aus: gekürzt aus Wildcat 97, Winter 2014/2015
»Ich dachte das wäre einfach eine Demo, aber mein großer Bruder sagte 'nein, das ist eine Bürgerrechtsbewgung', erzählt einer der Anführer der Lost Voices. »Ich so: 'Echt?' Aus der Perspektive hab ich es gar nicht gesehen. Ich dachte, ich wär' nur ein Demonstrant, aber er sagte, 'nein, du bist ein Anführer der Bürgerrechtsbewegung', und ich dachte 'Wow...' .«1
Als am 9. August 2014 ein weißer Polizist in Ferguson (Missouri) den 18-jährigen Afroamerikaner Michael Brown erschoss, gingen sofort Leute dagegen auf die Straße. Der Ausnahmezustand wurde verhängt und die Nationalgarde eingesetzt. Trotzdem haben die Leute seither nicht aufgehört, sich zu wehren und zu organisieren. Als am 24. November 2014 die Entscheidung der Geschworenenjury bekannt gegeben wurde, den verantwortlichen Bullen nicht anzuklagen, brachen in weit über 100 Städten der USA Unruhen aus.
Seit der Rebellion des schwarzen Proletariats in den 1960er Jahren führen die Herrschenden einen Krieg mit vielen Waffen gegen schwarze ArbeiterInnen: Fabrikschließungen, Arbeitslosigkeit, Verarmung, Gettoisierung. Aufbau einer Drogenökonomie und Jagd auf die Beteiligten am unteren Ende. Polizeigewalt im Alltag und auf den Straßen. Einknastung eines großen Teils der männlichen schwarzen Bevölkerung, Folter, Verlust der Bürgerrechte...
Die Bewegung nach dem Mord an Mike Brown hat eine Vorgeschichte in den Occupy-Protesten und den vielen Gruppen, die gegen Justiz, Knäste und Polizei kämpfen – und sie hat dazugelernt. Sie hat eine landesweite Dynamik und am wichtigsten: sie schließt Schwarze und Weiße ein und lässt sich nicht mehr entlang der Linien Protest vs. Riot, friedlich vs. gewalttätig voneinander trennen. Arrivierte ehemalige Bürgerrechts-Aktivisten mit ihren folgenlosen »Gesprächen in der Kirche« erreichen sie nicht mehr.2 Die wütenden jungen Leute bleiben auf der Straße und handeln gemeinsam – oder sie nehmen sich die Podien und Mikros und sprechen selbst. Dass die PolitikerInnen was für sie tun, glauben sie nicht mehr: »Bei den Wahlen soll ich mich zwischen zwei Personen entscheiden, die sich einen Dreck für mich interessieren!«3 Von der Bürgerrechtsbewegung ihrer »Großeltern« grenzen sich viele DemonstrantInnen ab. Stattdessen fließen inzwischen Streiks in Fast food-Ketten und die Anti-Cop-Bewegung zusammen.4
In der neuen Wildcat haben wir drei (stark) gekürzte Beiträge aus den USA; nach Drucklegung sind wichtige Beiträge erschienen, u.a. Peter Gelderloos »Aus Ferguson lernen: Die Rolle der Polizei, die Rolle der Linken«5
* Die Gruppe Unity and Struggle hatte schon im August verstanden, dass bei den Protesten direkt nach dem Mord an Michael Brown etwas Neues passierte. »Ferguson hat den Trayvon-Moment auf ein anderes Niveau gebracht. Mit der direkten und anhaltenden Konfrontation mit den Bullen, dem Privateigentum und dem Staat (also dem ganzen System) auf den Straßen macht Ferguson explizit, was die Proteste gegen den Mord an Trayvon nur implizit angegangen sind. Jetzt ist die Verbindung klar.
Durch diese Weiterentwicklung der Aufstände gegen Polizeibrutalität eskalierte die Lage in Ferguson schneller, sie konnte sich politisch schneller und tiefer entfalten als bei anderen Protesten.
Die Oscar-Grant-Riots [2009] überschritten die übliche Grenze zwischen großen, krawalligen und gut koordinierten Protesten einerseits und kleinen, isolierten Riots andererseits nicht. Für Trayvon Martin gingen die Leute erst auf die Straße, als Zimmermann freigesprochen worden war, und als das Thema damit schon vom Staat absorbiert und »unberührbar« geworden war. In Ferguson passiert etwas Neues: eine unmittelbare, sehr militante, informell organisierte und ausdrucksstarke Antwort, die zu einer landesweiten Welle wurde.«6
* Mitte November erschien im Magazin Insurgent Notes ein langer Aufsatz über die soziopolitischen Strukturen in Missouri. »Jeden Tag hält die Polizei in Ferguson, der umliegenden Gegend und im ganzen Land vor allem junge, schwarze Männer an. Die Cops schleudern die jungen Männer auf den Boden oder gegen die Wand, fassen ihnen in die Hosen und ziehen sie ihnen runter... In praktisch all diesen Fällen haben die Cops die Oberhand – sie haben die Handschellen, die Möglichkeit Anklagen zu fingieren und sie können sich auf die Langsamkeit der Justiz verlassen, wegen der sie keine Konsequenzen tragen müssen. Die täglichen Polizeischikanen gegen Schwarze sind richtige Abzocke. Offensichtlich muss Ferguson seinen Haushalt aufbessern. Die Stadt ist stark von Ordnungsgeldern und Strafzahlungen abhängig, Geldstrafen machen inzwischen zwanzig Prozent der Einnahmen aus. Die Stadt hat damit mehr als 2,5 Mio. Dollar eingenommen, 80 Prozent mehr als zwei Jahre vorher. Das ist kein Zufall, es ist ein Geschäftsmodell. Der Ferguson Municipal Court hat im Jahr 2013 24 532 Vollstreckungsbefehle erlassen und 12 018 Fälle bearbeitet, das sind ca. drei Vollstreckungsbefehle und 1,5 Fälle pro Haushalt.
Wie so oft kommen die Einzelheiten der alltäglichen Grausamkeiten erst ans Tageslicht, wenn etwas »wirklich Schreckliches« passiert – wie beim Mord an Michael Brown.
Die Wut hinter der Rebellion in Ferguson ist von diesen Erfahrungen geprägt, alltägliche Erfahrungen über viele Jahre. Der Umfang dieser Wut drückt sich am bestem im Slogan eines Demonstranten aus: »Das ganze verdammte System ist schuldig wie die Hölle.« 7
* Interview mit George Caffentzis und Silvia Federici von den Midnight Notes, beide aus New York.8
SF: Es ist ein Krieg gegen die schwarze Community im Gange, zumindest gegen die proletarische schwarze Community. Seit dem 9. August, dem Tag an dem Michael Brown ermordet wurde, hat die Polizei weitere 14 vor allem afroamerikanische Menschen umgebracht. Der Urteilsspruch war absehbar, aber mit seiner Verkündung haben erneut Proteste begonnen, es gab Prügeleien mit der Polizei und große Demonstrationen wie in Oakland, New York und natürlich in Ferguson selbst. Diese Demonstrationen stellen eine wichtige politische Wende der Bewegungen in den USA dar. Sie hatten den Verkehr zum Ziel und in vielen Teilen des Landes die Straßen blockiert, die Autobahnen, Tunnel und Brücken.
Die Mobilisierung hat eine neue Fähigkeit gezeigt, sich zu verbünden, und vor allem den Willen, weiterzumachen und die Zustände, die Machtverhältnisse zu verändern. In ihrer Fähigkeit zu einer breiten Koordination auf nationaler Ebene stellt sie eine Wende dar. Von der schwarzen Bevölkerung haben vor allem die Jungen demonstriert; die Mittelklasse und die Politiker waren abwesend. Es waren aber auch viele junge Weiße beteiligt, im Bewusstsein, dass die Polizeigewalt kein Zufall ist, sondern klar bestimmte Politik. Das ist neu, ich habe das noch nicht erlebt.
GC: Die weiße Bevölkerung wird in den nächsten Jahrzehnten zur Minderheit in diesem Land werden, das ist völlig klar. Dieser Übergang stellt die derzeitig Machtordnung in Frage, er umreißt ein Kampfterrain und wird oft auch als Krise der Repräsentanz gefasst. Diese Krise drückte schon Occupy vor drei Jahren aus, als sie sagten, die Regierungen seien Ausdruck des reichen einen Prozents. Auch Ferguson zeigt diesen Tod der Repräsentanz.
SF: Die Verbindung zwischen den Jungen auf der Straße und den alten Repräsentanten der Bürgerrechtsbewegungen ist zerbrochen. Es gibt keine. Bei verschiedenen Gelegenheiten, wenn diese Politiker z.B. in Versammlungen eine Rede hielten, um zur Ruhe aufzurufen, sagten die Jungen: »Nein danke, es reicht. Das hier ist was anderes«.
Seit Mitte der 60er Jahre führt der amerikanische Staat Krieg gegen die jungen Schwarzen, gegen eine Bevölkerung, die als besonders kämpferisch, als gefährlich für den Status quo angesehen wird. Seit den 60er Jahren lässt man sie für das Verbrechen bezahlen, sich aufgelehnt zu haben. Das Verbrechen, mit den Black Panthers versucht zu haben, Strategien der Selbstverteidigung und Mobilisierung in den Vierteln umzusetzen. Seit damals versuchen sie vor allem die junge schwarze Bevölkerung zu entwaffnen, zu domestizieren und zu unterjochen, insbesondere mit der Verschärfung der Drogengesetze. Im war on drugs wurde die Polizei vor allem in den schwarzen Vierteln selbst zur Armee. Und statt Geldstrafen wurden nun schwere Strafen von vier, fünf Jahren Knast verhängt, die zu einer enormen Zunahme der Knastbevölkerung geführt haben. Heute sind mehr als zwei Millionen Menschen im Knast, der größte Teil von ihnen ist schwarz. Sehr viele sind seit Jahren in absoluter Isolationshaft. Diese Formen von Folter und Barbarei sind Zeichen für einen sehr starken Vernichtungswillen.
In vielen Vierteln, auch in Latinovierteln, ist die Polizei eine Besatzungsarmee, die dieselben Waffen benutzt wie im Irak und in Afghanistan. Mit dem war on terror wurde die Polizei seit 2001 immer stärker militarisiert. Sie wird seit vielen Jahren von der Armee ausgebildet und ist mit denselben Waffen ausgerüstet, deshalb herrscht in vielen Vierteln praktisch dasselbe Level an Polizeibrutalität wie vielleicht in den Vierteln von Kabul oder im Irak.
Die USA sind um den Krieg herum organisiert. Krieg im Irak, in Afghanistan, Militärbasen in der ganzen Welt, und dann der Jemen und indirekt Syrien usw. … All dies wirkt sich auf das Verhalten der Polizei aus. Wenn du Immigrant bist oder in einem armen Viertel lebst, können sie dir Sonntag morgens die Wohnungstür aufbrechen und mit gezogener Waffe reinkommen unter dem Vorwand, nach Waffen oder Drogen zu suchen. Die Polizei behandelt die jungen Schwarzen wie feindliche Kämpfer: shoot first and ask later [erst schießen, dann fragen], genau so, wie sie es in den Vierteln im Irak lernen. Und sie genießen dabei dieselbe Straflosigkeit...
GC: Heute braucht es nicht so sehr eine Bürgerrechtsbewegung wie in der Vergangenheit, sondern die Fähigkeit, den Praktiken von Polizei und Armee entgegenzutreten. Deshalb zeigen die jüngsten Mobilisierungen, so problematisch das auch sein mag, dass eine neue Figur die Bühne betreten hat, die andere Vorstellungen hat als die offiziellen Lehren.
SF:Diese Mobilisierung ist nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern weil seit Jahren ein Prozess in Gange ist, der viele Formen annimmt, viele Gruppen und Organisationen. Zum Beispiel Leute, die dagegen kämpfen, dass die Richter für bestimmte Verbrechen eine bestimmte Anzahl von Jahren Knast verhängen müssen – ein Mittel, um die Zahl der Verurteilungen stark zu erhöhen. Oder gegen Isolationshaft, die Todesstrafe, das ganze Knastsystem. Organisationen wie »Innocence Project«, die sich Fälle von Leuten ansehen, die mit minimalen Beweisen allein aufgrund von Polizeiaussagen eingeknastet wurden. Es hat sich ein ganzes Netz von Organisationen gebildet...
GC: ... viele Verbindungen sind in den letzten drei Jahren geschmiedet worden, aber mit dem Mord an Mike Brown hat eine neue Geschichte begonnen. Dies ist nicht die Zeit, in der die Historiker sprechen sollten, weil die Geschichte jetzt> gemacht wird.
[1] Alice Speri: »In St. Louis, the Torch of the Civil Rights Struggle is Passed to a New Guard« in Vice 23.10.2014
[2] Vergleiche etwa die Proteste gegen einen Mord im Jahr 2013 in New York und aktuelle Erfahrungen in St. Louis: Ferguson and the Violence of Sanitizing the Struggle for Civil Rights, Vice
[3] Shut It Down: Thoughts for a Non-Movement Movement, Dailykos 4.12.2014,
[4] http://mic.com/articles/105758/11-photos-of-fast-food-workers-across-the-country-standing-with-eric-garner
[5] Peter Gelderloos: »Learning From Ferguson: The Nature of Police, the Role of the Left« auf counterpunch 9. Dezember 2014
[6] Unity and Struggle: »Ferguson Jailbreaks out of History«, 17.8.2014
[7] No More Missouri Compromises von John Garvey in den Insurgent Notes, 18.11.2014
[8] veröffentlicht auf www.infoaut.org am 1.12.