sehr zeitaufwändig, arbeitsintensiv und teuer; der Verkehr auf Pferdewagen / LKW zu den Bahnterminals musste organisiert werden (denn auch auf dem Höhepunkt des Streckenausbaus um 1930 waren zwei Drittel der Gemeinden nicht an das Eisenbahnnetz angeschlossen), dann musste umgeladen werden, man musste warten, bis ein Waggon voll war, und am Ende mussten die Waren vom Zielbahnhof aus wieder verteilt werden. Das führte zu Staus auf den Güterstrecken, Rangierbahnhöfen und den Terminals, die einen Transport vieler Waren (etwa frischer Lebensmittel oder Halbfertigwaren für die Weiterverarbeitung) erschwerte oder unmöglich machte.

»Im Herbst des Jahres 1912 spitzte sich die Lage im Güterverkehr dramatisch zu einer Transportkrise im Ruhrgebiet zu, als ein Verkehrsstau am Rangierbahnhof Hohenhudberg eine Kettenreaktion auslöste und sich der Stau auf die Bahnhöfe der benachbarten Direktionsbezirke Elberfeld und Essen wochenlang ausbreitete. Die Bahnhöfe waren überfüllt, und für kurze Strecken benötigten Züge einen ganzen Tag.« (Vahrenkamp, S.150)

Zwar arbeiteten noch Ende der 20er Jahre mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland in »eisenbahnaffinen« Industrien wie Kohle, Stahl und Chemie, gleichwohl hatte die Konsumgüter- und Montageindustrie in den 20er Jahren einen raschen Aufschwung genommen. Die Anforderungen dieser arbeitsteilig organisierten Massenproduktion trieben das Bahnnetz vollends in die Krise. »Das Wachstum des Stückgutaufkommens in den 1920er Jahren erwies sich als Sprengsatz für die Eisenbahnlogistik (...) als durch die steigende Bedeutung der Fertigwarenindustrie der Stückgutverkehr der Reichsbahn von 14,6 Mio. Tonnen im Jahre 1925 auf 20,4 Mio. Tonnen im Jahre 1929 zunahm« (ebenda, S.130f)

Trotz der ständigen Erweiterung der Rangierbahnhöfe konnten die Engpässe nicht beseitigt werden – ein Wettlauf, der an den Autobahnbau der 1970er Jahre erinnert. Die Eisenbahn stieß an ihre Grenzen bei der Versorgung der Großstädte. Diese »Transportkrise« setzte sich in den nächsten Jahrzehnten fort, sie konnte auch durch einen weiteren Ausbau des Streckennetzes nicht mehr gelöst werden: Das Problem lag dabei weniger im Verlegen von noch mehr Schienen, als im exponentiell steigenden Arbeitsaufwand an den Umschlagspunkten beim manuellen Umladen und beim Rangieren der Waggons. Hinzu kam, dass kaum grenzüberschreitender Verkehr mit der Bahn stattfand. Die Streckennetze waren national ausgelegt (unterschiedliche Spurweiten, Fehlen einer gemeinsamen Verkehrssprache, Personal muss gewechselt werden ...).

Die Industrialisierung des Güterverkehrs

Die »Globalisierung« beruhte auf gewaltig zunehmendem Verkehr: Die Auslagerung von Zulieferbetrieben nach Osteuropa bedingte Beschaffungsverkehre und neue Absatz- und Verteilungsverkehre (»Euro-Logistik«). Viele Betriebe der Konsumgüterindustrie wurden noch weiter weg nach Asien, Nordafrika, Südosteuropa usw. verlagert. In den großen Häfen Nordeuropas entstanden zentrale Lager der Handelsketten (Bsp. Tchibo). Die globale Produktion und Verteilung von frischen Agrarprodukten wäre ohne die von den kapitalstarken Monopol-Lebensmitteldiscountern aufgebauten spezialisierten Logistiksysteme nicht denkbar: Gemüse muss just in time geerntet, verpackt, gekühlt gelagert und transportiert werden.

Die Transportkosten verringerten sich: Zum einen verlagerte die Durchsetzung des Containers im See-Landtransport die Umschlagsarbeit vom Knotenpunkt des Kais auf vielerlei Packstationen im Binnenland. Damit wurde die Hafenarbeit stark rationalisiert und räumlich verteilt. Zum anderen wurden die Arbeitsprozesse in den Lager- und Distributionszentren umstrukturiert. »Industrialisierung der Arbeit im Gütertransport« meint den Übergang von der Einzelbehandlung der zu transportierenden Güter zur »verstetigten Serienbehandlung«. In der Maschinerie (bspw. einem automatischen Sortierband) wird das Erfahrungswissen der ArbeiterInnen objektiviert, Poren im Arbeitstag durch Standardisierung und Zerlegung der Arbeitsprozesse geschlossen. Gleichzeitig wird das Tempo der realen Güterbewegung durch die Maschine beschleunigt. »Dabei wird Transportarbeit sukzessive aus den unmittelbaren operativen Bereichen der Transport- und Logistik-Prozesse verdrängt.« Es kommt zu einer Verzahnung von Produktions- und Transportarbeit, in »betriebsübergreifenden Kooperationen« und »prozessfunktionalen Ordnungssystemen« (Danckwart).

Steigende Zuverlässigkeit bei sinkenden Kosten des Transports hat die globale Arbeitsteilung in der Produktion erhöht. Die vorerst letzte Stufe ist seit den 90er Jahren das »supply chain management«. Der nächste große technologische Angriff läuft schon, teilweise unter dem ideologischen Label Green New Deal. Unter dem Schlagwort »green logistics« wird an einer weiteren Rationalisierung gearbeitet, z. B. einer effizienteren Steuerung. Lagerarbeit wird automatisiert, etwa durch automatische Palettieranlagen, selbstfahrende Transportsysteme, Roboter, RFID, NFC usw. (Das alles dann mit Sonnenenergie betrieben, somit »green«.)

Neue Zentralisierung

In den USA lässt sich seit etwa anderthalb Jahrzehnten eine Tendenz zur Zentralisierung der Lagerhäuser feststellen. Zwischen 1998 und 2006 ist die Zahl der (statistisch erfassten, d.h. wahrscheinlich nur der fest angestellten) Beschäftigten im Lagerhausbereich von 120 000 auf 600 000 gestiegen, eine jährliche Zunahme von 22 Prozent. Die Steigerung fand vor allem im Bereich der »mega distribution centers« statt, das sind Einrichtungen mit mehr als 500 000 Fuß² und mehr als 100 Beschäftigten. Die Zahl der Betriebe mit weniger als 100 Beschäftigten hat sich zwischen 1998 und 2005 verdoppelt, die mit mehr als 100 haben sich in derselben Zeit mehr als verdreifacht, am stärksten nahmen die Betriebe mit 250 bis 499 Beschäftigten zu. »Economies of scale« heißt in diesem Fall vermehrter Einsatz von Technologie. Dazu passt, dass im selben Zeitraum sich das durchschnittliche Verhältnis von »warehouse manager« zu Arbeiter von 1:12 auf 1:32 verändert hat.

Der State-of-the-Art-Betrieb wird immer größer. 2006 lag ein Viertel aller Lager-Neueröffnungen in der Kategorie »100+«, während es 1998 nur ein Zwanzigstel war. Heute hat ein neu errichtetes Warenverteilzentrum typischerweise 700 000 Fuß2, beschäftigt 300 bis 400 ArbeiterInnen und kostet mehr als 100 Millionen Dollar. Lokale, nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeitskraft wird knapp.

Menschenleere Palettenlager funktionieren nicht, und im gleichen Maße, wie Arbeit durch Automatisierung eingespart wird, werden andere Arbeiten dazugeholt; im Fall der Einzelhandelslager Aufbereitung der Retouren, Montage, Verpacken, Auszeichnen usw.

Die räumliche Konzentration erhöht sich wieder; bei steigender Kapitalkonzentration betreiben z.B. die Logistikfirmen Produktionslager für mehrere Kunden; diese »Zwischenlager« in der Nähe der Produktionsbetriebe sollen Störungen durch Staus, Unfälle, Streiks etc. abpuffern.

Umkämpfte Mobilität

Entgegen den für den Kapitalismus unverzichtbaren Versprechungen predigt das Kapital seit vier Jahrzehnten die »natürlichen« Grenzen der sozialen und räumlichen Mobilität – dieser Spagat zeigt sich in einer zunehmenden Polarisierung zwischen einer weltweiten Verfügbarkeit von Gütern und Informationen einerseits, andererseits der Kontrolle der individuellen Mobilität (unbegrenzte Mobilität für Leute mit Geld vs. durch Frontex militarisierte Grenzen bzw. Einsperren von MigrantInnen wie in den Golfstaaten).

Dazu kommt, dass auch die Mobilität von Waren entgegen postmoderner Ideologien nicht körperlos ist und an »natürliche« Grenzen wie Erdöl und Flächenverbrauch stößt. Deutlicher als natürliche waren allerdings in den letzten Jahren soziale und politische Grenzen: Weltweit haben sich Bewegungen gegen große Infrastrukturprojekte gestemmt wie Flughäfen, Bahnhöfe, Autobahnen, Bahnstrecken und Kraftwerke zur Gewinnung der dafür notwendigen Energie. Diese Kämpfe richteten sich gegen die Wegnahme von Land und die Zerstörung bisheriger Reproduktionsgrundlagen, gegen die Verschmutzung von Wasser und Luft, gegen Lärm usw. In ihnen sind viele Menschen aktiv, die selber Erfahrungen im Güter- und Personentransport, in Lagerhaltung und Verkauf, in prekären Jobs und in der Zulieferindustrie gemacht haben, die erlebt haben, dass die heutigen Arbeitsbedingungen – wie Flexibilisierung, Ausweitung der Arbeitszeit, Verdichtung und Monotonisierung der Arbeit – der »Preis« der kapitalistischen Mobilität sind. Trotzdem haben sich diese Bewegungen lange Zeit neben der Situation auf Arbeit entwickelt, und fast nie diejenigen mit einbezogen, die immer stärker von sozialer und räumlicher Mobilität und öffentlicher Infrastruktur abgekoppelt werden. Ganz typisch der erfolgreiche Kampf gegen die neue Startbahn in München: die Leute wehrten sich als Häuslebauer gegen Fluglärm, waren aber als bmw-Arbeiter brav. Erste positive Überwindungen dieser Getrenntheit sehen wir vor allem in den Kämpfen an der US-Westküste (siehe Artikel im Anschluss), Kämpfe, in denen eine migrantische Klassenzusammensetzung ihre Erfahrungen in Gütertransport und Lagerarbeit mit der erlebten Zerstörung ihrer Umwelt zusammenbringt – und mit Aktivisten der neuen sozialen Bewegungen wie Occupy zusammenkommt.

Neben dem kollektiven Widerstand gegen Infrastruktur gibt es einen langfristigen Trend im individuellen Verhalten. Speziell in den Großstädten der Industrieländer nimmt seit knapp zehn Jahren die jährlich mit dem Auto zurückgelegte Strecke ab (»peak travel«); junge Leute machen immer später oder gar nicht mehr den Führerschein (»peak car«). Die Megastädte in den Schwellenländern wie Peking oder Jakarta versuchen gar nicht mehr ernsthaft, ihre Raumplanung dem Ausmaß der Autolawine anzupassen. Städtebaulich scheint das Ende der »Autostadt« erreicht. Wahrscheinlich wird der Autoabsatz an die Mittelschicht in diesen Ländern noch eine Zeitlang wachsen; dass diese Gesellschaften denselben Weg wie die alten Industrieländern zur Massenmotorisierung gehen, ist aber nicht zu erwarten.

Die jahrhundertelange Tendenz zur Ausdehnung der Städte / Zersiedelung der Landschaft hat sich gedreht, es kommt zu einer Neuverdichtung der Großstädte. Das widerspricht nicht der Bildung neuer Agglomerationszentren in Asien oder Afrika, diese findet in erster Linie in den Subzentren auf dem Land statt.

Korruption, Ausplünderung, Niedergang

Hinter der »Liberalisierung der Transportmärkte« stand die ordnende Hand des Staates. Die Privatisierung des Öffentlichen Dienstes hat die Bastionen bei Bahn, Öffentlichem Nahverkehr und Post geschleift (Müllmänner, Busfahrer, Bahn- und Postangestellte ...). Die Deregulierung des Transportwesens (Abschaffung von Tarifen, Ausflaggung von Schiffen ...) hat dazu geführt, dass die Frachtraten in den Keller gingen und die Löhne und Arbeitsbedingungen im Transportbereich sich – bis auf wenige Ausnahmen – rapide verschlechterten.

Die enormen Kosten für den Ausbau z.B. der Hafeninfrastrukturen bezahlten die Staaten, während die Reedereien phantastische Gewinne einfuhren. Dies war typisch für die als »Globalisierung« bezeichnete Akkumulationsweise: Plündern der Infrastruktur und »Finanzialisierung« bei sinkenden Akkumulationsraten. Der Umbau der Deutschen Bundesbahn zur Deutschen Bahn AG verkörpert exemplarisch die Ausplünderung gesellschaftlich produzierter Gebrauchswerte – nämlich Infrastruktur – durch Privatunternehmer. Seit Jahrzehnten wird Verkehrsinfrastruktur nicht ausreichend gepflegt. Ein Beispiel aus der BRD: nach den gewaltigen Investitionen in S21 und -zig Kilometer langen Tunnels wird der Zug am Ende dann wieder so schnell von Stuttgart nach München fahren, wie er es in den 70er Jahren auch schon tat; zwischenzeitlich dauerte es immer länger, weil die Strecke nicht ausreichend gewartet wurde. Dabei ist der Verfall des Schienennetzes in der BRD noch recht bescheiden im Vergleich etwa zu den USA. Weitere Beispiele aus der BRD sind die vielen kaputten Autobahnbrücken oder das aktuelle Desaster mit dem Nord-Ostsee-Kanal.

In Italien sind Unternehmer, Mafia und Staat bei Verkehrsprojekten traditionell nicht voneinander zu unterscheiden. Das Beispiel von Roland Koch und dem Frankfurter Flughafen, die Neubaustrecken der Bahn nach der Wiedervereinigung, der Flop mit dem Berliner Großflughafen, (der Weiterbau von) Stuttgart 21, die Katastrophe mit dem Private Public Partnership-Projekt bei der A1, das Desaster mit dem Nord-Ostsee-Kanal, die gigantischen Fehlplanungen und Baumängel des Jade-Weser-Ports usw. usw. zeigen, dass sich dieser Filz auch in der BRD schon lange die Planung und den Bau von Verkehrsinfrastruktur zur Beute gemacht hat. Kostendruck zerstört den Gebrauchswert des Produkts, Profite sind staatlich garantiert, die beiden Seiten werden nicht mehr im Verwertungsprozess vermittelt. Was in England Anfang des 18. Jahrhunderts zusammenkam – Ausbeutung und privater Profit einerseits, Produktion von gesellschaftlichen Gebrauchswerten andererseits, ist so radikal auseinandergebrochen, dass es durch »mehr Geld« nicht mehr gekittet werden kann, die Milliarden versickern in Korruption und Finanzprodukten, ohne das Produkt zu verbessern, oder Innovation zu befördern. (Und auf der individuellen Seite ist ein Verkehrsteilnehmer gleichzeitig »Melkkuh« und »Kostenverursacher«.)

In allen Bereichen fehlen kapitalistische Innovationen (siehe Graeber; Hinter dem Mond statt auf dem Mars...), in der Verkehrsinfrastruktur bricht es so stark auf, weil sie am meisten den Zentralstaat bzw. den allgemeinen Konsens braucht, weil sie das Teuerste/Schwierigste/Notwendigste einer Gesellschaft ist, und deswegen hier »am meisten zu holen« ist. Während die Verkehrsinfrastruktur verfällt, steigen die Investitionskosten exponentiell an. Der Nationalstaat hatte Steuern erhoben, um die Straßeninfrastruktur zu finanzieren – wenn man das Modell auf »interkontinentale Verkehrswege« überträgt, bräuchte es einen globalen Überstaat.

Der erste globale Stau

Die immer weitere Ausdehnung der globalen Transportketten stößt tendenziell an Grenzen (was auszulagern war, ist ausgelagert; Arbeitsreservoirs sind erschlossen). Neue Strecken sind zuweilen schon jetzt flächenmäßig nicht mehr machbar. Ein noch größeres Problem ist aber die abnehmende Effizienz und steigende Anfälligkeit der vorhandenen Verkehrsinfrastruktur. Hierfür werden zunächst »technische« Gründe genannt wie zunehmende Naturkatastrophen, hohe Energiepreise, veraltete Infrastruktur, Ungleichgewichte im Welthandel (Problem der Leercontainertransporte). Bei allen vier Gründen wäre einzuwenden, dass sie nur scheinbar »technisch« und auf wirtschaftliche und soziale Fehlentwicklungen zurückzuführen sind. Des Weiteren steckt hinter der abnehmenden Effizienz der Transportsysteme eine Arbeiterwidersetzlichkeit. Der dagegen laufende technologische Angriff geht teilweise ins Leere, was zu einer wachsenden Überakkumulation in der Transportbranche führt. Dieser Zusammenhang zeigt sich eindrucksvoll am »ersten globalen Stau«.

Er breitete sich im Herbst 2004 aus. Seit September hatte sich im südlichen Kalifornien etwas zusammengebraut, das die Los Angeles Times als »gewaltigen umlaufenden Verkehrsstau« beschrieb. Auf seinem Höhepunkt im Oktober stauten sich 94 Containerschiffe vor den Häfen von l.a., Straßen und Eisenbahnschienen im Hinterland waren blockiert. Er hatte sich immer weiter verschlimmert, weil an allen Ecken Arbeitskräfte fehlten – u.a. fehlten qualifizierte Stauer zum Schiffe Entladen, Trucker um die Container ins Hinterland zu bringen, Lokomotivführer zum Weitertransport. Der Mangel an LKW-Fahrern erklärte sich größtenteils damit, dass die Leute keinen Bock mehr hatten, ständig unbezahlt warten zu müssen, sich aber auch kein Unternehmen in der Lage sah, ihnen diese vielen Pausen zu bezahlen.

Die Schiffsgesellschaften machten riesige Verluste. Interessanterweise war der Stau von China ausgegangen und hatte sich über den Pazifik bis in die kalifornischen Häfen, ins kalifornische Hinterland, den Panamakanal und sogar bis in die europäischen Häfen ausgebreitet.

Die »Lösung« der Umschlagsfirmen bestand darin, gegen deren Widerstand Nachtschichten für die Hafenarbeiter an den Gates einzuführen und die Papierarbeit bei der Planung und Abfertigung zu digitalisieren (und anschließend tw. ins Ausland zu verlagern – siehe den Streik der ILWU-Angestellten in Los Angeles im Dezember 2012). Die Maschinisierung der Umschlagsarbeit wird durch immer größere und schnellere Kräne vorangetrieben (die heute bis zu sechs Container auf einmal heben können). Zudem wurde die Verbreiterung des Panama-Kanals und der Aufbau neuer Häfen an der US-Ostküste forciert, um den Flaschenhals Los Angeles zu umgehen. Auch der Bau immer größerer Schiffe liegt in dieser Logik begründet. Die Konzentration der Ladung in wenigen Großschiffen erhöht aber nur die Unstetigkeit des Arbeitsablaufs und an anderer Stelle die Komplexität der Abläufe im Umschlag – steigert also die Gefahr von »Staus«, wenn die ArbeiterInnen nicht mitspielen.

Die Tendenz zur Konzentration führt über die ganze Transportkette betrachtet paradoxerweise nicht zu einer Beschleunigung und Effizienzsteigerung. Im Gegenteil: Die durchschnittliche Geschwindigkeit im Schiffsverkehr ist inzwischen auf die von Segelschiffen gesunken – seit Mai 2012 sind Maersks Containerschiffe auf dem Rückweg (von Nordeuropa nach Asien) bis zu sieben Tage länger unterwegs, mit 14 Knoten, d.h. 25 km/h. Das erklärt sich zum Teil mit der globalen Krise, vor allem aber mit der stark überakkumulierten Schifffahrtsindustrie.

Immer mehr und größere Schiffe nutzen immer weniger ihre Kapazitäten aus: Aktuelle Containerschiffe können 36 000 Autos transportieren – zum Vergleich: In Spanien wurden im Februar 2013 weniger als 50 000 Autos verkauft; in ganz Europa 885 000; weniger als 25 Containerschiffe pro Monat würden reichen, selbst wenn in Europa kein einziges Auto mehr gebaut würde.

Aber da die Dinger nie voll sind, braucht man heute sowohl mehr Schiffe und Container als auch mehr LKW, um die gleiche Warenmenge zu bewegen. Aktuell sind zu jedem Zeitpunkt 20 Prozent aller auf See und auf der Straße bewegten Container / LKW leer. Die Frachtraten mögen durch den Preiskampf der Reedereien sinken, aber die Kosten pro befördertem Stück steigen. Ständig werden neue Gebühren erfunden, etwa Zuschläge für Leercontainertransporte, die aber die steigenden Kapitalkosten und die für Kredite notwendige Rendite nicht einspielen können.

Seetransport (ab Juni 2013 startet der Einsatz von Maersks Triple-E-Klasse mit Stellfläche für 18 000 Container), Straßentransport (Gigaliner) oder Lufttransport (immer größere Flugzeuge und Flughäfen): Die organische Zusammensetzung im Transportsektor hat sich seit den 80er Jahren enorm erhöht und steigt immer schneller an. Das würde sich nur rechnen, wenn die Umschlagszeit verkürzt, die Arbeit »dequalifiziert« und damit die Ausbeutung der Arbeit erhöht wird. Aber im Gegenteil sinkt trotz zunehmendem Einsatz von Technologie die Effizienz. Sie schaffen es nicht, die ArbeiterInnen dazu zu bringen, diese Technologie zu »benutzen«. Die Datenverarbeitung im Transport dient wesentlich zur Kontrolle. Zum Beispiel kann der Disponent via gps den Standort des LKW mit Motordaten und Informationen über den Ladungsstatus zusammenbringen – und womöglich ließe sich noch der einfache Teil des Fahrzeugführens automatisieren. Aber der entscheidende Teil der Tätigkeiten, in denen der Fahrer spontan auf unvorhergesehene Probleme reagieren, neu entscheiden und sich mit anderen Arbeitern organisieren muss, ließe sich nur dann »automatisieren«, wenn zuvor der Fahrer dazu gebracht worden ist, alle Infos in den Computer in der Fahrerkabine einzugeben. Und hier liegt seit Jahren der Knackpunkt: die Fahrer tun das nicht und finden sich lieber via Funk und Handy zurecht (vgl. Daniela Ahrens: Jenseits des Mythos ...). Somit behalten sie ihr »Prozesswissen« für sich. Ähnliches ließe sich für die Versuche, Lagerabläufe zu automatisieren, beschreiben. Das Wissen um die Abläufe ist ein kollektives, dessen Überführung in Technologie davon abhängt, dass die Arbeiter auch bereit sind, mitzuspielen und sich auf die neuen Technologien »produktiv einzulassen«.

Schifffahrtskrise – eine neue Runde der globalen Krise?

Es gibt auch eine finanzielle Seite der Überakkumulation in den globalen Transportketten. Mitte März warnte Bundesbank-Vorstand Andreas Dombret »vor den maritimen Risiken für die Finanzwirtschaft«; es gebe ein »beträchtliches Risiko im Bankensektor«, deutsche Banken könnten »kentern« (die Nord/LB, die HSH Nordbank, mit einem Kreditvolumen von mehr als 30 Milliarden Euro lange Zeit weltgrößter Schiffsfinanzier, sowie die teilverstaatlichte Commerzbank).

Seit Ausbruch der globalen Krise geht es für die Schifffahrtsindustrie nach unten, die Frachtraten decken zum Teil nicht mehr die Spritkosten, zwei Drittel der deutschen Flotte soll kein Geld mehr haben, um den Treibstoff zu bezahlen. Der New ConTex-Index, der die Charter-Raten für Containerschiffe abbildet, liegt heute bei einem Drittel des Wertes vor der Krise. Aber warum stehen deutsche Banken im Zentrum dieser heraufziehenden Krise? Das hängt, wie so oft, mit der rot-grünen Regierung zusammen. Sie hat Reeder und Schiffsfinanzierer aus industriepolitischen und geostrategischen Gründen durch weitgehende Steuerfreiheit begünstigt. Dadurch ist die BRD in den ersten zehn Jahren des Jahrhunderts zu einer führenden Seemacht geworden, deutsche Reeder sind vor allem bei Containerschiffen weltweit die Nummer eins – jedes dritte Schiff gehört deutschen Financiers.

In diesem Zeitraum brach sich die Tendenz zur »Schiffsgigantomanie« Bahn: immer neue Bestellungen von immer größeren Schiffen. In einem Artikel vom 11. März (»The shipping Tsunami«) arbeitet Sergio Bologna heraus, dass der Antrieb dazu nicht aus der realen Handelsentwicklung, sondern aus dem Finanzierungsmodell kam: die Reedereien sind massiv abhängig von Bankkrediten; die Banken bewerten ihre Kreditwürdigkeit v.a. anhand der »Effizienz« der Flotte, Marktanteil ist dabei der wichtigste Parameter. Riesige Schiffe finanzieren somit riesige Schiffe. Ein Teufelskreis, der sich immer mehr beschleunigt hat – »rationale« Erklärungen wie steigender Transportbedarf o.ä. gibt es nicht. Diese bereits bestehende Blase wurde durch die Art, wie man die Schifffahrtsindustrie in der globalen Krise nach 2008 rettete, stark aufgepumpt – sie steht nun kurz vor dem Platzen. Denn die Preise der Schiffe selber sind im freien Fall. Bereits im Juli berichtete die faz, dass neue Containerschiffe mittlerer Größe zum »Verschrottungspreis« verkauft werden. Somit bricht der Kreditkreislauf auseinander, denn die Schiffe sind als Sicherheit bei den Banken »hinterlegt«. Bis zu 1000 Schiffsfonds – ein Viertel der deutschen Flotte – stehen vor dem Bankrott, den Anlegern droht der Totalverlust ihres eingezahlten Kapitals.

Allerdings sind die großen Reedereien »too big to fail«. Der Staat wird sie retten – und nach dem Modell der »Rettung« von Griechenland und Zypern das Geld dafür bei den ArbeiterInnen holen. Sergio Bologna weist in seinem Artikel auf viele Parallelen zur »subprime«-Immobilienkrise hin – aber auch auf einen wichtigen Unterschied: 2008 wurde nur die »Zirkulation virtuellen Geldes« unterbrochen, diesmal wäre die »Zirkulation materieller Waren betroffen.« ■

Literatur zum Weiterlesen:
  • Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3
  • Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, MEW 18
  • Eric Hobsbawm, Ungewöhnliche Menschen, Hanser 2001
  • John Holloway, Capital moves
  • Ferruccio Gambino, Kritik am Begriff des Fordismus, wie ihn die Regulationsschule benutzt
  • Edna Bonacich, Jake B. Wilson, Getting the Goods: Ports, Labor and the Logistics Revolution Ithaca: Cornell University Press 2008. - Ein unglaublich wichtiges Buch!
  • Dankwart Danckwerts, Logistik und Arbeit im Gütertransportsystem. Rahmenbedingungen, Verlaufsformen und soziale Folgen der Rationalisierung in Transport, Umschlag und Lagerei. Opladen: Westdt. Verl. 1991
  • Daniela Ahrens, Jenseits des Mythos vom »gläsernen Fahrer«: Die Rolle der Telematik im Transportprozess. in: »Digitalisierung der Arbeitswelt. Zur Neuordnung formaler und informeller Prozesse in Unternehmen« (2008)
  • Richard Vahrenkamp, Die logistische Revolution. Der Aufstieg der Logistik in der Massenkonsumgesellschaft. Frankfurt / New York: Campus, 2012
  • David Graeber, Hinter dem Mond statt auf dem Mars. Warum der Kapitalismus den Fortschritt bremst; Ebook, Campus 2012
  • Sergio Bologna: »The shipping Tsunami«
 
 
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