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26.04.2016

aus: Wildcat 99, Winter 2016

Wanderung, Flucht und Arbeit

Der »Sommer der Migration« ist zu Ende. Während immer noch zahllose Initiativen die »Neubürger« unterstützen, Überleben und Feste organisieren, Sprachkurse geben und vieles mehr, versucht die Politik, diesen Schwung in sein Gegenteil zu verkehren, neue Grenzen zu errichten, soziale Verschlechterungen durchzusetzen, und die Flüchtlinge zur politischen Spaltung der Klasse zu benutzen, als Katalysator für eine sehr weitgehende gesellschaftliche Neuformierung.

In der Linken gibt es grob zwei Einschätzungen: die einen fassen die beeindruckende Selbstorganisation der Flucht und das Niederreißen von Grenzabsperrungen als »Autonomie der Migration«. Andere sehen Merkels Politik rein funktionalistisch: die Einwanderung komme dem Interesse des Kapitals an billiger, gut ausgebildeter und williger Arbeitskraft und an Beitragszahlern für die Rentenkassen entgegen.

In der Realität kommt beides zusammen. Mit ihrem Aufbruch in die nordeuropäischen Zentren versuchen viele Menschen, wieder zu Handelnden zu werden. Das Kapital will ihre Energien zur Neustrukturierung des Arbeitsmarkts nutzen und die hiesigen Klassenverhältnisse unter Druck setzen. Außerdem kann die Flüchtlingsbewegung wie ein Konjunkturprogramm wirken, Jobs in der Arbeitsagentur, als Lehrer, auf dem Bau, im Sozial- und Sicherheitsbereich... zudem werden die Reproduktionskosten der Arbeitskraft gesenkt (die Ernährung und Ausbildung eines Menschen kostet in seinen ersten 20 Lebensjahren etwa 200 000 Euro – Deutschland ist ein »altes« Land und braucht junge Leute!). Das setzt aber die Kontrolle über die proletarischen Wanderungsbewegungen voraus, und diese ist den Herrschenden in den letzten Jahren zunehmend entglitten. Die letzten Stationen waren die Eskalation der »Flüchtlingskrise« in Griechenland Anfang 2015, Mitte Juli das Niederreißen der türkischen Grenzabsperrungen durch tausende Flüchtlinge nach den Kämpfen um die syrische Stadt Tal Abjad, der Flüchtlingsmarsch vom Budapester Hauptbahnhof in Richtung Österreich. Anfang September wurden die ankommenden Flüchtlinge in Wien, München und anderen Städten beklatscht. Das ist die andere Seite des staatlichen Kontrollverlusts und wäre Anfang der 1990er Jahre undenkbar gewesen. Drittens haben die Herrschenden keinerlei Plan zur »Bekämpfung der Fluchtursachen«; im Gegenteil: Das immer brutalere und destruktivere Vorgehen gegen Oppositionsbewegungen in immer mehr Regionen der Welt verschärft die gesellschaftlichen Widersprüche; Krisen und Kriege führen zum Zusammenbruch ganzer Regionen.

Die Wende der Merkel-Regierung im Sommer war gleichzeitig das Eingeständnis dieser Realität und der Versuch, wieder die Initiative zu erlangen. Dazu gehörte auch das Ausrufen einer »Willkommenskultur«. Nur indem aus monatelanger geduldiger Basisarbeit ein »Event« gemacht wurde, konnte danach auch versucht werden, sie zu drehen.

Wir wollen im Folgenden den Zusammenhang zwischen Flucht und Arbeitsmigration in die BRD im europäischen Rahmen herausarbeiten. Dabei ist die Unterscheidung zwischen »Flüchtlingen« und »Arbeitsmigranten« zunächst eine juristische: Ein griechischer Arbeiter, der 1967 vor der Militärjunta in die BRD floh, galt als »Gastarbeiter«. Nach dem Anwerbestopp von 1973 musste ein türkischer Arbeiter, der vor dem Militärputsch 1980 floh, einen Asylantrag stellen. Ein senegalesischer Migrant, der heute unter Lebensgefahr das Mittelmeer überquert hat, gilt in Spanien als illegaler Landarbeiter, in der BRD als Asylbewerber. Das im Grundgesetz verankerte individuelle Asylrecht spielte vor Ende der 70er Jahre kaum eine Rolle und wurde vor allem für Einwanderer aus staatssozialistischen Ländern bereitgehalten. 1980 stellten zum ersten Mal mehr als 100 000 Menschen einen Asylantrag, darunter viele Vietnamesen und Palästinenser und etwa zur Hälfte Menschen aus der Türkei. Ein Jahr später kamen 20 Prozent der AsylbewerberInnen aus Polen.

In den 80er Jahren waren unter den Asylbewerbern viele Linke, die vor staatlicher Repression oder Bürgerkriegen flohen, etwa aus dem Iran oder Sri Lanka. Sie bildeten das Rückgrat einer politischen Bewegung um die Bedingungen des Asyls und gegen die Abschiebung in Krisengebiete. Die in der ersten Hälfte der 80er Jahre anschwellende Hetze gegen Flüchtlinge richtete sich vor allem gegen diese Linken, die nicht nur Kampferfahrungen mitbrachten, sondern auch Wissen über die Beziehungen des deutschen Kapitals zu den Regimen in ihrer Heimat.

Seit 1987 wurde die Krise in den Ostblockländern spürbar. Die Zahl der Aussiedler aus Osteuropa und nun auch aus der Sowjetunion stieg sprunghaft bis auf 400 000 allein im Jahr 1990; die Mehrheit von ihnen hatte eine Facharbeiterausbildung. Wer keine »deutsche Abstammung« vorweisen konnte, dem blieb nur der Asylantrag: ab 1988 stieg die Zahl der Anträge stetig. Um 1992 erreichte sie mit etwa 440 000 einen Höhepunkt. »Linke« aus der »Dritten Welt« waren nun in der Minderheit, zu 75 Prozent stammten die neuen Flüchtlinge aus Ost- und Südosteuropa – eine Folge des dortigen gesellschaftlichen Zusammenbruchs, der »Schocktherapien« und daraus folgenden Verteilungskämpfen und Bürgerkriegen. Unter den Migranten waren aber auch viele Menschen, die gar keinen dauerhaften Aufenthaltstitel über einen Asylantrag suchten, sondern schwarz arbeiteten, etwa auf dem Bau.1

Der Anschluss der DDR brachte allein in den ersten drei Jahren zusätzlich über eine Million Binnenmigranten in den Westen, die der Arbeitslosigkeit aufgrund der Zerstörung der ostdeutschen Industrie und Verwaltung entkommen wollten.

Die Krise Anfang der 1990er Jahre

Auch vor 25 Jahren legte die Eskalation der »Flüchtlingskrise« das Fundament für den massiven Abbau sozialstaatlicher und tariflicher Ansprüche sowie Arbeitsrechte in der kurz darauf folgenden Wirtschaftskrise. Das seit etwa 15 Jahren erfolgreiche deutsche Modell einer hochproduktiven Exportindustrie basiert auf einer Arbeiterklasse, die krasser aufgespalten und differenziert ist als in den Jahrzehnten davor.

Am 8. August 1991 stürmten mehr als 10 000 albanische Flüchtlinge den schrottreifen Frachter Vlora und zwangen die Besatzung, Kurs über die Adria zu nehmen. Die italienische Polizei schob sie nach der Ankunft in Bari brutal zurück. Dieses Ereignis lieferte die bildliche Untermalung zur »Das Boot ist voll!«-Rhetorik. Der Spiegel fabulierte die Migration als »Krieg des dritten Jahrtausends« herbei und sagte die Ankunft von 50 Millionen sowjetischen Flüchtlinge voraus (Der Spiegel, 19.8.1991).

Während die Bundesregierung die Angst vor einem unkontrollierten Zustrom von Menschen aus dem Ausland schürte, holte sie gleichzeitig im Rahmen von Werkverträgen oder branchenspezifischen Anwerbeabkommen billige Arbeitskräfte aus Ost- und Südeuropa ins Land, z. B. ab 1991 verstärkt als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft.

Die ungeregelte sowie die Werkvertragsmigration etwa auf den Bau oder in die Fleischindustrie übte massiven Druck auf alteingesessene Arbeiter-Innen aus. Die für sehr viel weniger Geld arbeitenden Migranten wurden ihrerseits systematisch um den versprochenen oder gleich den ganzen Lohn betrogen, was Anlass für zahlreiche Auseinandersetzungen und auch kleinere selbstorganisierte Streiks englischer, irischer oder italienischer Arbeiter war.

Die Ungleichbehandlung der verschiedenen Migrantengruppen bereitete den Boden für Spaltungen, Angst und Anpassungsdruck: Beschäftigte gegen Arbeitslose, Westdeutsche gegen die »faulen Ossis«, Russlanddeutsche gegen hier ansässige Migranten… Die Reihe ließe sich fortsetzen.

Dass der Staat die politische Verantwortung für Rassismus an die Verlierer der Wende delegieren konnte, lag also an einem geschickten Ausspielen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die politische und mediale Hetze gegen »Armutsflüchtlinge« ließ sich damals und lässt sich heute als gezielte Handlungsanweisung lesen. Im September 1991 forderte der CDU-Generalsekretär Rühe in einem Rundschreiben seine Parteigliederungen auf, die »besorgniserregende Entwicklung von Asylbewerberzahlen« auf allen parlamentarischen Ebenen zum Thema zu machen. Er lieferte Musterentwürfe für Ratsbeschlüsse und Presseerklärungen, in denen Kindergärten gegen Flüchtlingsversorgung gegengerechnet oder Notunterkünfte in Schulen und Turnhallen für Unterrichtsausfall verantwortlich gemacht werden sollten. Wenige Tage nach dem Rundschreiben begannen in Hoyerswerda Angriffe gegen Wohnheime von mosambikanischen Arbeitern und Flüchtlingen; die Stadt nahm die Gelegenheit wahr, auf einen Schlag sowohl die Flüchtlinge als auch die letzten mosambikanischen Vertragsarbeiter loszuwerden (siehe »Harter Staat und weiche Birne«, Wildcat 57, 10/1991).

Ähnlich wie heute führten administrative Maßnahmen erst zu lokalen »Notlagen« und Konkurrenz, an denen die öffentliche Hetze dann ansetzen konnte. Die Kommunen waren verpflichtet, Flüchtlinge in Sammelunterkünften unterzubringen und setzten dies vielfach um, indem sie verrottete und lange leerstehende Häuser ohne adäquate Infrastruktur belegten. Zur weiteren Abschreckung und Stigmatisierung setzte man auf sehr rigide organisierte Massenabfertigung und das Prinzip von Sach- statt Geldleistungen.

Das führte mancherorts zu gewaltsamen rassistischen Ausbrüchen, vielerorts aber auch zu »zivilgesellschaftlichem« Engagement und zu Widerstand von Asylbewerbern in Form von Essensverweigerung, Hungerstreiks und Sozialamtsbesetzungen.

Um diese Solidarisierung zu neutralisieren, wurden Pogrome und schließlich auch tödliche Brandanschläge durch mit V-Leuten durchsetzte Nazibanden initiiert, bei Morden wurden beide Augen zugedrückt.

Dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 folgte der »Asylkompromiss«. Die Demo von 350 000 Menschen im November 1992 in Berlin bildete den Schlusspunkt im Widerstand gegen die Verschärfung des Asylrechts.

Die Änderung des §16 GG im Mai 1993 war ein wesentlicher Schritt in der Europäisierung des Asylrechts. Mit der Konstruktion von »sicheren Drittstaaten« schob er das Rechtsverfahren auf die EU-Randstaaten; die Deklarierung von »sicheren Herkunftsstaaten« war die faktische Abschaffung des Asylrechts für Menschen aus diesen Staaten.

Dann wurde im Ausländergesetz die kontingentierte und temporäre Aufnahme von Kriegsflüchtlingen verankert – die Aufenthaltserlaubnis war damit kein individuelles Recht mehr, sondern ein gruppenbezogener und jederzeit aufhebbarer Verwaltungsakt. Er wurde erstmals in großem Maßstab gegenüber Kriegsflüchtlingen aus dem Kosovo angewandt. Das Asylbewerberleistungsgesetz schuf seit 1993 die rechtliche Begründung für eine Ungleichbehandlung bei grundlegenden sozialen Mindestleistungen.

Den Rückgang der Asylanträge im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends verbuchten die Politiker als Erfolg. Das allen Regelungen bis in die jüngste Zeit zugrunde liegende Diktum »Deutschland ist kein Einwanderungsland!« drückte vor allem die Weigerung aus, generell Menschen zu integrieren, d. h. sie rechtlich gleichzustellen.

Im halben Jahrhundert von 1950 bis 2000 wanderten jährlich im Schnitt 200 000 Menschen mehr ein als aus. In den Nullerjahren ging der Saldo zurück und wurde dann sogar teilweise negativ. Vorherrschend wurde in diesen Jahren eine temporäre Arbeitsmigration aus den neuen EU-Staaten im Osten. Erst seit 2010 kamen wieder mehr Menschen in die BRD als weggingen: die meisten aus anderen EU-Staaten, aber ein großer Teil auch von außerhalb und als Asylbewerber. Die Staatsangehörigkeit der Flüchtlinge wechselte in jedem Jahr; eine wichtige Herkunftsregion war Osteuropa bzw. der Balkan, der Nahe Osten die andere.

Eine neue Phase seit 2008

Die einzige exakte Zahl über den Umfang der hier ankommenden Fluchtbewegung sind Erstanträge auf Asyl. Seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2008 stieg diese Zahl von weniger als 30 000 zunächst langsam auf 64 000 Erstanträge im Jahr 2012, verdoppelte sich dann fast auf 110 000 im Jahr 2013, stieg 2014 auf 170 000 und 2015 dann auf mehr als 390 000 – das ist weit entfernt von der gehandelten Zahl von über einer Million. Wie viele der bis November 2015 erfassten etwa eine Million ZuwanderInnen noch vor Stellen eines Asylantrags weitergereist oder zurückgegangen sind, wie viele Doppel- und Fehlzählungen es gibt, und wie viele Flüchtlinge sich angesichts einer zunehmend pauschalen und rigiden Auslegung des Asylrechts der Registrierung entziehen, wissen auch die Behörden nicht. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Arbeitsagentur schätzt, dass etwa 70 Prozent hier bleiben werden.

Die EU-Staaten hatten die Lage oft nicht mehr unter Kontrolle, sie konnten oder wollten die Registrierung gar nicht mehr korrekt leisten. Manche Länder gaben die Registrierungsdaten nicht an die EU-Behörden weiter, um nicht für die Asylanträge zuständig zu sein. An und zwischen den Grenzen auf dem Balkan wurden die Flüchtlingstrecks immer wieder aufgehalten, Versorgungsgüter zurückgehalten, Engpässe produziert. Dann wieder sorgten Regierungen für zum Teil kostenfreien Zugtransport durch ihr Land für diejenigen, die bereit waren, sich dem Akt des Registrierens zu unterwerfen und dafür Tage unter desaströsen Verhältnissen in einem Lager auszuharren. Auch damit wurden Bilder produziert von Flüchtlingstrecks als plötzlich hereinbrechender »Naturkatastrophe«, die die staatliche Verwaltung »beim besten Willen« überfordere. Ausnahmezustände und politische Verschärfungen wurden gerechtfertigt – besonders, wenn die produzierten Verhältnisse zu Widerstand führten und die Flüchtlinge die geforderte »Dankbarkeit« verweigerten.

In der BRD war seit über vier Jahrzehnten keine Bundesregierung in der Lage, eine »Einwanderungspolitik« im Sinne einer umfassenden Steuerung und Kontrolle der Zuwanderung zu formulieren. Seit dem Sommer 2015 muss sie den Tatsachen ins Auge sehen: Kriege rücken immer näher an die EU heran und breiten sich aus. Als Folge davon verlassen viel mehr Menschen auf Dauer ihre Heimat. Der Aufbau temporärer Flüchtlingslager in den Nachbarstaaten kann das Problem nicht mehr von der deutschen Haustür weghalten; weil diese Gesellschaften vom Ausmaß der Fluchtbewegungen ebenfalls destabilisiert werden – und weil die Flüchtlinge selber gegen diese Lagerhaltung kämpfen. Seit 2012 kamen deshalb tatsächlich immer mehr Menschen in der BRD an. Ausgerechnet im Juli 2012 entschied das Bundesverfassungsgericht, das grundgesetzlich garantierte »menschenwürdige Existenzminimum« stehe allen in der Bundesrepublik lebenden Menschen gleichermaßen zu. Auch wenn die Umsetzung des Urteils noch immer aussteht, es war ein Hieb gegen die Abschreckungspolitik mit abgesenkten Verpflegungssätzen. Es kann nur vor dem Hintergrund der breiten Unterstützung von Asylbewerbern und des beharrlichen Widerstands gegen ihre Ungleichbehandlung verstanden werden. Diese gewachsene Bewegung war auch der Grund dafür, dass der Staat seit einigen Jahren immer weniger abgeschoben hatte. 2013 und 2014 wurden jeweils etwa 10 000 Abschiebungen durchgeführt, 2015 waren es zwar 18 360 Menschen, v. a. im zweiten Halbjahr – das sind viele, aber nur rund ein Viertel der jeweils zur Ausreise Bestimmten. Die Senkung der Anerkennungsquoten auf den Promillebereich, also die faktische Abschaffung des Asylrechtes, war in der Wirklichkeit nicht durchsetzbar.

Neuankommende Flüchtlinge treffen in der BRD seit etwa 2012 auf eine Situation, die zunehmend vom selbstbewussten und organisierten Auftreten zuvor angekommener Flüchtlinge geprägt ist, u. a. mit Protesten gegen die Residenzpflicht, Besetzungen oder Hungerstreiks. 2013 entwickelte sich daraus die Bewegung der Lampedusa-Flüchtlinge. Diesen Bewegungen wird auch von bürgerlicher Seite viel Sympathie und Unterstützung entgegengebracht, wie zum Beispiel der Anstieg des Kir-chenasyls zeigt (mittlerweile 450 Menschen in fast 300 Gemeinden), mit dem Abschiebungen verhindert werden sollen, oder Proteste von SchülerInnen gegen die Abschiebungen von MitschülerInnen.

In den 90er Jahren unterstützten wenige linksradikale oder bürgerliche Grüppchen die Flüchtlinge. Die Aktionen gegen die »Fresspakete« liefen zum Teil auch gegen die damit betreuten Wohlfahrtsverbände und Geschäfte, die daran verdienten. Heute hingegen engagieren sich Hunderttausende als »Freiwillige«, und die »Linken« sind darin eine Minderheit. Eine Studie der Evangelischen Kirche spricht sogar von acht Millionen Menschen, die sich 2015 in irgendeiner Weise aktiv in der Betreuung von Flüchtlingen engagiert haben. Dieses Engagement, die Begegnung mit den Flüchtlingen und ihren Kämpfen hat die Leute selber radikalisiert, etwa in Bezug auf die Verwicklung der BRD in Kriege, die Rolle der deutschen Rüstungsexporte und anderes.

Die Gewalt gegen Flüchtlinge hat wieder Dimensionen wie Anfang der 1990er Jahre erreicht. Merkel ging sogar so weit vor einem »neuen NSU« zu warnen. Es gibt eine Radikalisierung der Rechten über das organisierte militante Milieu hinaus. Heute können sich die Faschos aber nicht als Ausführende einer relativ homogenen gesellschaftlichen Ablehnung verstehen, ihre Gewalt ist vielmehr Ausdruck zunehmender gesellschaftlicher Spaltung. Pegida & Co. machen Schwächere für die eigene Verlustangst verantwortlich. Indem sie die Immigranten zu Untermenschen machen, wollen sie die Auffassung durchsetzen, dass diesen »anderen« nicht zusteht, was sie für sich selbst beanspruchen. Ein dumpfer Widerstand gegen das Modernisierungsprogramm des Kapitals, der diesem nicht gefährlich wird, sondern es sogar befördert. Deshalb ließen die Bullen Pegida weitgehend machen und der Tiefe Staat hat Brandanschläge und Übergriffe gegen Flüchtlinge zumeist geduldet.

EU, die bröckelnde Festung

Die Flüchtlingskrise in der zweiten Hälfte 2015 ging sehr viel tiefer als die Griechenlandkrise im ersten Halbjahr. Die EU driftet auseinander, Schengen ist kaputt. Wohlgemerkt: Mit dem Schengen-Abkommen ging es nicht darum, die Außengrenzen der EU hermetisch abzuriegeln, die Hürden soll(t)en so hoch sein, dass nur bestimmte Menschen durchkommen, die fit sind, über Geld, persönliche und familiäre Ressourcen verfügen und einen unbedingten Willen haben. Damit dies aber klappt, muss auch die in den Dublin-Abkommen vorgesehene Arbeitsteilung zwischen den Staaten funktionieren. Italien und Griechenland hatten aber MigrantInnen bei ihrer Ankunft nicht mehr registriert und nach Nordeuropa weitergeleitet. In der Folge hat 2015 jedes Land nur noch eigene Interessen verfolgt.

Die osteuropäischen »Frontstaaten« lehnen die Aufnahme von Flüchtlingen rigoros ab. Aber sie betreiben – neben einer stillschweigend geduldeten Pendelmigration – eine sehr freigiebige Einbürgerung von Menschen aus Nachbarländern. Polen erinnert sich »polnischer« Minderheiten in der Ukraine, Ungarn »ungarischer« in der Ukraine, Rumänien »rumänischer« in Moldawien und der Ukraine, usw. Das Vorgehen dieser nationalistischen Regierungen ähnelt in vielem der BRD-Politik bezüglich der »Spätaussiedler«. Man verspricht sich politisch angepasstere Immigranten (die größtenteils schlecht bezahlte Jobs in der Landwirtschaft oder auf dem Bau machen, vor denen die Einheimischen in die westlichen EU-Staaten abgehauen sind) und fährt gleichzeitig einen aggressiven Kurs gegen Teile der Bevölkerung, die von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen werden (sollen). Vorreiter waren die baltischen Staaten, die nach ihrer Unabhängigkeit Menschen, die nach 1940 aus anderen Staaten der Sowjetunion eingewandert waren, samt ihrer Nachkommen ausbürgerten und zu Staatenlosen machten. Die systematische Ausgrenzung von Roma in südosteuropäischen Staaten folgt einer ähnlichen Logik.

Viele Regionen, aus denen die Flüchtlinge Anfang der 90er Jahre kamen, sind inzwischen Mitgliedsstaaten der EU geworden oder haben Abkommen zur visafreien Einreise geschlossen. Die Ausdehnung der EU hat sowohl das Auslagern von schlecht bezahlter industrieller Zulieferarbeit in diese Staaten erleichtert, als auch die Immigration aus diesen Ländern durch die »Arbeitnehmerfreizügigkeit« schrittweise reguliert. Für die Arbeiter-Innen war der Zugang zum EU-Arbeitsmarkt mit langen (nationalen) Übergangsfristen verbunden, die vor allem auch von den deutschen Gewerkschaften gefordert wurden. Während der sieben Jahre nach der ersten Erweiterungsrunde 2004 konnten Menschen aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn (die sogenannten EU-8-Länder) aber bereits als (formal) »Selbstständige« oder als Angestellte ausländischer Firmen mit entsprechend niedrigen Löhnen und Sozialleistungen in der BRD arbeiten. 2011 lebten fast 470 000 Polen in der BRD, mehr als aus allen anderen EU-8-Ländern zusammen. Die EU-2-Länder Rumänien und Bulgarien – die 2007 mit etwa denselben Bedingungen aufgenommen wurden – lagen mit rund 160 000 bzw. 94 000 Menschen an zweiter und dritter Stelle.

Die Aufhebung der Visapflicht 2009/2010 für einige Staaten des westlichen Balkans sorgte für den weiteren Zustrom von erpressbaren und damit billigen Arbeitskräften. Mit einem Arbeitsvertrag slowenischer oder später auch kroatischer Firmen können Nicht-EU-Bürger aus Serbien oder Bosnien als »Entsendearbeiter« in die EU kommen. Allein in Slowenien wurden 2014 etwa 60 000 sogenannte A1-Bescheinigungen (Bestätigung der Sozialversicherung im Heimatland der Entsende-Firma) für Staatsangehörige benachbarter Balkanstaaten ausgegeben. Wer keinen Arbeitsvertrag hat, kann ohne Visum in die EU einreisen und hier z. B. einen Asylantrag stellen und sich darüber ein zumindest temporäres Aufenthaltsrecht und Einkommen verschaffen. Ein ähnliches Szenario steht mit der von der EU-Kommission jüngst empfohlenen Aufhebung der Visapflicht für Georgien und der Ukraine im Raum.

Laut Ausländerzentralregister vom Oktober 2015 war die ausländische Bevölkerung in einem Jahr um 820 000 Personen angewachsen, davon kamen 340 000 Menschen aus EU-Staaten, 260 000 aus anerkannten Kriegs- und Krisenländern und 120 000 vom Westbalkan. Mittlerweile sind etwa 650 000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien offiziell in der BRD gemeldet; 80 Prozent von ihnen kamen innerhalb der letzten fünf Jahre. Auch aus Polen hat die dauerhafte Immigration seit 2011 noch einmal zugenommen; nunmehr gehen fast 600 000 Menschen aus den EU-8-Ländern einer sozialversicherungspflichtigen oder geringfügigen Beschäftigung nach. Seit Erreichen der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. Januar 2014 ist die Zahl der mit deutschen Arbeitsverträgen beschäftigten BulgarInnen und RumänInnen rapide angestiegen.

Dazu kommt noch eine statistisch schwer zu erfassende Zahl von temporär tätigen ImmigrantInnen; für das Jahr 2012 schätzte eine Studie der Böckler-Stiftung die Zahl der Entsendungen auf 800 000, 80 Prozent der Leute kamen aus Osteuropa.

Hauptsächlich aus zwei Richtungen kommen MigrantInnen in die EU: aus dem Nahen Osten und Nordafrika sowie aus Osteuropa. In den südeuropäischen Staaten stellen »illegale Migranten« in Sektoren wie Landwirtschaft, Bau oder Logistik die Haupt-Arbeitskraft. Die Einwanderung von außen steht in einem engen Zusammenhang zur Binnenmigration innerhalb der EU. In ganz Europa flüchten Teile der jungen Generationen aus der Fabrik, aus der Landwirtschaft und überhaupt aus der Handarbeit. Ein Großteil der Jugendlichen studiert und will zumindest einen – wenn auch befristeten – Job beim Staat bekommen oder Karriere in boomenden Branchen machen. Den »Arbeitskräftemangel« in den schmutzigen Jobs auf den Feldern, in der Bauwirtschaft und der Pflege beheben die MigrantInnen. In den Boomjahren nach der Jahrtausendwende ermöglichte die Zuwanderung in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal… das »Upgrading« der einheimischen jungen Generation. Seit dem Kriseneinbruch haben sich viele arbeitslose junge AkademikerInnen ohne Aussicht auf einen qualifizierten Job auf den Weg nach Nordeuropa gemacht. Die Netto-Immigration aus den südeuropäischen Krisenstaaten in die BRD hatte in den letzten Jahren einen Überschuss von jeweils 30-40 000 Personen.

Die Unterschichtung in der BRD

Auch in der BRD hat die Unterschichtung des Arbeitsmarkts durch die spezielle Kombination von technischer Entwicklung und migrantischer Billigarbeit das Ausweichen vieler junger deutscher Arbeiter in qualifiziertere Jobs möglich gemacht, die so den sinkenden Löhnen entkommen konnten. Ein Beispiel ist der Boom im Oldenburger Münsterland. Obwohl bis 2005 geschätzt 25 000 Arbeitsplätze in der Fleischindustrie verloren gingen, wurden die Schlachtzahlen verdoppelt und ein »Cluster« rund um die Nahrungsmittelindustrie mit entsprechendem Maschinenbau etabliert. Nach Angaben der Gewerkschaft NGG (Nahrung Genuss Gaststätten) sollen heute nur noch zehn Prozent der ArbeiterInnen in der Fleischindustrie festangestellt sein, wenn man die nicht offiziell als »Fleischereiarbeiter« erfassten inoffiziellen Schlachtkolonnen, Industriereiniger und VerpackerInnen einberechnet. Offiziell arbeitet in der Fleischverarbeitung ein Viertel der Beschäftigten als Entsendearbeiter über ausländische Firmen – fast siebenmal so viele wie 2001.

In der Bauindustrie hatte sich diese Entwicklung bereits Anfang der 90er Jahre vollzogen. Damals versuchte die Gewerkschaft BauSteineErden durch den Aufruf zur Denunziation schwarz arbeitender Kollegen und dem Verlangen nach staatlichen Razzien die Billigkonkurrenz rauszudrängen und half so mit, rassistische Ressentiments zu schüren. Das 1996 zunächst für das Bauhauptgewerbe erlassene Arbeitnehmerentsendegesetz führte über einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag Mindestlöhne für BauarbeiterInnen ein – getrennt nach Ost- und Westfirmen. Wichtig an dem Gesetz ist bis heute die juristische Hauptunternehmerhaftung, die es ermöglicht, nicht bezahlte Löhne auch bei Insolvenz des Subunternehmers einzuklagen. Die Erweiterung des Geltungsbereichs des AEntG über das Bauhauptgewerbe hinaus, erst 2007, dann 2009 und zuletzt 2014, zeigt die Branchen an, in denen heute sehr viele MigrantInnen arbeiten: Gebäude-reinigung, verschiedene mit dem Bau verbundene Gewerke, Abfallwirtschaft, Altenpflege, Wäschereien und zuletzt die Fleischindustrie.2

Vor dem Hintergrund der Krise in Osteuropa gingen (Fach-)ArbeiterInnen vermehrt nach Deutschland – hier kamen sie genau richtig für die Ausweitung des »Niedriglohnsektors« auf die »Logistik« im weiteren Sinne, d. h. Werkverträge in der Autozulieferindustrie und bis hinein in die Werkhallen der deutschen Autoindustrie, wo früher einmal Spitzenlöhne verdient wurden. Die deutschen Gewerkschaften konnten ihren Burgfrieden mit dem Kapital in den letzten Jahren vor allem aufgrund der Niedriglöhne bei Zulieferfirmen im Osten aufrechterhalten. Die Lohnstückkosten wurden durch Rationalisierung, Arbeitsverdichtung und zeitliche Flexibilisierung auch für die Kernbelegschaften gesenkt; aber ihre Jahreseinkommen blieben relativ stabil. Die Drohung durch die Randbelegschaften (und die Verschärfungen des Sozialrechts) wirkten disziplinierend.

Die zunehmende Segmentierung des Arbeitsmarkts schließt Einheimische von bestimmten Jobs aus: Wenn Arbeitskräfte über rumänische Subunternehmen rekrutiert werden, kommt man als Deutscher nicht mehr rein, auch wenn man wollte – das gilt ganz ähnlich für südeuropäische Länder, in denen eine enorm hohe Jugendarbeitslosigkeit von Einheimischen mit einer hohen Beschäftigung von MigrantInnen einhergeht.

Bereits in den 1990er Jahren wurden besonders die Kinder der ersten »Gastarbeiter«-Generation und von Russlanddeutschen von den neuen ZuwanderInnen vom Arbeitsmarkt verdrängt. Früher war es ImmigrantInnen nach einer Generation meist gelungen, sich in den Arbeitsmarkt hineinzukämpfen; das ist heute nicht mehr der Fall. Für sie heißt heute sozialer Aufstieg, aufgrund ihrer Sprachnähe zu neuen Immigranten die untere Ebene einer Mafiawirtschaft zu bilden, als Hausvermieter, Kolonnenführer, Subunternehmer.3

Kämpfe

EinwanderInnen aus Osteuropa leisteten aber auch Widerstand. Zuweilen werden streikende Arbeiter in der Fleischindustrie sogar bewaffnet angegriffen, wie man hört. Die Gewerkschaften und die Kernbelegschaften haben sich an diesen Auseinandersetzungen nicht beteiligt und die Berichterstattung in den Medien als Gefährdung der Betriebe betrachtet. Sie versuchten, die Billigkonkurrenz durch systematische Schlechterbehandlung aus den Betrieben herauszudrängen. Erst seit 2012 kommen vermehrt Proteste an die Öffentlichkeit. Vielen MigrantInnen scheint die Nutzung der Medien erfolgversprechender als Arbeitsniederlegungen, die Rechtsberatung durch gewerkschaftliche und kirchliche Institutionen unterstützt sie auf diesem Weg. Zumindest die Niedriglöhne sind heute öffentlich skandalisiert. Aber in Kleinstädten, auf dem Land, in sozialen Zusammenhängen, die selber auf die eine oder andere Weise von der Ausbeutung der MigrantInnen profitiert, ist eine direkte und offene Konfrontation schwierig. Die Proteste organisieren sich deshalb meist um sprachliche oder nationale Communities herum, bzw. um darauf beruhende Kolonnen oder Subunternehmen. Vereinzelte Demonstrationen von unterstützenden Organisationen in Lohne oder Emsdetten haben nie mehr als 200 Menschen auf die Straße gebracht (siehe Wildcat 98).

Der mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit verbundene Zugang zu Sozialversicherung und Rechtsprechung bietet dem Einzelnen eine gewisse Absicherung, aber keine Gleichstellung mit deutschen Staatsangehörigen. Um zu verhindern, dass der Anspruch auf Sozialleistungen auch bei Arbeitslosigkeit eine Lohnuntergrenze definiert, schafft der Staat neue Erpressungsmöglichkeiten, indem er zunehmend Aufenthalts- und Sozialrecht verbindet. Auch für EU-Bürger gilt die Freizügigkeit nur für sechs Monate und nur solange, wie man selber für seinen Lebensunterhalt sorgt und krankenversichert ist. Erst nach fünf Jahren besteht ein dauerhaftes Recht auf Aufenthalt und Bezug von Hartz IV. Bis dahin gilt ein gestaffeltes Reglement. Arbeitnehmer ist laut Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wer mindestens 5,5 Stunden pro Woche arbeitet (was bei Mindestlohn 200 Euro pro Monat entspricht). ArbeitnehmerInnen können dazu aufstockend Hartz IV-Leistungen beziehen. Daraus erklärt sich die hohe Zahl von aufstockenden Minijobbern unter den EinwanderInnen aus den EU-2-Staaten, aber auch aus Polen: Viele arbeiten in Wirklichkeit (schwarz) Vollzeit und beziehen zusätzlich Hartz IV – wie viele »Deutsche« auch. Im Gegensatz zu ihnen können aber ImmigrantInnen aus diesem Arrangement schlecht ausbrechen: wer kündigt oder aufmuckt, riskiert, ohne Arbeit sehr schnell die Aufenthaltsberechtigung zu verlieren.

Nach einem Jahr sozialversicherungspflichtiger Arbeit folgt der Anspruch auf ein halbes Jahr ALG I, anschließend maximal sechs Monate Hartz IV zur erneuten Arbeitssuche. Viele Sozialbehörden machen bei einem Antrag auf Sozialleistungen Meldung an die Ausländerbehörde, die anschließend die Ausreise verfügt – auch bei Bürgern aus EU-Kernstaaten. Die für die Flüchtlinge proklamierte »Verzahnung« von Arbeits- und Ausländerbehörde ist hier bereits Realität. Schließlich ging der Kampagne gegen »Asylmissbrauch« durch Flüchtlinge vom Balkan eine gegen »Armutszuwanderung« aus Bulgarien seit Ende 2013 unmittelbar voraus.

Das »Erwerbspersonenpotenzial«

der Flüchtlinge

Innerhalb der herrschenden Klasse gibt es zwei gegensätzliche Pole: Der am konsequentesten von den Grünen vertretene Liberalismus fordert die Öffnung der Grenzen und will dafür sozialstaatliche Leistungen und Garantien schleifen; wer hier herkommen will, soll kommen, aber dann selber zusehen, wie er überlebt. Das andere Extrem wird in der Exekutive von den Vertretern des Tiefen Staats und auf der politischen Bühne von NPD/AFD/CSU und Teilen von SPD und CDU vertreten: Schließung der Grenzen, Verschärfung der Kontrollen, weitere Aufrüstung der »Dienste«. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der gegenwärtige Aushandlungsprozess: Aber im Ziel ist man sich einig, wie man an der Debatte um die Integrationspflicht sieht: man will aus den Zuwanderern eine Art »Turbodeutsche« machen und mit ihnen die Neuordnung des europäischen Arbeitsmarkts durchsetzen – nach innen und nach außen abgesichert durch den »Krieg gegen den Terror«.

Je nach Branche wollen die Unternehmer den Flüchtlingen unterschiedliche Rollen auf dem Arbeitsmarkt zuweisen. Das IAB geht davon aus, dass das »Erwerbspersonenpotenzial« aus Reihen der Asylbewerber 2016 um 380 000 zunehmen wird, nachdem es 2015 noch kaum gestiegen ist. (Zuwanderungsmonitor vom November 2015). Der Sachverständigenrat zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hingegen rechnet laut Spiegel Online mit einer nur allmählich steigenden Erwerbstätigkeit der heutigen Flüchtlinge, sie werde in den kommenden zwei Jahren kaum über 100 000 hinausgehen.

Mitte Oktober kam es im Unternehmerlager zum öffentlichen Streit über die Integrationspolitik. Michael Knipper vom Verband der Deutschen Bauindustrie kritisierte die »undifferenzierte Euphorie großer Teile der deutschen Industrie«. Die Bauindustrie ist eine stark zyklische, transnationale Branche mit überwiegend migrantischen Arbeitskräften. Sie setzt nicht auf das know how einer lokalen Arbeiterklasse und »Innovationsfähigkeit«, sondern auf Rationalisieren und Kostensenken durch immer schlechtere Arbeitsbedingungen. Teile der verarbeitenden Industrie sehen das anders. Sie brauchen dringend »neuen Schwung« in den Betrieben und suchen Arbeitskräfte, die noch an einen Aufstieg glauben und sich hocharbeiten wollen – Eigenschaften, die weiten Teilen der zweiten und dritten Immigrantengeneration längst ausgetrieben worden sind.

Flüchtlinge auszubilden und längerfristig an die Betriebe zu binden, erfordert nicht nur einen gesicherten Aufenthaltsstatus und Sprachförderung, sondern auch die Lösung ihrer Bindungen ans Heimatland. Wer Geld nach Hause schicken muss, kann mit dem vergleichsweise niedrigen Lohn während der Lehre wenig anfangen und macht lieber einen Aushilfsjob zum Beispiel in der Großmarkthalle, wenn dort der Mindestlohn gezahlt wird. Deshalb braucht das Kapital eine Mischung aus Druck und Angeboten. Für Flüchtlinge beginnt die »Integration in den Arbeitsmarkt« seit dem 1. August 2015 unterhalb des Mindestlohns über z. T. langfristige Praktika oder eine »Einstiegsqualifizierung« (EQ), deren Höchstdauer gerade von sechs auf zwölf Monate verlängert wurde. Mit dem Argument »mangelnder beruflicher Eignung« kann sie problemlos ausgeweitet und vor oder hinter die eigentliche handwerkliche Ausbildung von jungen Erwachsenen und Langzeitarbeitslosen geschoben werden.4 Der Druck entsteht durch die Verpflichtung zu arbeiten, um den Aufenthaltsstatus zu halten – »Verzahnung von Arbeitsagentur und Ausländerbehörde« eben!

Söldner von Frontex

Das Migrationsregime der EU kann nur funktionieren, wenn es in der Lage ist, über das eigene Territorium Arbeitsmärkte zu strukturieren. Wirtschaftliche Rahmenabkommen wie die Euro- Mediterrane Partnerschaft (EUROMED) werden von einer politisch-militärischen Kooperation begleitet. Abkommen über die militärische Sicherung der Grenzen und die Rücknahme von unerwünschten MigrantInnen enthalten auch – als »Bonbon« – temporäre und an einen Arbeitsplatz gebundene Einwanderung, wie die sogenannten EU-Mobilitätspartnerschaften mit Mittelmeeranrainern und osteuropäischen Staaten. Eine strategische Rolle spielt die Türkei als Schleusenwärter im Südosten. Auf dem G20-Gipfel in Antalya wurde ein Drei-Milliarden-Euro-Deal angebahnt, wonach die Regierung Erdoğan Syrern in der Türkei Aufenthalts- und Arbeitsrechte einräumen und gleichzeitig Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer abschieben soll. Für die stärkere Abschottung der EU-Außengrenze durch die Türkei will die EU im Gegenzug die Visapflicht für türkische Staatsbürger lockern und damit auch die Arbeitsmöglichkeiten für Türken in der EU erweitern. Solche Abkommen setzen voraus, dass alle staatlichen Akteure mitspielen, die pakistanische und die afghanische Regierung haben sich aber kürzlich geweigert, aus der EU abgeschobene Staatsbürger »zurückzunehmen«. Und einen ums politische Überleben kämpfenden Erdoğan wird noch so viel Geld nicht davon abhalten, Grenzen zu öffnen und zu schließen, Kriege anzuzetteln usw., solange es dem eigenen Machterhalt dient.

Auch die markigen Abschlusserklärungen vom EU-Afrika-Gipfel auf Malta Anfang November konnten nicht darüber hinwegtäuschen, wie wenig Kontrolle die Staaten über das globale Migrationsgeschehen haben. Das Kalkül der EU, die große Masse an Flüchtlingen in Nachbarregionen zu belassen, und von dort Menschen temporär ein- und im Bedarfsfall wieder ausreisen zu lassen, könnte höchstens dann aufgehen, wenn in diesen Regionen Arbeits- und Lebensmöglichkeiten bestünden. Dies scheint nicht nur in Nordafrika, sondern auch auf dem Balkan, etwa im Kosovo, ferner denn je. Deswegen werden immer wieder temporäre Ventile geöffnet. Seit Sommer gibt es für einige Balkanländer Anwerbeabkommen: Ab 2016 dürfen auch »wenig Qualifizierte« aus den Westbalkanstaaten bei einem konkreten Ausbildungs- oder Arbeitsplatzangebot in der BRD arbeiten – wenn sie bis zum 24.10. ihren Asylantrag zurückgezogen haben und ausgereist sind.

Chancen auf Verallgemeinerung?

Arbeiterarbeit, also allgemeine Arbeit mit den Händen – egal ob in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der Industrie – wird zunehmend von migrantischen ArbeiterInnen gemacht. Das gilt weltweit wie auch in der EU. Die MigrantInnen ertragen diese Jobs, weil sie Schlimmeres gewohnt sind. Gemeinsame Kämpfe mit ihren KollegInnen sind schwierig, wenn sie benutzt werden, um die Bedingungen allgemein abzusenken – und noch schwieriger, wenn die »Besserverdienenden« von ihrer Überausbeutung profitieren. Kämpfe von Migrant-Innen gab es in den letzten Jahren vor allem dort, wo sie auf Arbeit praktisch unter sich sind, in der Landwirtschaft und der Logistikbranche Italiens. In der BRD mit den regulierten und vielfach abgestuften Zugängen zum Arbeitsmarkt hat es sehr viele Konflikte, aber noch kaum größere Kämpfe von MigrantInnen gegeben.

Im letzten Jahr haben die Flüchtlinge aber nicht nur die Regierung zu einem Kurswechsel gezwungen und die vielen Hunderttausend HelferInnen politisiert, sie haben durch ihre schiere Masse auch wieder Themen wie Lohn, Arbeitsbedingungen, Wohnungsfrage… zu öffentlichen Themen gemacht. Keine dieser Fragen ist ein Selbstläufer, alle sind umkämpft. Der Staat erzeugt z. B. in der Versorgung mit Wohnungen Konkurrenz, indem zwar wieder Sozialwohnungen gebaut werden, dann aber zuerst für Flüchtlinge. Deswegen sind Kämpfe um Wohnraum und die aktuellen Besetzungen so enorm wichtig! Es geht um bezahlbaren Wohnraum für alle. (siehe im Bericht zum Kongress in Potsdam den Punkt zu Hausbesetzungen)

Ein weiteres Beispiel sind Großunterkünfte in Randbezirken mit schlechter Verkehrsanbindung und schlechter Versorgung mit KiTas, Schulen, Ärzten usw. Dagegen versuchen sich oft Initiativen Gehör zu verschaffen, die sich manchmal widersprüchlich artikulieren. Die in den letzten Monaten zu medialer Prominenz gelangte Initiative »Nein! zur Politik – Ja zur Hilfe« im Hamburger Vorort Neugraben ist ein Beispiel für eine pragmatische Opposition gegen eine solche Flüchtlingspolitik. In ihrer betonten Abgrenzung gegen Rassismus unterscheidet sie sich deutlich von Pegida-Verlautbarungen. Die Linke muss zuweilen richtig hinhören, bevor sie in solchen Fällen den Faschismusvorwurf zückt.

Die mancherorts tatsächlich vorhandene Hegemonie der Rechten baut auf eine große soziale Verunsicherung, die nicht allein auf materielle Verluste zurückzuführen ist. Die verschärfte kapitalistische Konkurrenz zersetzt auch die gewohnten sozialen Netze und das persönliche Lebensumfeld. Selbstverständlich ist gegen die kulturelle Hegemonie der Rechten klare »antifaschistische Kante« notwendig. »Kulturkampf« reicht aber nicht; wir müssen aus dem sozialen Antagonismus heraus weitergehende Handlungsperspektiven entwickeln. Die Möglichkeiten dazu sind durch die massenhafte Ankunft der Flüchtlinge besser als in den letzten Jahren! Wir können auch die Fragen beackern, die durch die Flüchtlinge wieder zu öffentlichen, gemeinsamen, sozialen Fragen geworden sind. Die radikale Linke kann außerdem Impulse geben, indem sie mit der Unterstützung migrantischer Kämpfe die Begrenzung auf die Community zu überwinden hilft – dabei sind auch selbstorganisierte Sprachkurse nützlich! Der Widerstand gegen Abschiebungen und für ein Aufenthaltsrecht ist eine Voraussetzung, damit sich Kämpfe entwickeln können. Es geht dabei aber weniger um juristische Titel als um den Widerstand gegen Repression, gegen Überwachung, gegen Razzien in Vierteln und auf der Arbeit. Wo auch immer wir die Flüchtlinge unterstützen, werden wir mit dem Staat konfrontiert – er macht je nach Situation Integrationsangebote oder schlägt repressiv zu. Beiden Optionen können wir nur entgegentreten, wenn wir von den Bedingungen der gesamten Klasse ausgehen – und wenn klar ist, dass wir selber uns keinesfalls in den Staat integrieren wollen.
Stand: 18.12.2015

Fußnoten:

[1] »1988 überstieg die Kurve der Asylgesuche erneut die Marke von 100.000. Sie kletterte im Jahr der europäischen Revolutionen 1989 auf ca. 120 000, erreichte im vereinigten Deutschland 1990 ca. 190 000, 1991 sogar fast 260 000 und 1992 schließlich fast 440 000, wobei es sich nun allerdings in hoher Zahl um Flucht- und Minderheitenwanderungen aus Ost- und Südosteuropa, vor allem um Flüchtlinge aus dem Raum von Ex-Jugoslawien, aber auch um Roma aus Rumänien handelte. Bereits 1987 waren die Aussiedlerzahlen scharf angestiegen.
Sie übersprangen 1988 knapp die Marke von 200 000, erreichten 1989 fast 390 000 und 1990 schließlich fast 400 000. Hinzu kam in Westdeutschland die nunmehr legale Zuwanderung aus der in Agonie liegenden DDR bzw. dann den neuen Bundesländern: 1989 kamen fast 390 000 und 1990 rund 395 000 Menschen. Die Zahlen sanken im Folgejahr nur auf knapp 250 000, dann auf knapp 200 000 im Jahr 1992 und auf rund 172 000 im Jahr 1993, um sich schließlich 1994 bis 1997 zwischen 160 000 und 170 000 Menschen jährlich zu stabilisieren.« Bundeszentrale für Politische Bildung(2005): Anstieg der Asylgesuche 1988-1992

[2] Zum Entsendegesetz ausführlich Wikipedia: Arbeitnehmer-Entsendegesetz

[3] Die Welt, 15.11.2015, Flucht in den Arbeitsmarkt: Einwanderer konkurrieren kaum mit Einheimischen. Aber umso mehr mit früheren Migranten

[4] Was ist im »Asylbeschleunigungsgesetz« beschlossen worden?

  • - Einstufung der »Westbalkanländer« als sichere Herkunftsstaaten
  • - Sachleistungen in den Erstaufnahmeeinrichtungen statt Bargeld
  • - Beschleunigung von Abschiebungen: Künftig darf nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise der Abschiebungstermin nicht angekündigt werden. Maximal darf eine Abschiebung nur noch drei statt sechs Monate ausgesetzt werden. Die Länder können damit Abschiebungen kaum noch aufgrund politischen Drucks aussetzen.
  • - Leiharbeitsverbot für Asylbewerber sowie Geduldete entfällt nach drei Monaten, wenn es sich um Fachkräfte handelt, für geringer Qualifizierte erst nach 15 Monaten
  • - Zuschüsse des Bundes für Sozialwohnungsbau und Übernahme von Kosten für Unterbringung
  • - Erleichterungen beim Baurecht (Brandschutz(!) und Wärmedämmung)
  • - Verzahnung von Arbeits- und Migrationsministerium. Der Datenaustausch zwischen den Behörden soll nicht mehr der Aufdeckung von »Missbrauch« staatlicher Leistungen dienen, sondern der Überprüfung, ob sich Asylbewerber bemühen, zu arbeiten. Das Arbeitsamt soll die Daten zum Verfahrensstand nutzen, um je nach Einschätzung zu fördern, zu fordern oder ganz fallen zu lassen.
 
 
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