Wildcat-Zirkular Nr. 16 - Juni 1995 - S. 15 [z16vietn.htm]


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Vietnam in Berlin?

 

Krawalle bei Razzia gegen Vietnamesen
Fünfundzwanzig Beamte verletzt / Küchengeräte als Wurfgeschosse
In Berlin sind bei einer Razzia in einem vor allem von Vietnamesen bewohnten Ausländerwohnheim am Donnerstag Abend 25 Polizisten verletzt worden, einer von ihnen schwer. Es hieß, auch mehrere Heimbewohner hätten Verletzungen erlitten. Nach Angaben der Polizei vom Freitag war es während der Razzia gegen vietnamesische Schwarzhändler zu schweren Zusammenstößen gekommen. Sechs Vietnamesen seien festgenommen worden, gegen zehn habe man Strafverfahren eingeleitet.
Eine »aggressive Menge« von Vietnamesen habe Beamte von Polizei und Feuerwehr mit Steinen und Flaschen sowie mit 'Hausgeräten wie Mikrowellen, Kochtöpfen und Feuerlöschern aus den Wohnblöcken heraus gezielt' angegriffen, hieß es in einer Pressemitteilung der Polizei. Fünfundzwanzig Beamte seien schwer verletzt worden, darunter einer so schwer, daß er im Krankenhaus habe bleiben müssen. Nach Angaben des Vietnamesen-Hilfsvereins 'Reistrommel' wurden mehrere Heiminsassen zum Teil schwer verletzt. Ein Kind sei mit schwerer Atemnot durch Tränengas ins Krankenhaus gekommen, ein Mann habe eine Herzanfall durch Schockeinwirkung erlitten.
Der Polizei-Einsatz in dem Heim, das als Zentrum des Schwarzhandels mit unverzollten Zigaretten gilt, habe sich hauptsächlich gegen den illegalen Handel mit Lebensmitteln gerichtet. Nach den Angaben der Polizei hatten Einsatzkräfte zunächst 'einen ganz normalen Polizei-Einsatz' auf dem Gelände des Heims begonnen. Ziel sei die Unterbindung des illegalen Lebensmittelhandels gewesen, der unter hygienisch unzureichenden Bedingungen getätigt worden sei. Als ein Bewohner unter nicht näher geklärten Umständen zusammenbrach, kam es zu den Gewalttätigkeiten.
(FAZ 6.5.95)

 

Am 4. Mai 1995 umstellten die Bullen einen von VietnamesInnen bewohnten Häuserblock in der Ostberliner Rhinstraße. Vorwand war eine Razzia gegen Lebensmittelhändler aus den Heimen, die dort ihre Landsleute versorgen. Die Bullen nahmen aber nicht nur HändlerInnen fest, sondern verhafteten wahllos, auch Leute mit Papieren, schlugen ein paar zusammen, ein Vertragsarbeiter wurde ohnmächtig in der Wanne und lag 20 Minuten da, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte. Als sich das Gerücht verbreitete, daß es einen Toten gegeben habe, flogen Sachen aus den Fenstern, die Bullen prügelten los, um dem Krankenwagen Platz zu machen, der dann doch noch eintraf, Gehwegplatten wurden geknackt und die Bullen mit Broken eingedeckt, die holten Verstärkung, Tränengas im ganzen Hof Prügeln, Festnahmen... Nach den Hungerstreiks von AsylbewerberInnen, Besetzungen und Aufständen in Lagern und Knästen war dies meines Wissens das erste Mal, daß sich Leute kollektiv gegen eine Razzia zur Wehr setzten. Wir haben dazu ein paar Informationen zusammengetragen:

Es gibt mehrere Gruppen von MigrantInnen aus Vietnam in Berlin und der Umgebung. Nach Westberlin kamen zuerst in den 80er Jahren die sogenannten boat people, also Flüchtlinge aus dem sozialistischen Vietnam. Sie erhielten als »politisch korrekte«, sprich: »anti-kommunistische Flüchtlinge« Eingliederungsmaßnahmen in die westberliner Arbeitswelt/Ausbeutung, Deutschkurse, Facharbeiterausbildungen usw., ähnlich wie die »Spätaussiedler« aus den anderen sozialistischen Ländern. Viele von ihnen landeten ziemlich bald in uns bekannten Fabriken und setzten schnell durch, so behandelt zu werden wie die »ansässigen« Türken, Kurden, Deutschen usw., einige eröffneten Läden mit vietnamesischen Lebensmitteln usw.. Fast alle von ihnen leben noch heute in Westberlin.

Die zweite Gruppe sind die »Vertragsarbeiter«, also über staatlich vermittelte Kontrakte in die DDR gekommene ArbeiterInnen. Gegen Ende hatte die DDR kaum noch Devisen, um Ersatzteile für Maschinen im Ausland zu kaufen. Die einheimischen Maschinenarbeiter weigerten sich, die Maschinen selbst zu reparieren. Die Arbeiter aus Vietnam waren den Umgang mit älterer Maschinerie gewöhnt, improvisierten die Reparatur und arbeiteten damit weiter. Auch sonst mußten sie Arbeiten machen, die die Einheimischen verweigerten.

Die meisten von ihnen kamen erst 1987/88 in die DDR, es galt als Privileg, ins sozialistische Bruderland reisen zu dürfen, zum Malochen, versteht sich, z.B. Gleisbau bei der Reichsbahn. Diese Arbeitskräfte wurden in Vietnam nach sozialer Unauffälligkeit und Zuverlässigkeit in der Arbeit ausgesucht, damit sie ihrem Heimatland im Ausland keine Schande bereiten und für einen guten Ruf sorgen. Einige erhielten eine Facharbeiterausbildung (3 Jahre), andere eine zum Werkmeister (5 Jahre). Sie waren, ähnlich wie die Kollegen aus Mosambik und Angola und im Gegensatz zu den StudentInnen etwa aus Kuba, stark isoliert in rigide kontrollierten Wohnheimen untergebracht, wo nur Landsleute wohnten - diese Isolierung wurde wohl nur selten durchbrochen. Inzwischen haben etwa drei Viertel von den etwa 15.000 VertragsarbeiterInnen eine Aufenthaltsbefugnis erhalten, die alle zwei Jahre verlängert werden muß und bei Straftaten usw. verweigert werden kann. Die meisten wohnen noch immer in Ostberlin.

Die dritte Gruppe sind die ohne ausreichende Papiere: Das restliche Viertel der VertragsarbeiterInnen hat sich beim Zigarettenverkaufen oder anderen Bagatellen erwischen lassen und sitzt jetzt ohne Befugnis da. Zu diesen kommen VertragsarbeiterInnen, die in anderen RGW-Staaten gearbeitet hatten und nach den Umbrüchen in Osteuropa die Chance nutzten, nach Deutschland zu kommen. Sie wurden hier nicht anerkannt. Und dann gibt es viele AsylbewerberInnen, die erst jetzt kommen oder nach Vertragsende in Vietnam waren und jetzt wieder nach Deutschland fuhren, weil die Familie die Abfindung verbraucht hat oder es z.B. zu wenig war für die Existenzgründung. Viele sind auch einfach neugierig, was sich hier alles verändert hat, seit sie hier waren. Sie leben meist ohne Genehmigung in den ab 1990 kaum noch kontrollierten Heimen, während manche der ehemaligen VertragsarbeiterInnen, die die Legalisierung geschafft hatten, sich andere Wohnungen suchten. Das scheint ein wichtiger Teil der jetzigen Zusammensetzung in den Heimen zu sein, und mehrheitlich diese haben sich jetzt wohl gewehrt.

Die westberliner boat people grenzen sich von den beiden anderen Gruppen ab, die Vertragsarbeiter von den Asylbewerbern, weil sie um die jeweils schon erreichte Integration oder zumindest Duldung fürchten. Das Bild der Vietnamesen in der Öffentlichkeit wird von ZigarettenverkäuferInnen geprägt, die Bullen unterscheiden nicht besonders, wen sie vor sich haben.

Die besondere Organisiertheit, die sich jetzt bei den Auseinandersetzungen im Wohnheim Rhinstr. gezeigt hat, beruht auf mehreren besonderen Voraussetzungen, die viele andere MigrantInnengruppen nicht haben: Sie leben im Wohnheim, nicht im Lager oder einer Privatwohnung. Alle im Wohnheim sprechen dieselbe Sprache. Viele wohnen schon länger da, sie haben Erfahrungen, sind »etabliert«. Die Rotation der Zusammensetzung ist langsamer als deren Fähigkeit, sich zu organisieren. Die Organisierung läuft stark über den Aufbau einer eigenen Ökonomie in den Heimen: Es gibt alle Arten von Dienstleistungen, Schneider, Friseur, Lebensmittelhändler usw.. Und es war sicher nicht nur ein Vorwand, daß die Razzia der Bullen u.a. mit mangelnder Hygiene und Schwarzhandel von Lebensmitteln begründet wurde.

Die Ostberliner Vietnamesen kommen heute unter Druck durch zwei verschiedene staatliche Tendenzen, die sich allerdings bestens ergänzen, wie der gute Bulle und der böse Bulle:

Innenminister Kanther will alle ohne ausreichende Papiere hier lebenden Vietnamesen abschieben. Seit einiger Zeit gibt es in den Heimen immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dem Zigarettenhandel, bei denen auch einige Male Menschen getötet wurden. Aus diesen Schießereien wird das Bild einer straff organisierten Mafia konstruiert, und die VerkäuferInnen auf der Straße werden dann damit gleichgesetzt und es wird Hetze gegen sie getrieben. Die Bullen nehmen das als Einladung, richtig draufzuhauen, was sie bei uns nicht immer dürfen. Der Berliner Innensenat will die Heime schärfer kontrollieren, sie aber erhalten, damit alle greifbar sind, wenn die große Abräume für die Rückführung ansteht.

Seit letztem Jahr gibt es eine staatliche Kampagne gegen die ZigarettenverkäuferInnen, die sich u.a. in Abgreifen auf der Straße, Razzien in den Heimen, einer organisierten Pressekampagne (in der BZ vom 4.4.95 waren Fotos von ZigarettenverkäuferInnen ohne Balken unter der Überschrift: »Stoppen Sie diese Schmuggler, Herr Polizeipräsident!«) und Plakaten gegen Steuerhinterziehung ausdrückt, vor allem aber in den Dealereien mit dem vietnamesischen Staat über die Rücknahme abgeschobener Vertragsarbeiter und Flüchtlinge. Dazu kommt die rassistische Brutalität der Bullen vor allem in den Wachen, gut die Hälfte der von amnesty international recherchierten »Übergriffe« passierte in Berlin. Ein vietnamesischer Asylbewerber wurde am 5. Mai bei einer Razzia gegen Zigarettenhändler im U-Bahnhof Samariterstraße von einem Bullen angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Er liegt immer noch im Krankenhaus.

Die »anti-rassistische« Ausländerbeauftragte Barbara John vertritt ein softeres Konzept der »Integration in die Migrationsgesellschaft« und will die Heime auflösen, um »den Sumpf für die Morde auszutrocknen«. Gleichzeitig würden damit die Zentren der Organisierung aufgelöst.

Erste Eingangskontrollen in einem Block eines großen Wohnheims in der Gehrenseestraße zeigen, daß diese Politik auf kalte Räumung der dort nicht Gemeldeten rausläuft.

Erst die Kombination von Kriminalisierung, Entzug des Zugangs zum offiziellen Arbeitsmarkt und von Sozialleistungen machte den Zigarettenhandel möglich. Die »Mafia« besteht bisher im wesentlichen aus »Schutzgeldgruppen«, die sich gegenseitig Reviere streitig machen. Die heftigen Verteilungskämpfe, die gerade ausgetragen werden, zeigen, daß es noch gar keine straff organisierte Mafia gibt, sondern daß diese sich erst durchsetzen muß.

Bisher haben alle Appelle, doch bitte die wegen der Tabaksteuer teureren legalen Kippen zu kaufen, auch weil an den anderen Blut klebe usw., wohl so viel Wirkung wie die Strafe von 75 DM, die du zahlen mußt, wenn du als Kunde beim Kauf erwischt wirst.

Der Verein Reistrommel hat letztes Jahr angefangen, in Bernau bei Berlin die Mißhandlung von VietnamesInnen in Bullenwachen zu recherchieren, dann in Berlin weitergemacht. Von 72 Anzeigen gegen Bullen wurden 40 Verfahren schon eingestellt. Die Bullen haben von Anfang an versucht, mit Kriminalisierung von Reistrommel e.V. zu reagieren, es gab mehrere Vorladungen, im Zusammenhang mit dem Widerstand in der Rhinstraße ist jetzt einer von Reistrommel wegen »Anstiftung zum Landfriedensbruch« angezeigt worden.

Spendenkonto: Antirassistische Initiative e.V., Konto Nr. 3939606, BLZ 100 200 50, Bank für Sozialwirtschaft, Stichwort »Rechtshilfe VietnamesInnen« (für Anwalts- und Prozesskosten) oder »Dang« (für den angeschossenen Vietnamesen).

Die Auseinandersetzung um die Anwesenheit der VietnamesInnen hat erst begonnen; wenn in ein paar Monaten der Rückführungsvertrag abgeschlossen sein wird, und alles deutet darauf hin, kann es richtig losgehen. Reistrommel erwartet eine Menschenjagd großen Ausmaßes. Gerade deshalb war es ein wichtiges Zeichen, daß sich Leute jetzt zur Wehr gesetzt haben, und wir sollten uns an diesen Kampf beteiligen.

(H.)


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