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03.06.2014

aus: Wildcat 96, Frühlig 2014

Aufstand in Bosnien

Nach dem Erscheinen der Wildcat 96 hat Radio Dreyeckland ein Interview mit uns gemacht, wo wir u. a. nochmal etwas mehr über die Plenen diskutieren. Ihr könnt es hier anhören.

Die Transformation bedeutet für das Proletariat in Osteuropa Verarmung. Die Streiks und Proteste in Bulgarien und Rumänien und die vielen Kämpfe um nicht bezahlte Löhne in Kroatien und Serbien zeigen, dass die Leute das nicht mehr hinnehmen wollen. Mit dem Aufstand in Slowenien, dem »entwickelsten« ex-jugoslawischen Land und ehemaligen eu-Modellstaat, kam die Transformation an ihr Ende.1 Nun überwinden auch die Leute in Bosnien-Herzegowina (bih) ihr Nachkriegstrauma.

Hinter dem dreitägigen Aufstand im Februar steht eine Arbeiterklasse, die sich oft und auch im Krieg trotz der nationalistischen Propaganda internationalistisch und widerständig verhalten hat. Dass sich die Leute nicht mehr in Muslime (»Bosniaken«), Serben und Kroaten spalten lassen, ist für die eu, den iwf und die nationale Bourgeoisie eine ernsthafte Gefahr.

Schulden und Krieg

Bosnien steht – im Gegensatz zu Slowenien – ganz »unten« in der Strategie der eu-Osterweiterung. Kroatien gehört mittlerweile zur eu. Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien und die Türkei gelten als eu-Kandidaten, die jeweiligen Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen sind in Kraft. Den Beitrittsprozess für bih hingegen hat die eu vorläufig beendet. Die Situation im Land ist desolat, die Industrie liegt brach, die Hälfte der Leute ist arbeitslos. Die meisten halten sich mit »Schwarzarbeit« über Wasser.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Sieg der Partisanen wurden Großgrundbesitzer enteignet, landwirtschaftliche Flächen neu verteilt, die noch wenig entwickelte Industrie verstaatlicht. 1948 erfolgte der Bruch mit dem Stalinismus, 1949 wurden erste Arbeiterräte gegründet, 1950 wurde die Selbstverwaltung im Gesetz verankert. Es folgte die Entstehung von knapp 500 Arbeiteruniversitäten, in denen die ArbeiterInnen notwendiges Fachwissen, Fremdsprachen usw. lernen konnten. Ihr so erworbenes Wissen führte nicht nur zur Industrialisierung (die Exporte stiegen), sondern auch dazu, dass die mitteleuropäischen Länder, vor allem die brd, mit gut ausgebildeten »GastarbeiterInnen« versorgt wurden.

Damals war die Forderung nach »Managerexperten« weit verbreitet, um die selbstverwalteten Betriebe wettbewerbsfähig zu machen. So schoben die ArbeiterInnen Verantwortung ab, was eine Zeit lang gut für sie funktionierte, aber mit zunehmender Exportorientierung zu intensiverer Arbeit führte. Die Konkurrenz zwischen den selbstverwalteten Betrieben nahm zu.2

Innerhalb der kommunistischen Führung, im Bund der Kommunisten Jugoslawiens (bdkj, vorher die kpj), gab es zwei Strömungen: Die Reformer wollten mehr liberale sozialistische Marktwirtschaft, Föderalismus und eben jene Experten in jedem Betrieb, die die Konkurrenzfähigkeit vorantreiben sollten; die Orthodoxen, vor allem in Belgrad, wollten zentrale Lenkung.

In der Phase bis zu seinem Tod 1980 konnte Tito das irgendwie zusammenhalten, aber die Verschuldung stieg – Jugoslawien hatte immer eine negative Zahlungsbilanz. Das Land war vor allem Absatzmarkt für die ausländische Schwer- und Maschinenindustrie, aber auch für die westliche Finanzindustrie. Sie ermöglichte es dem Tito-Regime mit Krediten, der direkten Konfrontation mit den ArbeiterInnen auszuweichen. »Kommunistische« Kader und Parteiführer besuchten regelmäßig Fabriken im Westen, um sich über Produktivitätssteigerung zu beraten. Diese blieb aber angesichts der Weigerung der ArbeiterInnen, immer intensiver zu arbeiten, oftmals beim Plan. Zudem beruhte die Legitimation des Staates darauf, dass er den erarbeiteten Mehrwert größtenteils in einen höheren Lebensstandard investierte, das Gesundheitssystem verbesserte usw. Der Staat konnte auf diese Art seine steigenden Schulden jedoch weder durch Tourismus noch durch den Export von Textilien und Obst ausgleichen.

In der zweiten Phase ab 1980 trieb dies Jugoslawien in die Schuldknechtschaft des iwf, der dem Land massive Sparprogramme aufzwang. Die ArbeiterInnen im Süden erhielten keine Unterstützung aus dem Norden mehr, »ineffiziente« Betriebe wurden geschlossen. Vor allem richtete die Regierung in Belgrad alles darauf, die Teilrepublik Serbien wettbewerbsfähig und damit potenziell integrationsfähig für die ewg, einen Vorgänger der eu, zu machen.

Deutschland und Österreich unterstützten die Sezessionsregimes der Teilrepubliken Slowenien und Kroatien, aber auch Bosniens. Bosnien war jedoch Einflussgebiet der usa, die den islamischen Fundamentalismus im Nahen Osten unter Kontrolle bringen wollten.

Die verstärkte ungleichmäßige Entwicklung im Land – reiches Zentrum und arbeitende Peripherie, industrialisierter Norden und unterentwickelter Süden – konnte vom in den usa ausgebildeten Banker Milošević, vom Offizier Tuđman und deren Unterwelt-Cliquen benutzt werden, um die massenhaften Streiks gegen die Austeritätsmaßnahmen Ende der 1980er Jahre zu brechen und umzudrehen zum Krieg. Mit der Hilfe der Medien und jugoslawischer Intellektueller konnten die Kriegstreiber den Nationalismus benutzen. Dieser stieß auf fruchtbaren Boden, weil die Steigerung des Lebensstandards seit einigen Jahren ans Ende gekommen war.

»Das Ende der Geschichte« bedeutete, dass den Proleten die Rechnung präsentiert wurde. Jetzt riefen auch ehemalige 68er-Revolutionäre zum Bombenkrieg auf (auf jugoslawischer und europäischer, vor allem deutscher Seite).

Besonders grausam wurde der Krieg in der Teilrepublik Bosnien-Herzegowina geführt, weil dort viele ArbeiterInnen nichts zu schaffen hatten mit ethnischen Zuschreibungen – viele Streiks gegen die Sparpolitik des Regimes in den 80ern hatten in bosnischen Betrieben stattgefunden.

Der Krieg ging nicht nur gegen die Arbeiterproteste, mit ihm wurde auch ein rechtsfreier Raum geschaffen, der die Ansprüche des Proletariats senkte (»Ich arbeite für jeden Lohn und wohne in den heruntergekommensten Behausungen – Hauptsache Frieden!«). Alle Kriege sind Raubzüge. Im jugoslawischen Fall ging der Raubzug gegen die Betriebe in Arbeitereigentum.

Über Jugoslawien hinaus senkte der Krieg auch das Lohn- und Reproduktionsniveau des gesamten europäischen Proletariats, weil er gut ausgebildete FacharbeiterInnen als Kriegsflüchtlinge in den Norden und Westen schleuderte.

Die globale Krise ab 2008 hat den Aufwärtstrend des bip seit 1996 gestoppt, die wichtigen Großfabriken hatten Auslastungsrückgänge von 20 Prozent, die Investitionen stagnieren, die Leistungsbilanz pendelt bei minus acht Prozent. Die Kaufkraft beträgt ein Viertel derer von Mitteleuropa und weniger als die Hälfte jener von Kroatien.

Das Dayton-System und die ökonomische Krise

Die Vorarbeit, die die europäischen Staaten, die usa und der iwf geleistet hatten, mündete 1995 in den Vertrag von Dayton. Dieser Vertrag institutionalisierte die rassistischen Strategien der Kriegstreiber – alle Posten werden bis heute nach »ethnischen Kriterien« vergeben – und teilt die 3,8 Mio. EinwohnerInnen bihs in zwei große Teile, in die serbische Republika Srpska und die bosniakisch-kroatische Föderation von Bosnien und Herzegowina, und in den kleinen Brčko-Distrikt.

Durchschnittliche Bruttomonatslöhne
Slowenien: 1530 Euro
Kroatien: 1020 Euro
Montenegro: 720 Euro
Bosnien-Herzeg.: 660 Euro
Serbien: 530 Euro
Mazedonien: 500 Euro
Rumänien: 500 Euro
Bulgarien: 390 Euro
Quelle: eigene Berechnung nach gtai

Die zwei großen Landesteile haben jeweils ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung, zusätzlich gibt es noch ein Parlament und eine Regierung für den Gesamtstaat. Neben der Föderationsregierung in Sarajevo gibt es in jedem der zehn Kantone der Föderation auch noch eine eigene Regierung mit eigenen Ministern samt mehreren Verwaltungsebenen. Insgesamt existieren 150 Ministerien. Die untere Grenze des Einkommens der Leute in diesen Apparaten ist in jedem Fall 3000 Euro und nach Amtsende wird ihr Gehalt für ein Jahr weiter bezahlt (»goldener Fallschirm«).

Der Durchschnittslohn in bih liegt bei etwa 400 Euro netto, die Hälfte bekommt gar keinen Lohn (50 Prozent Arbeitslosigkeit), FabrikarbeiterInnen haben maximal 250 Euro. Für die einfachsten Jobs, z. B. als Reinigungskraft im Krankenhaus oder für einen Arbeitsplatz im Call Center, muss man Schmiergeld zahlen, um ihn zu bekommen. Das Einzige, was die schwierige Situation des Proletariats abfedert, ist ein Gesetz aus dem Jahr 2000, das allen, die bis 1990 eine Wohnung im »Volkseigentum« hatten, diese übereignete.

Die Enteignung der Betriebe bedeutete in erster Linie Deindustrialisierung. Für viele junge Menschen sind deshalb (neben der »Schwarzarbeit«) die 12 000 ngos in Bosnien die einzige Chance auf einen Job. Sie tragen wenig zur Verbesserung der sozialen Lage bei. Zusammen mit dem aufgeblasenen Verwaltungsapparat des Peace Keeping Business der unzähligen Militärs und Investoren haben sie eher die Funktion, Gelder der eu in die eigene Tasche abzuzwicken.

Zusätzlich sind im ganzen Land noch immer 1000 ausländische eufor-Soldaten stationiert. Der Österreicher Valentin Inzko, Hoher Repräsentant der UN, drohte kurzzeitig, diese gegen den Aufstand einzusetzen. Sein Amt ist genauso wie die dazugehörige Bürokratie und jene der Minister und der »Internationals« Teil der Verwaltungsblase im Land. Inzkos Büro sollte es schon lange nicht mehr geben, aber sie hätten sich nicht dazu entschließen können, es zuzusperren. Auch der eu-Sondergesandte Peter Sørensen und seine 150 MitarbeiterInnen in einem neu erbauten Gebäude in Sarajevo üben sich in »strategischer Geduld«. Sie warten einfach, bis sie abgelöst werden.

Kaufkraftparität 2013
11. Österreich 43 000 usd
18. brd 39 000 usd
36. Slowenien 27 000 usd
dsgl. Tschechien und Slowakei
58. Kroatien 18 000 usd
dsgl.: Bulgarien und Rumänien
81. Montenegro 12 000 usd
86. Serbien 11 000 usd
87. Mazedonien 11 000 usd
100. Bosnien-Herzeg. 8000 usd
Quelle: BIP/Ew. nach wikipedia

Also wie viel Macht hat dieser Apparat tatsächlich? Im Aufstand hatte der Staat jedenfalls nicht viele Chancen gegen die Proleten. In seltenen Fällen solidarisierten sich Teile der Polizei, was nicht wundert: Die Bullen sind schlecht ausgerüstet und ebenso verarmt wie ihre Verwandten und Bekannten, die sich am Aufstand beteiligten. Warum sollten sie sich verletzen lassen? Für die eu-Truppen würde das Schießen auf einen sozialen Aufstand den politischen Tod bedeuten (sogar der Innenminister bihs sagte, er verstehe die Menschen).

Inzko blieb nur die Funktion des »Beruhigens« – als die Regierungsgebäude brannten, versicherte er den österreichischen Investoren, an deren erster Stelle die Hypo Group Alpe Adria steht, dass ihr Eigentum sicher sei. Österreich beherrscht fast 90 Prozent des Finanzmarkts, österreichische Unternehmen machen die größten Direktinvestitionen aus (in Sarajevo wurden die Scheiben einer Hypo-Filiale eingeschlagen).

Aufstand in Tuzla und in der Föderation

»Ich habe schon die deutsche Besatzung erlebt, war Partisan, habe die bolschewistische und die liberale Phase der Tito-Zeit mitgemacht, habe den letzten Krieg überlebt, auch den wilden Kapitalismus danach, die Korruption und die Herrschaft der Nationalisten«, erklärte der 80-jährige Historiker Meho Aličehajić. »Ich war in den vergangenen Jahren wegen der aussichtslosen Lage in unserem Land schon depressiv geworden, seit ein paar Tagen bin ich aber wieder glücklich.«

Artikel in der »Presse«, 11.2.2014

Das Nachkriegs-Trauma in Bosnien löst sich schon länger in Wut und ersten Protest auf, so z. B. im letzten Jahr, als Hunderte das Parlament in Sarajevo belagerten, oder im eintägigen Streik der 140 Bergarbeiter (von 1000) in der Kohlemine Đurđevik, die das Kraftwerk der 120 000-EinwohnerInnen-Industriestadt Tuzla beliefert, wo im Februar dann auch der Aufstand begann.

Tuzla, die Hauptstadt des gleichnamigen Kantons (500 000 Ew.), war ein Zentrum der Chemie- und Schuhindustrie und ist ein solches noch immer für den Bergbau (Salz und Kohle). In dieser Stadt fanden wichtige historische Kämpfe statt. Der aktuelle Aufstand wurde kurz mit dem von Husino3 verglichen, Tuzla war ein Mittelpunkt der Partisanenbewegung (auf den Demos im Februar 2014 wurden Lieder wie Bella Ciao gespielt); zum großen Streik der englischen Bergarbeiter 1984/85 hatten ArbeiterInnen jeden Monat Soli-Geld in der Höhe eines Tageslohns geschickt; im Krieg verteidigten Bosniaken, Kroaten und Serben gemeinsam die Stadt gegen nationalistische (Para-)Militärs4.

Seit mehreren Monaten protestierten jeden Mittwoch ArbeiterInnen gegen die Privatisierung und Schließung ihrer Fabriken. Am 5. Februar solidarisierten sich vermehrt Jugendliche mit dem Protest und zum ersten Mal flogen Steine und Eier in Richtung des Regierungsgebäudes. Die Polizei griff daraufhin hart durch und verletzte mehrere Menschen, vor allem Jugendliche. Das führte dazu, dass am nächsten Tag zehnmal mehr Leute auf die Straße gingen – etwa 6000. Die Polizei prügelte wieder, aber diesmal gab es Verletzte auf beiden Seiten. Am 7. Februar kamen Zehntausende, so dass die Polizei ihre Ketten um das Gebäude nicht mehr aufrechterhalten konnte. Die Leute stürmten rein und zündeten das Gebäude an, in dem die Privatisierungen geplant und beschlossen worden waren.

An diesem Tag breitete sich der Aufstand auf viele Städte in Bosnien aus. Auch in der Hauptstadt Sarajevo und in Mostar wurden Regierungsgebäude angezündet. Die Kantonalregierungen in Sarajevo, Tuzla und Zenica erklärten ihren Rücktritt. Noch am Wochenende taten dies auch der bosnische Polizeichef, der Regierungschef in Bihać (und damit die Kantonalregierung Una-Sana) und der Parlamentspräsident vom Kanton Herzegowina-Neretwa (Hauptstadt Mostar). Im serbischen Teil des Landes, in der Republika Srpska, blieb es ziemlich ruhig, aber auch dort gingen in der größten Stadt Banja Luka (200 000 Ew.) ein paar hundert Leute auf die Straße.

Danach endete der Aufstand, ArbeiterInnen und AktivistInnen formulierten Forderungen5 und organisierten sich in Plenen. »Das Gebäude ist niedergebrannt, die Regierung gestürzt – damit war irgendwie der Punkt verloren, an dem es weitergehen konnte; also versuchten wir Forderungen zu formulieren«, sagte ein Genosse im Interview. Bis jetzt finden »repräsentative Plenen« in 21 Städten in ganz Bosnien statt (also auch im serbischen Teil und im Brčko-Distrikt).

Arbeiterforderungen und Plenum

Das erste Forderungspapier stammt von den »ArbeiterInnen der fünf Fabriken«, die in Tuzla privatisiert wurden. Es war die Grundlage für alle weiteren, die landesweit folgten.

Die wichtigsten Forderungen sind die Rückgängigmachung bzw. Überprüfung der Privatisierungen, Kürzungen der Politiker-Bezüge, Maßnahmen gegen die Korruption und eine »Expertenregierung«. Die Bezugskürzungen gingen ziemlich schnell durch (Abschaffung des »goldenen Fallschirms«) und die Kantonalregierungen akzeptierten das Plenum als Institution, z. B. in Sarajevo, wo das Kantonalparlament alle Plenums-Forderungen duldet. »Expertenegierung« ist ein (naiver) Versuch, das rassistische Dayton-System zu beseitigen.

Das Plenum soll das politische Vakuum nach den Rücktritten füllen. Zunächst trafen sich in Tuzla am Tag nach dem Aufstand an die 30 Leute von verschiedenen Initiativen, die die ArbeiterInnen schon länger unterstützt hatten. Zum zweiten kamen 100, dann 200 usw. Mittlerweile hat sich die Zahl der TeilnehmerInnen auf mehrere hundert pro Treffen eingependelt. Es gibt keine sichtbaren Organisationen hinter diesen Versammlungen, und man kann sie im Internet streamen (so wie schon bei den Uni-Protesten vor fünf Jahren, die in Südosteuropa etwas länger dauerten). Gibt es neue Beschlüsse oder wurden bestimmte Forderungen erfüllt, wird das online zusammengefasst.

Was ist dran am Glauben an eine neue »Expertenregierung«? Wissen die ArbeiterInnen, dass Forderungen nach »Professionellen« schon in den Zeiten der Selbstverwaltung dazu geführt haben, dass die Betriebe kapitalistisch wurden? Funktioniert das Plenum als Organisationsform, um die Forderungen durchzusetzen?

Vielleicht trösten sich die ArbeiterInnen mit Forderungen nach einer »professionellen Regierung« oder Hoffnungen auf eine rein auf Plenum ausgerichtete »direkte Demokratie«. Sie wissen, dass ihnen mit der Schließung der Fabriken die Macht in den Betrieben genommen wurde. Trotzdem stehen sie hartnäckig zusammen. Die ArbeiterInnen der geschlossenen Waschmittelfabrik dita bewachen rund um die Uhr die Maschinen, damit diese nicht abtransportiert werden können. Es ist wichtig, dass die ArbeiterInnen zusammen bleiben und weiterhin gemeinsam organisiert sind. Bei unserem Besuch vor den Werkstoren empfing uns nur die vom Direktor angeheuerte Security, die ArbeiterInnen wollten dort nicht mit uns reden. An einem anderen Ort konnten wir jedoch ein langes Interview mit einer Streikführerin der Fabrik machen, in dem sie ausführlich den Privatisierungs- und Zerstörungsprozess des Betriebs beschrieb (zu Redaktionsschluss war das Interview nicht fertig, wir reichen es nach).

Forderungen der ArbeiterInnen der fünf Fabriken

  1. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durch die Zusammenarbeit von Bürgern, Polizei und Katastrophenschutz, um jegliche Kriminalisierung, Politisierung und Manipulation der Proteste zu vermeiden.
  2. Aufbau einer Expertenregierung, die sich aus professionellen, nicht parteigebundenen, nicht kompromittierten Menschen zusammensetzt, die bisher kein Mandat auf einer Ebene der Regierung hatten. Diese soll den Kanton Tuzla bis zur Wahl 2014 führen. Diese Regierung verpflichtet sich, Wochenpläne aufzustellen und über ihre Tätigkeit und den Fortschritt im Erreichen der angestrebten Ziele zu berichten. Die Arbeit der Regierung soll von allen interessierten Bürgerinnen und Bürgern überwacht werden.
  3. In einem Dringlichkeitsverfahren soll die Ordnungsmäßigkeit der Privatisierung der folgenden Unternehmen überprüft werden: dita, Polihem, Poliolhem, gumara und Konjuh. Außerdem:
    • Festsetzung der Dauer der Produktion und garantierte Gesundheitsversorgung der ArbeiterInnen;
    • Verfolgung der Wirtschaftsverbrecher und aller anderen Beteiligten;
    • Beschlagnahme illegal erworbenen Vermögens;
    • Aufhebung der Privatisierungsverträge;
    • Rücknahme der Privatisierungen;
    • Rückgabe der Fabriken an die ArbeiterInnen, Übergabe der Kontrolle an öffentliche Behörden, die das öffentliche Interesse schützen, und Wiederaufnahme der Produktion in diesen Fabriken, wo es möglich ist.
  4. Begrenzung der Gehälter der Regierungsvertreter auf die Gehälter der Beschäftigten im öffentlichen und privaten Sektor.
  5. Abschaffung der zusätzlichen Zahlungen an Vertreter der Regierung, und zwar sowohl persönliche Einkünfte für die Teilnahme an Kommissionen, Ausschüssen und anderen Gremien, als auch andere unvernünftige und ungerechtfertigte Vergütungen, die ArbeiterInnen im öffentlichen und Privatsektor nicht haben.
  6. Die Abschaffung der Fortzahlung der Bezüge an MinisterInnen und möglicherweise auch andere Regierungsbeamte nach Ende ihres des Mandats.

Die Plenen sind in Bosnien weiterhin aktiv, auf folgenden Seiten kann man ihre Arbeit, die neuesten Forderungen und Ergebnisse verfolgen:

Chancen für die Klasse?

Die Herrschenden versuchen die Unsicherheit dieser Phase auszusitzen und nutzen sie zur (Re-)Stabilisierung. Mit der Zustimmung und Akzeptanz des Plenums befrieden sie die Leute.

Wenn wir ein Jahr zurückblicken, nach Slowenien: Dort hat sich Ähnliches abgespielt. Der Aufstand wurde institutionalisiert in Stadtteilversammlungen, die sich um nebensächliche Alltagsbelange kümmerten, während sich die wirtschaftliche Situation im Land verschlechterte.

In Tuzla wurde vom Regionalparlament am 10. März ein hochangesehener Uni-Professor und Bäckereibesitzer zum Übergangsminister ernannt. Er wollte sich mit einer Arbeitsgruppe des Plenums treffen, aber diese antwortete, dass er selber zum Plenum kommen und seine Pläne allen präsentieren solle; was er mittlerweile auch getan hat. Das Regionalparlament hatte seine Ernennung ohne vorherige öffentliche Debatte beschlossen und so die Forderung des Plenums ignoriert, dass die Debatte um einen neuen Minister öffentlich geführt werden muss. Auch die Repression gegen Demos und Kundgebungen nimmt seit Anfang März im ganzen Land wieder zu. Die Leute im Plenum wissen das, »genau deswegen müssen wir organisiert bleiben und an den Forderungen dran bleiben« (Interview mit einem Plenums-Aktivisten).

Bestehen also Chancen, den falschen Polen von EU-Integration auf der einen, halbgaren Hoffnungen auf mehr »Demokratie« auf der anderen Seite auszuweichen, hin zu sozialen Kämpfen für was Neues? Das wäre nicht nur für das Proletariat in der Ukraine unglaublich wichtig.

Die politischen Nachwirkungen des Krieges kommen jedenfalls an ein Ende. Auf einem Plenum in Mostar bekam ein Redner, der die Multiethnizität des Landes hervorgehoben hatte, die entsprechende Antwort: »Deine multiethnischen Geschichten sind mir scheißegal, vor dem Krieg wusste man nicht, wer was war, und es ging uns besser.« Es gibt Anzeichen in der Republika Srpska, dass Leute mitmachen, es gab Solidemos in Kroatien, Serbien, im Kosovo und in Montenegro... Der nationalistischen Strategie der Herrschenden wäre damit der Boden entzogen. Die Hoffnung auf die eu bröckelt, zur Abstimmung in Kroatien 2012 kam nicht mal die Hälfte der Bevölkerung. Die politisch-ökonomische Situation in diesen Ländern ist sehr ähnlich, auch wenn viele Leute so gerne den Unterschied betonen (was mehr spaltet als verbindet): Ein korruptes politisches System, nicht gezahlte Löhne, hohe Arbeitslosigkeit... die Privatisierung sehen alle als Problem; wie ja auch in den alten Industrieländern (im Westen) die ArbeiterInnen die Erfahrung machen, dass das Privateigentum und die eu alles verschlimmern. Es kommt für die Leute in Bosnien darauf an, ob die ArbeiterInnen in den wirtschaftlichen Kernländern der eu zu kämpfen beginnen. Und wenn sie das tun, dann können wir uns am bosnischen Aufstand orientieren: Solidarität zwischen Jungen und Alten, zwischen Arbeitslosen und ArbeiterInnen, gemeinsame Interessen statt nationale Identitäten und Überwindung der Passivität.

Fußnoten:

[1] Siehe die Artikel in den letzten Wildcats zu den Demos und Streiks in Rumänien, Tschechien, Polen und zum Aufstand in Slowenien. Im Update auf der Website gibt es einen Überblick über die Kämpfe rund um den Balkan.

[2] Siehe z. B. als aktuelle Aufsätze zur Selbstverwaltung:
Ursula Rütten: Gesellschaftliche Selbstverwaltung: Made in yu, in: Tomić, Zschächner, u. a.: Mythos Partizan, Unrast-Verlag, Hamburg/Münster, 2013 (Besprechung in Wildcat 96).
Auch gut: Goran Musić: Jugoslawien: Arbeiterselbstverwaltung als staatliches Prinzip, in: Azzellini / Ness: »Die endlich entdeckte politische Form«, Neuer ISP Verlag, Köln/Karlsruhe, 2012.

[3] In Husino, einem Bergarbeiterdorf in der Nähe von Tuzla, fand vom 21. bis 28. Dezember 1920 ein Generalstreik gegen die Senkung der Löhne statt. Daraufhin warf die Regierung ArbeiterInnen aus den staatlichen Wohnungen raus, diese kamen aber in Wohnungen anderer Bergarbeiter unter. Die Regierung wollte die so untergekommenen Arbeiter(familien) verhaften, aber die Arbeiter leisteten bewaffneten Widerstand und konnten den ersten Angriff abwehren. Danach kam der Staat mit seiner »Volksgarde« und ermordete Dutzende Widerständische. Es folgte ein Prozess, in dem 350 Arbeiter angeklagt wurden, gegen einen wurde die Todesstrafe ausgesprochen, die später in eine 20-jährige Gefängnisstrafe umgewandelt wurde.

[4] Siehe Wildcat-Zirkular 1: Worker´s aid for Bosnia, Februar 1994.

[5] Siehe auch Was passiert in Bosnien? von Juraj Katalenac.

 
 
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