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07.02.2016

aus: Wildcat 99, Winter 2016

Ende von etwas oder Beginn einer neuen Epoche?

Seit der Machtübernahme der Opposition in Argentinien und Venezuela diskutiert die Linke über das Ende der »Ära der Linksregierungen« in Lateinamerika. Die meisten versuchen dabei, Bilanz zu ziehen und abzuwägen, wohin die Reise geht. Raúl Zibechi aus Uruguay analysiert in seinem Text »La Centralidad del conflicto social« vom Januar 2016 die Lage ganz ähnlich wie wir: Die sozialen Konflikte haben sich in den letzten Jahren quer zur Einteilung in Länder mit »progressiven« versus »neoliberalen« Regierungen zugespitzt – und zwar über die seit Jahren bekannten Bewegungen (gegen Bergbauprojekte, Monokulturen und Infrastrukturprojekte) hinaus. Erste Symptome einer Krise, die vor allem die Lohnabhängigen betreffe, aufgrund von Arbeitslosigkeit, steigender Preise und einer Prekarisierung der Arbeit. Eine Krise, die schon bestehende Konflikte verändere und zu neuen Bewegungen führe. Die Kämpfe sind die wirkliche Grenze der »neuen Regierungen«.

Zibechi belegt seine These mit einem Überblick über neuere Kämpfe: Streiks der ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst in Ecuador, eine neue Frauenbewegung in Argentinien, die Studentenbewegung in Paraguay, die einen Generalstreik nach sich zieht, an dem sich auch Bewegungen der urbanen Peripherien beteiligen; in Uruguay eine Bewegung gegen ein Streikverbot im Erziehungswesen; die Wiederbelebung der Studentenbewegung in Brasilien, die Widerhall in den Favelas findet (übrigens kämpfen dort immer wieder die AutoarbeiterInnen - durchaus mit Erfolg); die Solidarität mit den Verschwundenen in Mexiko... Seine Behauptung, die Bewegung in Potosi/Bolivien sei gegen den Extraktivismus gerichtet, mag objektiv stimmen – im folgenden Text gehen wir näher auf die inneren Widersprüche dieser Bewegung ein (vor dem Hintergrund der Krise des »Entwicklungsmodells Extraktivismus«).

Im Juni hatten wir in der Wildcat 98 die Frage aufgeworfen, was passiert, wenn den linken Regierungen Lateinamerikas die Einnahmen wegbrechen, weil die Rohstoffpreise fallen und es gleichzeitig zu neuen Kämpfen kommt. Dies wollen wir am Beispiel Boliviens konkretisieren.

Potosí / Bolivien: An den Grenzen des extraktiven Entwicklungsmodells

Bolivien, Potosí, Sommer 2015

Mehrere Streiks, mehrere Demonstrationen mit über 130 000 Menschen auf den Straßen einer Stadt mit 170 000 EinwohnerInnen. Auch die Zufahrtsstraßen sind blockiert. Einige hundert Mineros sind in die Hauptstadt La Paz gezogen – und kloppen sich dort mit der Polizei; auf der Plaza Murillo, vor dem Regierungssitz explodieren Dynamitstangen, am Innenministerium zersplittern Fenster. Organisiert werden die Proteste vom »Bürgerkomitee« in Potosí, die Protestierenden fordern die Einlösung von Wahlversprechen der Regierung Morales von 2009, im wesentlichen Investitionen in die Infrastruktur. Die Regierung Morales spricht von »Putschisten«, »Rechten« und/oder vom Ausland finanzierten Protesten, und mobilisiert offen die umliegenden Dörfer und Landgemeinden gegen die Ansprüche »der Städter«.

Potosí, August 2010

Drei Wochen lang geht in Potosí fast gar nichts. Streiks, geschlossene Geschäfte, blockierte Zufahrtsstraßen, immer wieder gehen mehr als 100 000 Menschen auf die Straße. Die Stromzulieferung der größten Mine in der Region, betrieben von einem japanischen Konzern, wird besetzt und unterbrochen. Ein »Bürgerkomitee« koordiniert die Proteste, es geht um die Einlösung von Wahlversprechen der Regierung Morales von 2009 – eine Zementfabrik, die Inbetriebnahme der Blei/Silber-Schmelze vor den Toren Potosís, die Absicherung des Cerro Rico, den Bau eines Flughafens...

Immer wieder Potosí?

Das »Departamento Potosí« mit knapp einer Million EinwohnerInnen gehört noch immer zu den ärmsten in Bolivien und es ist eines der wenigen Departamentos in Bolivien, in dem die Mehrheit der Bevölkerung noch auf dem Land lebt; Potosí ist die einzige größere Stadt. Historisch war sie das Zentrum der Ausbeutung der Minen – politisch ein Zentrum der Mineros und ihrer Kämpfe. Die Unterstützung für die Regierung Morales war hier immer hoch und sie ist es noch immer. Aber seit 2010 wächst auch die Unzufriedenheit.

Steigende Weltmarktpreise hatten auch die Minen rund um Potosí wieder profitabel gemacht: Zink, Zinn, Silber, Blei, Kupfer, Wolfram... 2010 wurden hier über 80 Prozent der in Bolivien ausgegrabenen Metalle gefördert, der überwiegende Teil von multinationalen Unternehmen, der Rest von privaten Kleinunternehmen (fälschlicherweise »Kooperativen« genannt), die z. B. Stollen im Cerro Rico an entlassene Mineros der staatlichen Minen verpachten. Das Besteuerungs-/Abgabensystem dieser Metalle ist hier für die Unternehmen generell deutlich vorteilhafter als bei Öl und Gas. Bei sinkenden Weltmarktpreisen liegen die Abgaben wieder so niedrig wie während der »neoliberalen« Epoche. D. h. nur ein Bruchteil der Einnahmen bleibt in Potosí.

Dies mag zu der verbreiteten Stimmung beitragen, dass vom »Proceso de Cambio« bei den Menschen der Region wenig ankommt. Und es ist die Basis, auf der sich das Bürgerkomitee zum Organisator dieser breiten Unzufriedenheit machen kann.

Bröckelnde Hegemonie der Regierungspartei

Bürgerkomitees – Zusammenschlüsse von Unternehmerverbänden, Kleinunternehmern, Lehrerverbänden, Frauenverbänden, Selbstständigen, auch Gewerkschaften – waren historisch Instrumente der Mittel/Oberschicht und der Unternehmer; mit diesen Netzwerken hatten sie unabhängig von der aktuellen Regierung immer Leute an den richtigen Stellen. Oder sie konnten die eigenen Interessen gegen linke Regierungen absichern. Auch die rechte Opposition gegen Evo Morales ist nach 2005 zu einem guten Teil aus diesen Bürgerkomitees heraus organisiert worden. Das macht es der Regierung leicht, die Bewegung in Potosí in die rechte Ecke zu stellen.

Die Zusammensetzung der Bürgerkomitees hat sich allerdings in den letzten zehn Jahren verändert, sie sind breiter und offener geworden. In dieser Entwicklung spiegelt sich auch die Krise der linken, der Basisbewegungen. Denn der MAS von Evo Morales hat fast alle gesellschaftlichen Kanäle besetzt bzw. haben sich nach 2005 fast alle irgendwie einbinden lassen (siehe Wildcat 98, S. 46). Wenn heute von »sozialen Bewegungen« die Rede ist, meint das fast immer die regierungstreuen Gruppen – und so werden die Bürgerkomitees zum Sprachrohr einer Kritik, die sonst fast keinen Raum mehr findet.

Noch sieht es so aus, als hätte die Regierung die Situation im Griff: Ende Juli wurden die Streiks in Potosí und die Proteste in La Paz ohne konkrete Ergebnisse abgebrochen. Die Wahlen für ein von der Regierung eingebrachtes neues »Autonomiegesetz« wurden in vielen Regionen zu einer Protestwahl gegen die Regierung Morales. Momentan strickt die Regierung an einer Kampagne für eine Verfassungsänderung, da sie eigentlich nicht mehr antreten dürften.

Fallende Rohstoffeinnahmen – mehr Kämpfe?

Politisch hoffen viele noch auf einen Umschwung innerhalb des »Proceso de Cambio« der Regierung Morales, bzw. dem MAS. Sie setzen auf die Kräfte innerhalb des MAS, die nicht weiter zusehen wollen, wie z. B. wieder mit rechten Kräften paktiert wird, um Machtpositionen abzusichern, und gleichzeitig jede Kritik von links als rechtsgerichtet denunziert wird. Ob sich aber die Kämpfe an solche Überlegungen halten? Allerdings müssten sie sich sowohl von der Hegemonie des MAS, als auch von Interessengruppen wie den Bürgerkomitees befreien und die eigenen Bedürfnisse obenan stellen.

»Kapitalismus in der Peripherie bedeutet heute Anti-Kapitalismus auf globaler Ebene«, behauptet A. Soliz Rada, Minister für Rohstoffe der ersten Regierung Morales; denn »Staatskapitalismus« sei der einzige bislang gefundene Weg für die Länder des Südens, aus der Unterdrückung durch die entwickelten Länder raus, hin zu einem »lateinamerikanische Sozialismus«, einem wirklichen »Vivir Bien«. In diesem Gefasel steckt ein Körnchen Kritik an der Regierung Morales, weil z. B. japanische Firmen aus den Minen von Potosí jedes Jahr eine Milliarde Gewinn herausholen und nur ein Bruchteil davon im Land bleibt. Auch die Subventionierung der Soja-Industrie im Tiefland, die in den letzten Jahrzehnten um 500 Prozent zugenommen hat und immer mehr proletarisierte KleinbäuerInnen beschäftigt, sei Teil einer Politik, die die bäuerlichen Familienbetriebe in einem Ausmaß schwäche, dass Basisgüter importiert werden müssen – und den »Staatskapitalismus« zurückdränge. Um so wichtiger sei nun die »Revitalisierung der nationalen Entwicklung«.

Die »Nationalisierung« der Minen / Rohstoffe war und ist für die Regierung Morales tatsächlich der zentrale propagandistisch-politische und ökonomische Hebel: alles der Ausbeutung von Metallen, Gas/Öl und Agrargütern unterzuordnen und dies als »notwendigen Zwischenschritt« in eine Gesellschaft des »Buen Vivir«, des »Guten Lebens« auszugeben. Doch die sinkenden Weltmarktpreise für Rohstoffe haben die Einnahmen einbrechen lassen. Mit mehr Investitionen in den Rohstoffabbau, mit einer höheren Fördermenge sollen die sinkenden Preise ausgeglichen werden. Das führt letztlich dazu, dass der Haushalt immer weniger durch Steuern aus Rohstoffexporten gedeckt werden kann und vermehrt auf »interne« Steuererhöhungen zurückgegriffen wird: 2014 soll der Haushalt nur noch zu knapp 30 Prozent aus Steuern und Abgaben auf Rohstoffe bestanden haben – der Rest seien »nationale Steuern« gewesen, darunter an erster Stelle die Mehrwertsteuer, die besonders ArbeiterInnen und die armen Teile der Bevölkerung trifft. Das CEDIB (Centro de Documentación e Información Bolivia) kommt zum Schluss: »Unsere Ökonomie hat von einem System, das von Rohstoffen lebt, zu einem System gewechselt, das die weitere Ausbeutung der Rohstoffe aufrechterhalten soll« (CEDIB, La tragedia extractivista, 2015). Der »Staatskapitalismus« von A. Soliz Rada hat keine eigene ökonomische Grundlage, Bolivien ist zutiefst in den globalen Kapitalismus eingebunden.

Der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« ist – mal wieder – am Ende, bevor er ans Ziel kam: In Argentinien ist wieder eine liberal/konservative Regierung an der Reihe, in Brasilien scheint die Regierung Rousseff zwischen sinkenden Rohstoffeinnahmen, Korruption, Streiks und einer stärker werdenden »Rechten« unterzugehen, in Venezuela hat die Opposition – was »rechts wie links« überraschte – Anfang Dezember gar eine Zweidrittelmehrheit bei den Parlamentswahlen erreicht. Hier wird sich zeigen, ob sich die viel beschriebenen Basisbewegungen mobilisieren, ob ohne das »populistisch/chavistische« Korsett ein neuer Schwung aufkommt.

Die Arbeiterklasse in diesen Ländern wird von solchen Regierungswechseln nichts zu erwarten haben außer einem veränderten Kampfterrain. Die linken Regierungen haben die Bewegungen demobilisiert, die sie ins Amt gehoben hatten. Aber die breiten (Streik-)Bewegungen der letzten Jahre, in Lateinamerika vor dem Hintergrund fallender Rohstoffeinnahmen, machen Hoffnung, dass sie den »neuen rechten Regierungen« die Grenzen aufzeigen bzw. ihre eigene Agenda weiterentwickeln werden. In Argentinien hat es Mitte Dezember bereits breite Demonstrationen gegeben, die Lohnerhöhungen forderten, da die geänderte Wechselkurspolitik der neuen Regierung die Reallöhne senkt. Immanuel Wallerstein formulierte in seinem Kommentar vom 1. Dezember ganz trocken: Die (Rohstoff)Krise und die Kämpfe werden der neuen Rechten die Bedingungen vorgeben.

Derweil hat sich der »Staatskapitalismus«, der »Sozialismus in einem Land«, mal wieder als Illusion linker Intellektueller erwiesen.

 
 
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