wildcat.zirkular

10.03.2020

aus: Zirkular 7, September 1994

Maschinen können keinen Wert schaffen

George Caffentzis

Mitte August hat George Caffentzis vom Midnight Notes Collective im Rahmen des Projekts KraftWerkSommer '94 in Zürich eine Diskussionsveranstaltung gemacht zum Thema: Können Ma­schinen Wert produzieren? Wir haben seinen Vortrag übersetzt, weil er hier in kompakter Form seine eigene Geschichte und die politische Ent­wicklung von Zerowork und Midnight Notes anhand dieser Frage darstellt. Er ar­beitet gut die welt­weit zunehmende Ausweitung von Lohnarbeit und Arbeit über­haupt heraus und entzieht den ganzen Theorien den Boden, die sich "postmoder­ni­stisch" von der Klasse abwenden. Denn alle diese Theorien setzen implizit vor­aus, daß der Wert auch auf andere Art als durch menschliche Arbeit produ­ziert werden kann. Demgegenüber macht er ganz klar, daß die Produktion von Wert der unaus­löschliche antagonistische Widerspruch des Kapitalismus ist, will man das eine zerstören, muß man das andere ebenfalls zerstören.

An einigen Punkten finden wir seine Darstellung allerdings schwach oder irre­füh­rend. Nicht mal so sehr seine "mathematische Widerlegung" der Vorstellung, Ma­schinen könnten Wert produzieren − die könnte als Gag noch durchgehen. Aber sie hängt zusammen mit einigen widersprüchlichen politischen Konsequenzen, die im Midnight Notes-Begriff der "New Enclosures" stecken. So behauptet George Caf­fentzis in seinem Text, wer heutzutage von "globalem Kapitalismus" spreche, neh­me den Sieg des Klas­senfeindes vorweg. Der Begriff "New Enclosu­res" ist als hi­storische Parallele sehr fruchtbar und anregend: Er weitet den Blick auf die Entstehung des Kapitalismus im England des 16. Jahrhundert (wir selbst haben uns mit unserer Krisentheorie gerade mal ins letzte Jahrhundert vorgearbeitet − sie­he Zirkular 1 und 2) und behauptet, daß heute weltweit ähn­liche Umwälzungen stattfinden. In seinen praktischen politischen Konsequen­zen bleibt dieser Be­griff aber sehr schwammig und beliebig, was auch in der anschließenden Diskus­sion in Zürich wieder deutlich wurde, wo Leute den Be­griff so verstehen, daß man seine eigene Nischenökonomie aufbauen solle, um dem kapitalisti­schen Angriff ausweichen zu können.

Da sich noch einige andere politische Positionen (die uns allerdings längst nicht so nahe stehen!) auf verkürzte und mystifizierende Vorstellungen vom Wert beziehen, brin­gen wir im An­schluß an diesen Text eine Kri­tik des Werts.

Wir haben bei der redaktionellen Arbeit an diesem Zirkular übrigens gemerkt, daß oft der "innere Zusammenhang" der Zirkulare nicht so recht gesehen wird. Deshalb hier noch der Hinweis: Guckt Euch nochmal die Kritik der "Aufheben" im Zirku­lar 6 an (die sich übrigens wiederum auf sehr viele Diskussionsstränge in den vorhergehenden Zir­kularen beziehen!). Hier erstmal Caffentzis' Text.

»Es wird Maschinen geben, die die Arbeit einfacher machen, aber zuerst muß man hart arbeiten, um eine zu haben« (Biefer/Zgraggen, Prophezeiungen)

1. Eine persönliche Einleitung

Da ein "Kraftwerk" eine Maschine ist, genaugenommen eine der frühesten Versionen einer fast vollautomatischen Maschine, ist es für "Kraft­Werk"er angebracht, darüber nachdenken, was Maschinen machen können (und was nicht). Meine Überle­gungen zu diesem Thema sind in gewisser Weise eine Ausarbeitung der von mir als Motto vor­ange­stellten "Kraft­werks"prophezeiung. Eine echte Prophezeiung bezieht sich ja niemals nur auf die Zukunft und ist immer auch eine ARt Selbst-Reflexion. Ich beginne deshalb mit meiner eigenen Maschinengeschichte.

Vor dreißig Jahren veröffentlichten die Students for a Democratic Society (SDS, der organisatorische Ursprung der Neuen Linken in den USA) mit der "Erklä­rung von Port Huron" ihre Analyse des Kapitalismus. Diese hatte einen bedeu­ten­den Einfluß auf meine politische Entwicklung als Teenager und irgendwie fangen auch meine Gedanken über Maschinen da an. Der Hauptgedanke in der Erklärung von Port Huron ist, daß es zwei in wechselseitiger Beziehung stehende Krisen gibt: eine der Automatisierung und eine des Rassismus.

Der Zusammenhang zwischen den Krisen wird so erklärt, daß der Kapitalismus die Produktion zuneh­mend automati­siere, somit die strukturelle Ar­beitslosigkeit vergrößere, was wiederum die Spaltungen nach Rassen in den USA verschlimmere. Der SDS zog lediglich aus der Diskussion jener Zeit poli­tische Schlußfolgerungen. Es galt die An­nahme, daß die zunehmende Me­chanisierung (mit den Worten von Hanna Arendt) zu einer Masse von "überflüssigen Menschen" führen würde. Der Kapitalismus könne ohne Arbeit auskommen und wirklich über den Bedarf nach Arbeit hinauswachsen. In der Konse­quenz werde die Fähigkeit der Arbeiterklasse, das Kapital zu bekämpfen, zunichte gemacht.

Mitte der 70er Jahre nahm die Analyse für mich eine Wende, als ich zusammen mit anderen GenossInnen die Zeitschrift Zerowork gründete, um die "Krise" jener Zeit zu untersuchen. Ich wurde mit einem politischen und einem theore­tischen Paradoxon kon­frontiert: Auf der einen Seite meinte Zerowork, daß die notwendige Arbeits­zeit in der Produktion gegen Null tendierte, und auf der anderen Seite begannen wir, die gewaltige Menge unentlohnter Arbeit (vor allem Frauenarbeit) zu erkennen, welche in die Mehr­wertproduktion einging. Lief der Kapitalismus auf einen Null- oder einen 24 Stunden-Arbeitstag hinaus? War der Grund der Krise, daß die notwendige Arbeit auf Null zuging oder das Unvermögen, der unentlohnten Arbeit den erforderlichen Mehrwert abzupres­sen?

Nach langen Diskussionen, Spaltungen und Seelenerkundungen reagierten einige von uns, die eine neue Zeitschrift namens Midnight Notes gegründet hatten, auf dieses Para­doxon mit einer Art Fundamentalismus. Wir gingen zu den Grundlagen zurück und erkannten, daß der Kapitalismus zwar Industrien entwickelte, in denen die Rate des "relativen Mehrwerts" (das Verhältnis von Maschinerie zu lebendiger Arbeit) auf Un­endlich zustrebte, das aber gleichzeitig die enorme Ausweitung der Produktion "absolu­ten Mehrwerts" (wo das Verhältnis von Maschinerie zu lebendiger Arbeit nach Null tendierte) zur Bedingung hatte, um den genug Mehrwert für jenen Griff nach den Ster­nen sicherzustellen. In den Worten der Propheten ausgedrückt, ging es darum, Maschi­nen zur Ab­schaffung der Arbeit (in einigen unruhigen oder wichtigen Industrie­zweigen) zu bekommen, aber das machte zuerst härtere Arbeit (in vielen anderen Zweigen) not­wendig. Folglich mußte der große Bereich der unentlohnten Arbeit ef­fektiver ausgebeu­tet werden, da hier absoluter Mehrwert in seiner reinen Form (paradigm form) vorliegt. Unser Meinung noch würden nicht steigende Löhne, Arbeitszeitverkürzung und abneh­mende Be­legschafts­zahlen, sondern genau der umgekehrte Trend anstehen. Die zuneh­mende Me­chanisierung in einigen Produktionszweigen würde zu mehr, und nicht weni­ger, Arbeit auf diesem Planeten führen.

Das nächste Teil des Puzzles fand ich in Nigeria, wo ich zwischen 1983 und 1988 lebte und arbeitete. Ich erkannte, daß ein großer Teil der Weltbevölkerung immer noch Zu­gang zu Subsistenzmitteln hatte und sich erfolgreich der Tendenz zur Ausbeutung der am wenigsten mechanisierten Regionen der Erde und zur Arbeitsteilung wider­setzen konnte. Ich war in der Zeit von Schuldenkrise und Strukturanpassung in Nigeria und konnte so deutlicher erkennen, wie viele Maßnahmen von Weltbank und IWF eine endgültige Enteignung der ländlichen Bevölke­rung Afrikas bewirken sollten. Diese hatte der Kapitalisierung ihres produktiven und reproduktiven Lebens bisher wider­standen. Anstatt sie einfach "sein" zu las­sen oder weiter ihre vermeintlichen Projekte einer ma­schinenintensiven Akkumula­tion fortzuführen, scheinen die internationalen Planer eifrig darauf bedacht, die Bauern vom Land in die Städte Afrikas und noch weiter weg zu treiben, um sie für unentlohnte oder sogar Sklavenarbeit verfügbar zu machen. Warum ist das not­wendig?

2. Eine historische Anmerkung

Meine Ansichten unterschieden sich jedenfalls von der scheinbar unumstößlichen Mei­nung, daß die zunehmende Mechani­sierung des Kapitalismus die Arbeit für das kapitali­stische System überflüssig machen würde. Einzelne Theoretiker wie Habermas in Deut­schland, Lyotard in Frankreich und Negri in Italien und die mit ihnen zusammenhän­genden intellektuellen Bewegungen wie die "kritische Theorie", der "Postmodernismus" und die "Arbeiterautonomie" sahen eine neue Form von Kapitalismus mit einer völlig neuen Beziehung zu Arbeit, Wert und Mehrwert voraus.

Aber gerade so wie die anwachsende kapitalistische Akkumulation in den 40er und 50er Jahren des vorigen Jahrhun­derts Zweifel an Nassau Seniors [Vulgärökonom, den Marx u.a. im Kapital, Bd.1 Kap.7, kritisiert] Behauptung aufkommen ließen, daß die Kapitali­sten den Gr­oßteil ihrer Profite verlieren würden, wenn die Zehn­stunden-Gesetze durch­kä­men, stellt auch die hartnäckige Wei­gerung der mei­sten kapi­talistischen Staaten seit den 60er Jahren, den Arbeitstag wesent­lich zu verkürzen, die Annahme in Frage, der Kapi­talis­mus habe keinen Bedarf mehr an der Fähigkeit des Proletariats, Wert zu erzeu­gen. Tatsächlich haben die Kapitalisten in den USA seit der Energiepreiskrise von 1973/74 das Arbeits­jahr um etwa 10 Prozent verlängert und die Masse der Lohnarbeite­rInnen drastisch er­höht, indem sie durch neue Gesetze die Immi­gration ankurbelten und weit mehr Frauen beschäftigten. Diese Zunahme sowohl der Dauer wie der Masse der Arbeit innerhalb der letzten Generation in den USA − und wenn wir einige allgemeine Indikatoren betrachten, so gilt das auch international − geschah vor dem Hintergrund einer beispiellosen Erhöhung des technologi­schen Ein­satzes (von der Roboterisierung industrieller Arbeit über die Com­puterisierung der Büroarbeit bis zur Ein­führung von bio­technologischen Methoden bei der Arbeit in der Landwirtschaft). Die populäre An­sicht, der Begriff des "Proletari­ats" sei "unzeitgemäß" und deswegen eine Analyse vom Standpunkt "sozialer Bewegungen" und "gegen das System gerichteter Kräfte" notwen­dig, wird durch die heutige Realität tatsächlich in Frage gestellt. Die Ereignisse seit 1973 haben unsere fundamentalistische Wertanalyse ebenso bestä­tigt, wie die oft ver­zweifelten Versuche von Nationalstaaten und internatio­nalen Agenturen wie dem IWF und der Weltbank, mehr und mehr Menschen in den inter­nationa­len Arbeitsmarkt ein­zubinden und die Verwandlung von Arbeitskraft in Arbeit unter kapitalistischen Bedin­gungen zu intensivieren und auszudehnen. In der Tat haben wir genau die entgegen­gesetzten Schlüsse aus dieser Periode gezogen wie die Postmodernisten. Wir beschrei­ben diese Periode als eine von "neuen Enclosures" (en­closure: Einzäunung, Einhegung), womit gemeint ist, daß die Kämpfe gegen die Durch­setzung der Warenform und gegen Enteignung in den drei Ausbeutungsregionen die sozialistischen, postkolonialistischen und keynesiani­schen Staaten zerstörten. Dies hat zu einer Phase der Enteignung von den Subsistenzmit­teln oder -garantien geführt, das heißt dem Versuch, die Warenform auf der ganzen Welt durchzusetzen, aber nicht als Form der endgültigen, unabänderlichen Ausbreitung des Kapitalismus sondern als verzweifel­ten Verteidigungsversuch.

3. Theoretische Auseinandersetzung

Aber warum haben sich die anspruchsvollsten AnalytikerInnen der letzten Genera­tion geirrt? Eine Ursache für diesen Irrtum könnten wir in ihrer Annahme sehen, daß Ma­schinen (und/oder Tiere) Wert schaffen können, also auch Mehrwert. Eine solche Sicht­weise findet sich nicht nur bei den Ökonomen, die behaup­ten, das Kapital (als Maschi­nen und/oder Tiere) produziere den Wert des Pro­dukts. Sie erscheint implizit oder explizit auch bei vielen, die mit einer marxistischen Analyse des Kapitalismus begannen und jetzt der Meinung sind, daß es irgendwann im 20. Jahrhundert eine qualitative Veränderung in der kapitalistischen Akkumulationsweise gegeben habe. Einige, wie zum Bei­spiel Toni Negri, finden sogar ideologische Unterstützung in geheiligten marxi­sti­schen Texten wie dem "Fragment über die Maschinen" in den Grundrissen, andere wie Donna Haraway erklären, da es nichts vom Wesen her Menschliches gäbe, oder über­haupt nichts vom Wesen her Irgendwieartiges, sei jeder Versuch, eine Theorie zu ent­wickeln, die zwischen Maschinen und Menschen unterscheidet, unweigerlich zum Sch­weitern verurteilt. Wenn Maschinen Wert schaf­fen könnten, wären die Szenarien der qualitati­ven Veränderung des Kapitalismus (wie Postmodernismus, post-industriel­le Gesellschaft usw.), des Abtretens der Klassen und des "Abschieds vom Proletariat" sowie der zentralen Bedeutung des einer Analyse der "sozialen Bewegungen" sicherlich gerechtfertigt.

Aber ist diese Annahme korrekt? Laßt mich zuerst eine altbekannte Unterscheidung treffen: Reichtum ist nicht gleich Wert. Tatsächlich können in einer kapitalistischen Gesellschaft Reichtum und Wert in großem Gegensatz zueinander stehen. Ich behaupte also nicht, daß Maschinen keinen Reichtum produzieren könnten, genausowenig wie ich behaupte, daß Tiere dazu nicht in der Lage seien.

Nachdem wir diesen Vorbehalt aus dem Weg geschafft haben, würde ich jetzt gerne die Konsequenzen verdeutlichen, die sich aus der oben genannten Annahme ergeben, und zeigen, daß sie zu einem Widerspruch führen. Eine Maschine überträgt während des Produktionsprozesses ei­nen Teil ihres Werts auf das Produkt. Im Laufe ihrer Lebens­dauer überträgt sie so ihren gesamten Wert. Aber kann sie, zusätzlich zu diesem über­tragenen Wert, auch Wert schaffen? Laßt uns annehmen, es gäbe eine Branche, in der die Maschinen Wert schaffen. Der Wert der Maschine ist niedriger als der Wert, der durch die Maschine auf das Produkt übertragen wird. Das heißt, in der regulären Lauf­zeit solcher Maschinen gibt es dank dieser Maschinen einen regel­mäßigen, bestimm­baren Zusatzwert. Falls dies zuträfe, gäbe es zwei Quellen des Mehrwerts: (a) den Mehrwert, der durch die Differenz zwischen den Kosten für die Reproduktion der ArbeiterIn und dem Wert, den ihre Arbeitskraft produziert, ent­steht, (b) den Zusatzwert, den die Maschine auf das Produkt überträgt. Was ist der Unterschied zwischen den beiden? Der Mehrwert ist keine notwendige Folge des Einsatzes von Arbeitskraft. Seine Realisierung ist das Ergebnis des Kampfes zwischen der ArbeiterIn, die diese Kraft verkörpert, und ihrem Besitzer, dem Boss. Notgedrungen gibt es keinen notwendigen Mehrwert. Die Ge­schichte des Klassenkampfes kann in diesem Spannungsverhältnis begriffen werden.

Aber was ist mit der Maschine? Hier hängt der Zusatzwert mit dem Einsatz der Ma­schine zusammen, die natürlich auch nicht mehr gegen die Produktion von Mehrwert kämpfte als gegen die Übertragung von Wert auf das Produkt. Deshalb müßte die­ Scha­ffung des Zusatzwerts so mechanisch und regelmäßig ablaufen wie die Übertragung des Werts, das heißt, es müßte einen konstanten Zusatzwert geben. Wenn wir aber anneh­men, daß es eine regelmäßige, mechanische Wertproduktion durch eine Maschine gibt, dann müßte dies zu einer Wertproduktion führen, die in relativ kurzer Zeit zur Unend­lichkeit tendiert. Nehmen wir einfach mal an, daß eine Maschine, die im ersten Stadium C(0) den Wert K hat und nach dem ersten Ge­brauchszyklus C(1) den Wert K+rK pro­duziert, wobei r zwischen 0 und 1 liegt. Wenn dieses Ergebnis dann wieder in einen weiteren Zyklus C(2) eingeführt wird, lautet das Ergebnis K+rK+r(K+rK) oder

C(2) = K(1+r)²

während

C(2) = K(1+r)³

und allgemein

C(2) = K(1+r)n

Das heißt, wir erhalten eine klassische Formel für Zinseszinsen, die sich schnell der Unendlichkeit nähert, selbst wenn r relativ klein ist. Wenn zum Beispiel r zehn Prozent beträgt und wir durch 25 Produktionszyklen gehen, ergäbe die gesamte Produktion beinahe das Zehnfache der ursprünglichen Investition.

Mit anderen Worten, wir erhielten eine automatische Form der Akkumulation, die schl­eunigst die Variationen des Mehrwerts ausradieren würde, die mit Kämpfen um die Länge des Arbeitstags und Reallöhne einhergehen, und die schnellstens jegli­che gegebe­ne Profitrate in der nichtmechanischen Industrie übertreffen würde. Als Folge davon würde diese Industriebranche ein Level der Mehrwertproduktion garantieren, das un­abhängig wäre von dem Mehrwert, der in anderen Zweigen ge­schaffen wird. Aber ein solches "weißes Loch" der kapitalistischen Akkumulation ist ein Stück Zauberei, auf das nur Anhänger der unendlichen Ponzi-Schemen oder der "Magie der Zinseszinsen" hoffen. [Ponzi ist ein Erfinder von sog. Piloten- oder Schneeballspielen, bei denen Leute eine bestimmte Summe Geld einzahlen und dann z.B. fünf Andere suchen, die ihnen die Summe zahlen, welche wiederum jeweils fünf Leute ansprechen, die ihnen Geld geben usw. - entwickelt sich exponential, bis es zusammenbricht] Es existiert nicht, genausowenig wie Systeme, deren Output mehr Energie oder weniger Entropie enthält als ihr Input.

4. Archaische Wissenschaft für archaischen Kapitalismus

Die im vorangegangenen Ab­schnitt benutzte Form der Ableitung, ist den Methoden von Jahrhundert-Physikern wie Helmholtz und Car­not nachempfunden, die so die grundle­genden Grenzen der Theorie der Ther­modynamik de­finierten. Sie gingen vom Nachweis aus, daß bestimmte Ma­schinen unmöglich sind (weil sie die einleuchtendsten Er­kennt­nisse verletzten), und begründeten damit die Ge­setze der Ener­gieerhaltung und der wachsenden Entropie. So konnten durch den Verzicht auf die "Magie" der Maschinen die Quellen der maschinellen Arbeit und Effizienz isoliert werden. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, daß Marx diese Argumentationen kannte und bei seiner Formulierung der Werttheorie von Maschinen davon beeinflußt war. Es ist hier nicht der Ort, um diesen Punkt zu diskutieren, aber ein damit verbundener Ein­wand soll­te festgehalten werden. Nämlich, wenn Marx die Entwicklung der Thermo­dynamik Mitte des 19. Jahrhunderts genau kannte und einen großen Teil seiner Maschinen­theorie dar­auf basierte, warum sollten Kritiker des Kapitalismus im ausgehenden 20. Jahrhun­dert diese Theorie ernstnehmen? Schließlich ist die Phy­sik in neue große konzep­tio­nelle und methodologische Bereiche vorgedrungen seit die "grauen Bärte" der Ther­modynamik den Widerspruch zwischen Carnot und der Energierhaltung endgültig auf­gebrochen haben. Bieten Relativitätstheorie, Quan­tenmechanik und Chaostheorie nicht bessere und interessantere Einsichten, um die zeitgenössische Post-Realität besser zu verstehen als der arbeits- und elends­geprägte Marxismus? Ökonomen wie Phillip Mirowski fordern ihre Kollegen der neo­klassischen Ökonomie auf, ihr Ver­trauen in überholte (und falsch­verstandene) phy­sikalische Theorien aufzugeben und etwas Neues auszuprobieren. Ein ähnlicher Standpunkt wurde von Post-Marxi­sten und "Systemtheoretikern", die früher mit dem Marxismus symphatisierten, eingenommen.

Schön, warum nicht? Die Antwort ist einfach. Unsere Realität wurzelt immer noch in der Vergangenheit. Wir können nicht über die Kategorien Arbeit, Wert, Geld, Mehrwert, Ausbeutung, Kapital, Krise und Revolution hinausgehen, weil der Kapi­talismus immer noch existiert. Sicher, es gibt jetzt vieles, was es Mitte des 19. Jahrhunderts nicht gab, aber ist das ein entscheidender Unterschied? Antwor­ten auf sol­che Fragen sind, natür­lich, komplex, aber wer könnte wirklich behaup­ten, daß 1994 Geld, Arbeit, Löhne, Profit, Zins und Miete nicht wirklich von Bedeu­tung sind? Halten wir uns einen ein­fachen Punkt zum Vergleich mit dem 19. Jahrhundert vor Au­gen, zum Beispiel die Frage des Arbeitstages. 1994 ist der Acht­stunden-Tag in weiten Teilen der USA noch immer nicht gesetzlich festgelegt. Mit anderen Wor­ten, wenn der Arbeitgeber von Dir verlangt, mehr als acht Stunden zu arbeiten, kannst Du das in den meisten Fällen nicht verweigern, ohne ihm/ihr einen legiti­men Grund zu bieten, Dich zu feuern, was heißt, Dir selbst zu schaden.

In der Tat, wenn Selbst-Beschreibungen für den Beschreibenden wichtig sind, an­statt diese Periode "Postmoderne" oder "globalen Kapitalismus" zu nennen, haben wir von Midnight Notes sie als "New Enclosures" bezeichnet. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen diesen Definitionen. "Postmodere" ist ein ironischer Kom­mentar oder eine Ergänzung der Totalisierung der Warenform, während "globaler Kapitalismus" die internationale Arbeitsteilung betrachtet, in der alle Bestand­teile des Planeten (Arbeits­kraft, natürliche Ressourcen, Wasser, Land usw.) in die Artikulation der kapitalistischen Produktion einfließen. Beide aber gehen davon aus, daß der Prozeß der Totalisierung weitgehend abgeschlossen ist, oder der Abschluß tendenziell sichtbar wird. Deswegen orten sie die Gegenwart als Endpunkt des Systems, als Aspekte des "Spätkapitalismus". Aber um die Waren­form vollständig zu totalisieren und einen wirklichen globalen Kapi­talismus her­zu­stellen, muß jeder von seinen − alten und neuen − Subsistenzmitteln enteignet wer­den. Das erfor­dert einen scharfen Angriff auf die Überlebenden dieser Erde [subsisters, die von Subsistenzmitteln leben], der an die alten En­closu­res im 16. Jahr­hundert erinnert. Das ist besonders dann richtig, weil die Zeit zwischen 1945 und 1973 ein Rückzug der Warenform, und eine Blockade der Akkumulation in Afrika, Osteuropa und Asien war. Dieser Rück­zug ging Mitte der 70er offensichtlich soweit, daß der Prozeß der Auflösung der Staaten (Keynesia­nismus, postkolonial und kommunistisch) begann, die zwischen dem Kapitalismus und der Unzufriedenheit austarieren sollten.

Das bedeutet, weit entfernt vom tendenziellen Ende der Arbeit, die neuen Maschi­nen benötigen einen enormen Anstieg des "hart Arbeitens", um diese Maschinen im kapita­listischen Sinn möglich zu machen, und diese Arbeit muß auf der Grundlage von ge­waltsamer Enteignung auferlegt werden, geschrieben in den unauslöschlichen Buch­staben von 'Feuer und Blut', wie ein alter Prophet schrieb.

5. Abschließende Prophezeiungen

Was soll man also über die Maschine "Kraftwerk" sagen im Kraftfeld der Neuen En­closures? Seine Betreiber sollten aufpassen, daß sie sich nicht ideologisch einschließen lassen. [Wortspiel mit "enclosures" und "enclose"= einschließen, einzäunen] Denn aufgrund ihres politischen Charakters müssen die Neuen Enclosures immer gleichzeitig an beiden Polen der kapitalisti­schen Arbeitshierarchie ansetzen. Daraus folgt ihr doppel­gesichtiges, verfängliches Wesen, das an das Gebräu von wissenschaftlichem Rationa­lismus und religiö­sem Verfolgungswahn erinnert, das charakteristisch war für die Alten Enclosures im 16. Jahrhundert, und das sich am drastischsten in den Prozessen während der Hexenjagd jener Zeit ausdrückte. Die Reagan­periode war ein schönes Beispiel für diese Ideologie der Neuen Enclosures, die ein Gemisch zusammenbraute aus Compu­ter/Gentechnik/Supraleitfähigkeit/kalter Fusion/virtuel­ler Realität - neoliberalen Kapitali­sten und christlichen Fundamentalisten. Das war eine Periode, die Silvia Federici und ich eine von "Mormomen im Weltall" genannt haben. Die Art von gleichgerichteter, positivistischer Ideologie, welche die keynesianische Periode mit ihrem totalisierenden Bestehen auf Effektivi­tät und Produktivität auszeichnete, ist heutzutage vorbei.

Jedes Projekt, das sich gegen die Neuen Enclosures stellt − und derer sind vie­le, denn die große Mehrheit der Men­schen auf dem Planeten sind dazu verurteilt, ihren Zugang zu den Subsistenzmitteln zu verlieren, wenn sie nicht den Kampf dagegen aufnehmen − kommt in die Versuchung, einen der offensichtlich widerspre­chenden Pole gegen den anderen ausspielen zu wollen. Daher die häufigen Versu­che, die individualistische, warenförmige, universalistische Karte gegen die fundamentalistische, lokalistische aus­zuspielen oder umgekehrt. Diese Versuche führen unweigerlich zu den eingeschlossenen [enclosed] Oppositionspolitiken die­ser Periode. Kraftwerk wird unweigerlich in dieser einschließenden [enclosing] Versuchung gefangen. Dem sollte widerstanden werden. Als wandernder Hellseher sehe und prophezeie ich.

Zürich, im August 1994

 
 
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