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03.02.2016

aus: Wildcat 99, Winter 2016

Arbeiterkämpfe im Iran

Vorbemerkung

Die Kämpfe der ArbeiterInnen verstärkten sich im Januar und weiteten sich auf die Straße aus, wahrscheinlich auch angesichts des bevorstehenden iranischen Jahreswechsels, an dem die Mindestlohnhöhe für das nächste Jahr festgesetzt wird.

Zeitgleich mit Rouhanis Reise durch Europa und den Milliarden-Verträgen mit der europäischen Industrie wurden übrigens im Iran die Pläne des Regimes bekannt, den Mindestlohn für Jugendliche abzuschaffen.

Am 15. Dezember hatten sich Arbeitslose auf der Suche nach Jobs vor der Bid Boland Gas-Raffinerie im Süden Irans versammelt. Die Polizei ging mit Tränengas und Schusswaffen gegen sie vor. Ein 40 Jahre alter Arbeitsloser (Morteza Faraj-Nia) wurde getötet, zwei Menschen verletzt und mehrere Personen festgenommen. An seinem Begräbnis nahmen etwa 7000 Menschen aus der Stadt Behbahan und den umliegenden Dörfern teil. Das erinnert an die blutige Niederschlagung der Kupferbergleute von Khatoon-abad in Shahr Babak im Januar 2004 (siehe Wildcat 74 Sommer 2005). Genau hier wurden letzte Woche (am 26. Januar) 28 Arbeiter festgenommen, die gegen die Entlassung von etwa 170 Kollegen demonstrierten.

Wie wir einleitend im aktuellen Heft schreiben, gelingt es nicht, in jedem einzelnen Artikel die Herausbildung der Weltarbeiterklasse nachzuzeichnen. Deshalb solltet Ihr auch den folgenden Artikel nicht als »Länderbericht«, sondern im Zusammenhang mit dem Schwerpunkt zur Weltarbeiterklasse in der Wildcat 98 lesen. Dort haben wir unsere Fragestellungen und Thesen ausführlich herausgearbeitet. »Die vielen Bewegungen seit Seattle, die Massenaufstände in Argentinien 2001, Iran 2009, Occupy Wallstreet usw.... haben eines in aller Schärfe klar gemacht: ein Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung ist nur möglich, wenn sich die Arbeiter als Arbeiter am Aufstand beteiligen.«

Keine Ruhe nach dem Atom-Deal

Nach der Niederschlagung der »grünen Bewegung« 2009 und dem Abbau der Subventionen für Nahrungsmittel und Energie durch Ahmadinedschad1 ist der Iran seit 2012 mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert: Der IWF schätzte die Inflationsrate für 2013 auf 25 Prozent (das war der vierte Platz in der offiziellen globalen Rangliste); tatsächlich lag sie Mitte 2013 schon bei über 40 Prozent. Gleichzeitig schrumpfte das BIP um 6,8 Prozent. Die Zahl der produzierten Autos sank beispielsweise 2013 im Vergleich zu 2011 um mehr als die Hälfte.2

Trotz Abkommen: Krise

Der 2013 neu gewählten Regierung unter Präsident Rohani gelang es zunächst, die Inflationsrate im Jahr 2014 auf 15 Prozent zu senken, während die Wirtschaft um 4,3 Prozent wuchs. Dies lag zum Teil an der »Erwartungsblase« in Bezug auf den erfolgreichen Abschluss der Atomverhandlungen. Aber auch an der gestoppten Abwertung der iranischen Währung und dem Verkauf von Staatsanleihen, was Geld in die Staatskasse brachte. Doch durch den Absturz des Ölpreises sanken die Staatseinnahmen.

Die Regierung kürzte ihre Ausgaben um 13 Prozent, was die bereits schwache Binnennachfrage weiter senkte. Entsprechend schlecht sehen die Wirtschaftsprognosen aus; die Regierenden warnen selber vor einer Rezession. Der IWF rechnet für 2015 mit einem Wachstum von 0,8 Prozent. Obwohl die Bekämpfung der Inflation für die Regierung Priorität hat, liegt die Rate weiterhin bei 15 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 10,6 Prozent (2014) und wird weiter ansteigen.

Nach Berechnungen des Regimes leben 30 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Obwohl der monatliche Mindestlohn mehr als verdoppelt wurde, von 303 000 Toman3 2010 auf heute 712 000 Toman (einschließlich Wohn- und Kindergeld liegt er real bei einer Million Toman), lag die Steigerung unterhalb der Inflation. Umgerechnet in Dollar ist er von 290 auf 215 gesunken – eine Folge der Abwertung der Währung gegenüber dem Dollar, die trotz der Sanktionen die Subventionierung von Lebensmitteln ermöglichte.

Das Regime setzt nach der Aufhebung der Sanktionen auf private ausländische Investitionen und versucht, dafür mit Lohnsenkungen und der Veränderung von Arbeitsgesetzen Anreize zu schaffen. Dazu gehören die Einrichtung von weiteren Freien Wirtschaftszonen, wo die Arbeitsgesetze nicht gelten, sowie neue Arbeitsverträge, die Klauseln enthalten wie die, dass bei Entlassung nach einem Streik kein Lohn für die bis dahin geleistete Arbeit bezahlt werden muss.

Durch den intensiven Kurs der Privatisierung der Großbetriebe, die vor allem von Institutionen wie Versicherungen gekauft wurden, sind in den letzten Jahren viele Arbeitsverträge neu geschlossen worden; meist befristet. Der Vizepräsident des Ministeriums für Arbeit und Soziales stellte kürzlich fest: »Rund 90 Prozent der Arbeiter hatten zu Revolutionsbeginn einen unbefristeten Arbeitsvertrag, dagegen haben heute rund 90 Prozent einen befristeten Arbeitsvertrag.« Es gibt sogar Arbeitsverträge, die nur die Unterschrift des/r ArbeiterIn enthalten und die der Arbeitgeber jederzeit verändern kann. Manche verlangen bei der Einstellung sogar die Zahlung einer Kaution.

Die Erwartungen an einen positiven Verlauf der Atomverhandlungen waren klassenübergreifend ziemlich hoch. In Diskussionen, Berichten und persönlichen Gesprächen meinten viele, dass nicht nur die Kriegsgefahr zurückgehen, sondern sich Vieles zum Besseren wenden würde. Ein großer Teil der Gewerkschaftslinken hoffte und hofft noch, dass mit der Öffnung für ausländische Investitionen die Arbeiterbewegung an Stärke gewinnen könnte bzw. Gewerkschaftsgründungen möglich werden.

Während die Mittelschicht »auf bessere Tage wartet«, zeigt die Zunahme der Streiks und Arbeiterproteste in den letzten Monaten, dass die ArbeiterInnen nicht warten. Auch das Regime bereitet sich auf härtere Auseinandersetzungen vor, wie die Verschärfung der Gesetze und das brutale Vorgehen gegen die Kämpfe zeigen.

Arbeiter warten nicht

2014 war die Anzahl der Streiks und Arbeiterproteste deutlich gestiegen. Die meisten Kämpfe richteten sich gegen Privatisierungen und Massenentlassungen, aber auch gegen die seit Jahren zur Normalität gewordene unregelmäßige und verspätete Zahlung der Löhne. Im Mai war der Höhepunkt: der Streik von 5000 Arbeitern im Eisenerzabbau in Bafgh; mit 39 Tagen war er der längste Streik seit der Revolution. Mit ihrem Sieg verhinderten die Arbeiter die geplante Teilprivatisierung. Im August wurden neun aktive Arbeiter festgenommen. Daraufhin traten die Arbeiter erneut in den Streik und beendeten ihn erst nach 16 Tagen, als der letzte verhaftete Arbeiter freigelassen wurde. Den Streik begleitete eine Welle der Solidarität der Frauen, Familienangehörigen und Nachbarn, u. a. mit langen Sit-ins vor dem Gebäude des Gouverneurs.

Um den Jahreswechsel 2014/15 folgte eine Protestwelle in der Autoindustrie. Die ArbeiterInnen wählten eine einfache und als solche nicht illegale Aktionsform, nämlich den kollektiven Boykott des Kantinenessens. Durch ihre Geschlossenheit brachten sie das Regime in Bedrängnis. Bei Pars Khodro erreichten die ArbeiterInnen nach vier Tagen eine Lohnerhöhung von über 20 Prozent, bei Iran Khodro nach zehn Tagen. Für viele ArbeiteraktivistInnen und Linke war diese kollektive Taktik besonders ermutigend, da die ArbeiterInnen das Zusammenkommen bei der Verweigerungsaktion als Diskussionsraum nutzten. Dort diskutierten sie auch einen möglchen Boykott der Werksbusse und einen gemeinsamen Marsch über 10 km nach Teheran.

2015 wurden noch mehr Streiks und Proteste öffentlich. Sogar auf den staatlichen und staatsnahen Nachrichtenseiten fand man beinahe täglich Berichte über Arbeiterproteste und Streiks. Leider ist es oft schwierig, weitergehende Informationen zu finden.

Es gab einige längere Streiks, so streikten 120 ArbeiterInnen der Textilfabrik Iran Barak 45 Tage lang. Der Streik bei den Stahlwerken in Ahwaz dauerte 35 Tage, die Stadtbahnarbeiter derselben Stadt waren 22 Tage im Ausstand. In der Zementfabrik Karoun streikten die 500 Beschäftigten zwei Wochen lang. Wichtig waren die andauernden Proteste und Arbeitsniederlegungen auf dem South Pars Gasfeld, dem größten iranischen Gasfeld, dessen Erschließung 2003, vor den Sanktionen, begonnen hatte, und die dann ins Stocken geraten war.4

Seit dem 5. Dezember läuft eine Auseinandersetzung in der petrochemischen Sonderzone, um die vollständige Privatisierung der Persian Gulf Holding, des zweitgrößten Petrochemiekonzerns im Mittleren Osten. Die 6000 Arbeiter sollen jetzt endgültig private Arbeitsverträge bekommen. Laut Nachrichtenportal Naft e ma sind an verschiedenen Orten 3000 Arbeiter in den Hungerstreik getreten oder boykottieren das Kantinenessen; sie drohen mit einer Menschenkette um die Werke.

Ein Blick auf eine einzige Woche im Oktober 2015 zeigt, wie massenhaft, aber zerstreut diese Kämpfe in ganzen Land stattfinden: In drei Petrochemiewerken streiken die ArbeiterInnen zwei bis zehn Tage. In der Kalksteingranulat-Fabrik Ardakan wird fünf Tage gestreikt; im Stahlwerk in Dorood 23 Tage wegen ausstehender Löhne. 105 Textilarbeiter aus der Provinz Lorestan demonstrieren vor der Zentrale der Sozialversicherung in Teheran. Die Arbeiter des Petrochemiewerks Farabi verweigern seit sieben Tagen das Kantinenessen. In über 15 Städten demonstrieren LehrerInnen für eine Gehaltserhöhung und die Freilassung inhaftierter Lehrer. Prekäre städtische Angestellte in Masdjed-Soleyman versammeln sich seit drei Tagen, um für die Auszahlung ihrer seit vier Monaten überfälligen Löhne zu protestieren.

Die Forderungen waren nicht besonders »radikal«, aber angesichts der Schwierigkeiten, denen sich Kämpfende aussetzen, sind sie ein Zeichen für den im Untergrund wachsenden Mut trotz der heftigen Repression.

Das Regime schlägt zurück

Denn das Regime geht mit seinen Sicherheitsorganen und Gerichten hart gegen diese Kämpfe vor. In der Ölraffinerie der Stadt Bandar Abbas setzten die Sicherheitskräfte Wasserwerfer gegen protestierende Arbeiter ein, woraufhin diese Maschinen beschädigten. Eine Versammlung von Bergarbeitern in Zarand, die eine der Zufahrtsstraßen des Bergwerks blockierten, wurde unter Einsatz von Tränengas aufgelöst, dabei wurde ein Arbeiter von einem Laster erfasst und starb später. Spezialeinheiten haben eine Versammlung der Arbeiter der Stahlwerke in Ahwaz angegriffen und einen Arbeiter schwer verletzt. Eine Statistik über nur vier Monate zeigt, dass Regierung und Unternehmer 1167 engagierte ArbeiterInnen aus 23 Betrieben entlassen haben. Auch die islamische Justiz verhängt höhere Strafen gegen protestierende Arbeiter. Zum Beispiel wurden fünf Bergarbeiter aus Tschador Malu zu einer einjährigen Haftstrafe und Peitschenhieben verurteilt. Nur aufgrund ihres Alters und der vielen Jahre im Bergwerk wurde die körperliche Züchtigung in eine Geldstrafe und fünf Jahre Gefängnis auf Bewährung umgewandelt.

Die ArbeiteraktivistInnen erleben, dass Unterdrückung und Repressalien unter der neuen Regierung noch zugenommen haben. Viele befürchten, dass das Regime das Klima nach dem Atomdeal dazu nutzen wird, die Arbeiterkämpfe nicht nur stärker zu isolieren, sondern sie auch stärker zu verfolgen und zu vernichten. Schon bisher ist es dem Regime gelungen, diese Kämpfe voneinander getrennt zu halten.

In den letzten zehn Jahren gab es mehrere Versuche von ArbeiteraktivistInnen, unabhängige Gewerkschaften zu gründen, z. B. in der Rohzuckerfabrik in Haft-Tappeh oder die Busfahrer-Gewerkschaft; es gab zahlreiche Gründungskomitees. Sie haben den AktivistInnen hohe Gefängnisstrafen eingebracht, aber wenig Widerhall in der Arbeiterklasse gefunden. Die Verbindung dieser kleinen Gewerkschaften mit den Gewerkschaften der Welt hat ihre Durchsetzungskraft nicht gestärkt, sondern zu Konflikten zwischen ihren Initiatoren und einem Vertrauensverlust bei den einfachen ArbeiterInnen geführt. Es ist zu beobachten, dass die ArbeiterInnen ihre Proteste und Streiks heute eher über direkte Aktionen organisieren. Sie versuchen zunehmend, ihre Aktionen aus den Betrieben herauszutragen und in die Arbeiterviertel zu erweitern, wo sich die Menschen aktiv mit ihnen solidarisieren.

Fußnoten:

[1] Genauer in Wildcat 86. Ende 2010 setzte Ahmadinedschad den Subventionsabbau durch, den IWF und Weltbank seit 20 Jahren gefordert halten und an dem die Vorgängerregierungen immer wieder gescheitert waren. Das wurde mit minimalen Zahlungen an die Bevölkerung abgefedert: Pro Person zahlte der Staat in der ersten Phase 40 000 Toman monatlich an etwa 90 Prozent der Bevölkerung – während Benzin um 400 Prozent, Strom um 300 Prozent und Brot um 200 Prozent teurer wurden.

[2] Die Autoproduktion stieg nach Angaben der OICA von 997 240 produzierten Autos 2007 bis auf 1 648 505 2011. Seitdem kriselt sie, 2012 brach sie auf 989 110 ein, 2013 sogar auf 743 680. 2014 konnte sie sich mit 1 090 846 produzierten Autos wieder etwas erholen. Wegen der schwachen Nachfrage fielen die Aktienkurse der Automobilbetriebe in den letzten neun Monaten um 24 Prozent.

[3] Dezember 2015: 1 Euro = 3965 Toman
2010: 1 Euro = 1400 Toman.

[4] Die USA benutzen zur Durchsetzung von Sanktionen zunehmend eine bisher kaum bekannte Abteilung des US-Finanzministeriums: Das Office of Terrorism and Financial Intelligence (TFI). Mit internationaler Hilfe isolierte das TFI über 20 iranische Finanzinstitute vom internationalen Bankensystem. Dadurch verlor die iranische Währung Rial Ende 2011 rund 30 Prozent an Wert. Laut US-Finanzministerium verlor der Iran seit Beginn der optimierten Sanktionen 2010 so circa 120 Milliarden US-Dollar an Einnahmen. Die New York Times stufte die TFI-Maßnahmen entsprechend als das »bislang erfolgreichste Druckmittel« gegen den Iran ein. (Telepolis, 23.06.2014)
Durch die neuen Sanktionen seitens der EU wurden ab Juli 2012 die Öl-Einfuhren aus dem Iran in die EU gestoppt. Weitere Sanktionen zielten auf die iranische Zentralbank, deren Konten in Europa eingefroren wurden. Vgl. http://www.faz.net.

 
 
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