Die Rassismusfalle
An dieser Stelle sollte eigentlich ein längerer Beitrag über »Rassismus und Klassenkampf« folgen. Aus technischen, aber auch aus inhaltlichen Gründen ist das nicht möglich gewesen, und im Moment sieht es nicht so aus, als ob in der nächsten Zeit das ursprünglich geplante Papier noch Gestalt annimmt. Die folgenden Anmerkungen sind aus dem bisherigen Entwurf herausgenommen worden. Vielleicht werden zu einem späteren Zeitpunkt noch andere Teile zu Einzelaspekten fertig.
Sackgassen der Rassismusdiskussion
Wer sich etwas intensiver in die theoretische Diskussion und Literatur hineinbegibt, wird sehr bald feststellen können, daß darin »Rassismus« gleichermaßen und immer mehr zu einem Ersatz- und Kampfbegriff wird: Ersatzbegriff dahingehend, daß unter »Rassismus« vieles zusammengefaßt wird, was auch mit anderen Begriffen hinlänglich erfaßt und benannt werden kann; Kampfbegriff insofern, weil der Rassismus - ähnlich wie früher Kapitalismus, Imperialismus, Arbeiterklasse und nationale Befreiungsbewegungen - zu einem Zentrum geworden ist, um das herum sich politische Richtungen der Linken definieren. Erschwerend kommt hinzu, daß »Rassismus« in vielen theoretischen Beiträgen nur als Anwendungsfall für theoretische Modelle genommen wird, die es schon gab und die ebenso auf andere soziale Phänomene zutreffen. Daß alle möglichen Leute »am Thema Rassismus« noch einmal beweisen wollen, daß sie über eine schlüssige Gesellschaftstheorie verfügen, ist zwar verständlich, macht aber weder diese Theorien besser, noch wird mehr Klarheit über den Rassismus geschaffen. Im Prinzip unterscheiden sich in dieser Frage die Linken nicht von den professionellen Wissenschaftlern, Philosophen und Sozialpsychologen.
Ich glaube nicht, daß sich »Rassismus« zum Kampfbegriff und erst recht nicht zu einem Zentralbegriff von Gesellschaftsanalyse eignet. Im Gegenteil tut man letztlich dem Rassismus damit einen Gefallen, wenn man dieser Form einer »totalisierenden« Ideologie, nur in umgedrehter Weise, »totalisierende« Thesen und Theorien entgegensetzt - ein Verfahren, das einzig und allein der Selbstidentifikation nützt und sich selbst in Gestalt einer kollektiven »Identität« in Szene setzt. Dabei ist es egal, ob diese kollektive »Identität« die »Klasse« ist - was auch immer darunter verstanden wird - oder ein anderes, eher humanistisch begründetes, nicht-rassistisches oder antirassistisches kollektives Subjekt. Auch auf die Gefahr hin, von einigen mißverstanden zu werden, gebe ich zu, daß ich mich von derartigen Aufgeregtheiten und Posen innerhalb der Linken genauso abgestoßen fühle wie andere, die manchmal durchaus zurecht dem Antirassismus vorwerfen, er diene letztlich nur der eigenen moralischen Selbstbestätigung. Das sagt nichts gegen die Motive und Ziele des linken Antirassismus aus, wohl aber gegen die Politik des guten und schlechten Gewissens, in der vor allem die radikale Linke - mit den bekannten Solidarisierungszwängen - eine Meisterin ist, die den Kirchen nur in wenigem nachsteht.
Dabei schließe ich auch nicht diejenigen aus, die sich, wiederum in der Pose einer imaginären Klasse, auf dasselbe Glatteis begeben und im Namen eines Klassenkampfes als Prinzip den Rassismus derart relativieren, daß er sich in einen entfremdeten Protest von ArbeiterInnen, die ja »eigentlich« etwas anderes zu tun haben, faktisch auflöst. Beide Seiten haben aufschlußreiches Material zur Rassismusdiskussion beigetragen, aber ich denke, daß es neu angeordnet werden muß, daß dem inneren Zwang, alles um Zentralfragen, Zentralfiguren usw. herum anzuordnen, widerstanden werden muß. Den Klassenbezug herzustellen, bedeutet zunächst einmal nur, daran festzuhalten, daß Emanzipation als soziale Befeiung letztlich nur durch die Klassenkämpfe hindurch erreicht werden kann; was aber eben nicht heißt, daß sie sich darin erschöpft. Insofern kann und muß die »Klassen-Linke« die Rassismusdiskussion für sich selber fruchtbar machen, indem sie daraus für sich einen differenzierten Begriff von Klassenkampf und historischen Klassen gewinnt, der wirklich dem zugrundegelegt werden kann, was Karl Heinz Roth »Sozialismus als offenes System« genannt hat. Sie sollte sich jedenfalls nicht davon abhalten lassen, in dieser kritischen Weise dem Rassismus innerhalb der Arbeiterklasse nachzugehen, auch wenn die linke Rassismusdiskussion mittlerweile zu großen Teilen zu einer umgedrehten Klassendiskussion geworden ist, worin die »Klasse« in ihrer Gesamtheit zum rassistischen Subjekt der Geschichte mutiert.
Die Rassismusfalle
Eine der Eigenarten des Rassismus besteht darin, daß er dazu tendiert, seinen Gegnern die eigene Logik aufzuzwingen. Die spontane Gegenwehr in ideologischen wie praktischen Konfrontationen besteht zwangsläufig darin, sich auf die Seite derjenigen zu stellen, die zum Objekt des Rassismus - in Theorie und Praxis - werden. Das ergibt sich alleine dadurch, daß der Rassismus in all seinen Varianten solche Konfrontationen herstellt, also entlang seiner eigenen Logik Fronten zieht, die man zwar entlarven und demaskieren kann, die aber real gegen Menschen zielen. Die spontane Gegenwehr entlang dieser Front ist nicht nur verständlich, sie ist auch notwendig. Sie schützt die betroffenen Menschen - Juden, ImmigrantInnen usw. -; im besten Falle kann sie auch mit dazu beitragen, daß sich diese unmittelbaren Opfer rassistischer Politik und Aktionen wehren und selbst organisieren. Dennoch bleibt es zunächst dabei, daß hier die Grenzziehung, die durch den Rassismus vorgenommen wird, zunächst bestehen bleibt. Noch nicht einmal die Selbstorganisierung von Flüchtlingen oder Juden kann diese Grenzziehung durchbrechen. Sie kann allerdings die unmittelbare körperliche Bedrohung mindern und vielleicht durch Gegenwehr einigen Akteuren des rassistischen Mobs klarmachen, daß sie es mit Subjekten zu tun haben und daß diese Subjekte dem Objekt des Rassismus wenigstens darin nicht entsprechen, daß sie nur ewig Geschlagene sind. Soweit handelt es sich um Kampfsituationen, die sich aus der alltäglichen Praxis ergeben, die sozusagen vom Gegner aufgezwungen werden und in denen heute noch nicht einmal alles ausgeschöpft worden ist, was an Gegenwehr entwickelt werden kann und muß. Um solche Situationen zu bestehen und das Notwendige zu tun, braucht es keinerlei theoretische Erörterung, und der praktische Antirassismus tut gut daran, sich hier keinerlei Legitimation aufzwingen zu lassen.
Etwas anderes dagegen sind die politischen Schlußfolgerungen und Erklärungen, die sich - sei es als Legitimation, sei es als weiterführende Perspektive - hieran anschließen. Das, im wörtlichen wie übertragenen Sinne, »Schwarz-Weiß«-Schema des Rassismus wird allzu schnell übernommen, die rassistische Konstruktion und Spaltung für bare Münze genommen. Der Identitätszwang, dem der Rassismus unterliegt, überträgt sich auf den Antirassismus im selben Moment, wo aus der Not eine Tugend gemacht wird und die rassistische Spaltung der Gesellschaft faktisch als die entscheidende Trennungslinie anerkannt wird. Es stellt sich dann sogar noch der Fehler ein, die reale Immigration und die Flüchtlinge als diejenigen Faktoren anzusehen, auf die der Rassismus reagiert. (Nicht von ungefähr häufen sich Beiträge und Diskussionen über »Migration und Rassismus«, während das naheliegende Thema des Antisemitismus als »innerer Rassismus« mehr oder weniger gemieden wird.) Der Fehler besteht darin, daß »Immigration« für den Rassismus in erster Linie keine reale Bedeutung hat, sondern die Bedeutung eines Symbols und einer Metapher, die mittlerweile in den Redeweisen den früheren Stellenwert von »Rasse« eingenommen hat. (Es gibt auch andere, wie: »die Kriminalität«) Der Antirassismus läuft also dann in die »Rassismusfalle«, wenn er sich auf das Objekt des Rassismus als eine soziale Realität bezieht, die nur verdreht bzw. ideologisiert interpretiert wahrgenommen und interpretiert würde. Damit kommt dem Rassismus eine Würdigung zu, die er nicht verdient, und der entscheidende Punkt, daß das Objekt des Rassismus eine Konstruktion ist, die erst in zweiter oder dritter Linie irgendetwas mit den wirkklichen Subjekten zu tun hat, gerät in den Hintergrund. Der innere Mechanismus des Rassismus wird also nicht aufgebrochen, nicht durchkreuzt, sondern unfreiwillig bestätigt.
In einer anderen Weise findet dieser Fehler seine Fortsetzung in der Suche nach Erklärungen für die sozialen Grundlagen des Rassismus. Was man früher innerhalb der Linken »Ökonomismus« genannt hat, also die Zurückführung und damit Reduzierung außerökonomischer Phänomene auf angebliche ökonomische Gesetzmäßigkeiten oder soziale Klassenlagen, wiederholt sich in entgegengesetzter Weise: Auf der einen Seite in den Thesen, daß der Rassismus eine adäquate Ideologie bestimmter Klassenteile (die »Kleinbürger« oder »die weißen Facharbeiter«) sogar der gesamten Arbeiterklasse (die »weiße Metropolenklasse«) sei; auf der anderen Seite in dem Standpunkt, der Rassismus sei etwas in die Arbeiterklasse Hineingetragenes, also letztlich eine bloße Erscheinungsform von etwas anderem, wesentlichem - des Klassenkampfes, womöglich nur als beiläufige Verirrung oder Verwirrung. Im ersten Fall haben wir es mit nichts anderem zu tun als dem Versuch, dem Rassismus im nachhinein noch eine rationelle Grundlage zu veschaffen; wobei das rassistische Selbstbild zum Muster einer Gesellschaftsanalyse wird. Soziale Spaltungen, die der Rassismus zunächst in seiner Ideenwelt herstellt, um sie dann - als rassistischer Mob und in progromartigen Verhältnissen oder aber im Normalfall rassistischer Politik - erst praktisch durchzusetzen, können dann schon gar nicht mehr kritisiert werden. Sie geben stattdessen die Trennungslinien gesellschaftlicher Klassenlager wieder: Dieser, antirassistisch begriffene, soziale Antagonismus ist selber rassistisch konstruiert.
Rassismus als soziale Frage
Was nun die zweite Variante theoretischer Erklärungen betrifft, so ist die darin immer wiederkehrende Gegenüberstellung von Rassismus und sozialer Frage so ziemlich das Unfruchtbarste, was sich in der Rassismusdiskussion ergeben kann. Es wird so getan als gebe es eine Wohnungsfrage, eine Arbeitsplatzfrage oder Lohnfrage, also genau in der Art und Weise, in der die bürgerliche Politik sozial bewegte Verhältnisse in Abstraktionen verwandelt, um sie sich zum eigenen Objekt zu machen. Ungewollt begibt man sich so auf das Niveau einer Klassenanalyse, die das Klassenhandeln vom Niveau der materiellen Bedürfnisbefriedigung abhängig macht, eine Art umgedrehte Verelendungstheorie, in der nunmehr der Rassismus und Rechtsradikalismus zur unmittelbaren Konkurrentin der Linken wird. Es ginge darum, so heißt es dann, die soziale Frage nicht den Rechten zu überlassen. Die »soziale Frage«, in dieser abstrakten Weise gestellt, ist aber nichts anderes als die Frage nach den Bedingungen kapitalistischer Wohlfahrt des Proletariats. Und auf der Suche nach Antworten auf diese Fragestellung ist jede Linke - ob revolutionär oder reformistisch - dem Rassismus und Rechtsradikalismus hoffnungslos unterlegen.
Die »Klassen-Linke« unterscheidet sich vom Rechtsradikalismus und Rassismus nicht in den Antworten auf die »soziale Frage«, sondern in der Fragestellung selber, also in der Frage nach den Bedingungen sozialer Befreiung, Emanzipation im Sinne eines Kommunismus als »realer Bewegung« innerhalb der sozialen Kämpfe. In der Allgemeinheit, wie der Klassenkampf zunächst begriffen werden muß, entwickelt er aus sich heraus nicht zwangsläufig oder historisch-notwendig eine Perspektive, die über das Grundverhältnis von Arbeiterklasse und Kapital hinausweist. Er stellt ArbeiterInnen, Indivdiuen wie Gruppen, soziale Zusammenhänge, vor Entscheidungen und vor eine Wahl, aber nicht einmalig und voraussetzungslos. Diese jeweiligen Entscheidungen, wie Abgrenzungen und Ausgrenzungen vorgenommen werden, wo Freund und Feind ist, wird nicht unter frei gewählten Bedingungen, sondern unter gegebenen Voraussetzungen, Traditionen und innerhalb vorhandener gesellschaftlicher Haltungen getroffen. Nicht angeblich »reale Probleme« oder die »Krisen« bestimmen das individuelle wie kollektive Handeln, sondern die Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden, was die eigenen Normen und Maßstäbe sind, nach denen Bewertungen vorgenommen werden. Im orthodoxen Klassenbegriff der marxistischen Tradition erscheint die »Klasse« wie ein leeres Gefäß, in das am laufenden Band - und beschleunigt in den Krisen - die sogenannten Erfahrungen hineinlaufen. Soziale Erfahrung stellt sich aber umgekehrt erst durch die Konfrontation der bereits vorhandenen Vorstellungen, Normen und Maßstäbe - zum Beispiel von »sozialer Gerechtigkeit« - mit neuen Bedingungen her. Erfahrung ist dann möglicherweise auch gleichbedeutend mit Veränderungen, Anpassung oder auch mit der Radikalisierung dieser Vorstellungswelt. Soziale Probleme sind nur soweit »real«, wie diese Vorstellungen und jeweiligen Wahrnehmunsformen selber Teil der gesellschaftlichen und Klassenrealität sind. Von einer gesellschaftlichen »Krise«, die mehr ist als nur die willkürliche oder naturwüchsige Stockung in der ökonomischen Reproduktion, kann also nur insoweit gesprochen werden, wie diese Formen gesellschaftlicher Wahrnehmung in eine Krise geraten, wie die Orientierungspunkte der bisherigen Vorstellungen entweder verschwinden oder verschoben werden. Wertvorstellungen, wie des Staates als fürsorglichem Souverän oder von sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit, wandeln sich in den sozialen Auseinandersetzungen ebenso, wie sie in auseinandergehende Richtungen radikalisiert werden. Der »Klassenkampf« ist deshalb in Wahrheit sowohl allgemeines Grundverhältnis von Arbeiterklasse und Kapital wie auch der konkrete Zusammenhang sehr verschiedener, grundsätzlich aber »offener« Entwicklungsstränge in der »Umwertung der Werte«, auch ein Kampf um gesellschaftliche Anerkennung, der sich immer gleichzeitig im Gegensatz zum Kapital und Staat vollzieht wie innerhalb der »Klasse« selber.
In diesen alltäglichen wie gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ist der Rassismus eine von mehreren Identitätsbildungen, und in seinem mobilisierten Stadium ist er eine der Arten, wie reaktionäre Normen und Werte radikalisiert werden, um die eigene Stellung innerhalb der sozialen Auseinandersetzungen zu definieren. Die Spaltungen, die derart konstruiert und durchs eigene Verhalten auch faktisch hergestellt werden, haben in erster Linie mit dieser Selbstidentifikation zu tun, also die soziale Wirklichkeit nach dem eigenen Bilde modeln zu wollen und zu müssen; und erst in zweiter Linie beziehen sich diese Spaltungen auf vorhandene soziale Hierarchien, Unterschiede und Ungleichheiten. Rassistische und andere Spaltungslinien innerhalb der »Klasse« wie innerhalb der gesamten Gesellschaft sind reale Verhältnisse und selber Faktoren in dem, was Klassenzusammensetzung genannt wird - unter der Voraussetzung, daß die sogenannte politische Klassenzusammensetzung auch in ihren »kulturellen Vermittlungen« begriffen wird. Karl Heinz Roth hat insofern recht, wenn er von rassistischen Überlagerungen des proletarischen Konstitutionsprozesses spricht. Freilich ist das nur mit der Ergänzung richtig, daß das von ihm so genannte »re-making« eines neuen, weltweiten Proletariats eine Tendenz innerhalb der Klassenauseinandersetzungen ist, während sogenannter proletarische Nationalismus und Klassen-Rassismus die entgegengesetzte Seite darstellt.
Beide Seiten schließen sich nur dann aus, wenn die Arbeiterklasse - in welcher begrifflichen Konstruktion auch immer - weiterhin als homogenes Subjekt unterstellt wird oder aber davon ausgegangen wird, es müsse dazu werden. Letzteres, also die stillschweigende oder ausdrückliche Suche nach einem historischen Sinn, der in der Existenz der Arbeiterklasse liegt und über den Kapitalismus hinausweist, findet sich bei Karl Heinz Roth immer noch wie bei anderen Vertretern der »Klassen-Linken«. Wenn man schon die sehr mißverständliche - und mißbräuchliche - Formulierung vom »revolutionären Subjekt« aufnimmt, dann kann sich dieses gar nicht aus einer Homogenisierung der Arbeiterklasse ergeben, weil einzig und allein deren kapitalistische Existenz die Homogenität garantiert. An der Feststellung, daß die Herausbildung eines »revolutionären Subjekts« nur durch massive Spaltungs- und Polarisierungsprozesse innerhalb der Arbeiterklasse (überspitzt formuliert: ihre Zerstörung als Arbeiterklasse des Kapitals) zustande kommen kann, kommt man deshalb gar nicht vorbei. Nur sind das nicht mehr die Spaltungslinien, die der Rassismus quer durch die Arbeiterklasse zieht.
Martin Rheinlaender, Hamburg