Jenseits der Sturmhauben des mexikanischen Südostens
Sylvie Deneuve, Charles Reeve (Paris, August 1995)
Denn die zu schnellen Bewunderer und die plötzlich Überzeugten sind selten das Salz der Erde
B.Traven, Dans l'État plus libre du monde, 19191.
Im goldenen Zeitalter des »real nicht-existierenden Sozialismus« gibt es die organisierten Reisen in die Länder der strahlenden Zukunft. Die Getreuen waren also aufgefordert, ihren Enthusiasmus zu äußern für eine von den Herren der Orte inszenierte Realität. So hat man die UdSSR des Sowjet-Sozialismus besucht, das China des maoistischen Sozialismus, das Albanien des Miniatur-Sozialismus, das Kuba des bärtigen Sozialismus, das Nicaragua des sandinistischen Sozialismus usw. Wehe denen, die den objektiven, wissenschaftlichen, indiskutablen Charakter dieser zurechtgezimmerten Realitäten bestritten. Bis zu dem Tag, als diese Systeme zusammengebrochen sind. Man glaubte, gesehen zu haben, und hatte doch nichts gesehen! Hat man jedoch Lehren daraus gezogen? Offensichtlich nicht! Das Lächeln geschultert, zieht man heute wieder los, »das revolutionäre Chiapas zu bauen«, in Konvois, die von den Weggefährten der Zapatisten organisiert werden. Auf einem markierten Weg muß man akzeptieren, nur das zu sehen, was man sehen soll und den Anführern aufs Wort zu gehorchen. Das unwiderlegbare Argument hat sich nicht um ein Jota geändert: die imperialistischen Kräfte sind bedrohlich und nur die »Kommandanten« wissen, was gut ist für das Volk... Wir sind sehr wohl der Meinung, daß, was diese Personen für Hoffnung halten, nichts anderes ist, als das Trugbild ihrer Hoffnungslosigkeit. In einer krisengeschüttelten Welt revidiert man die Ansprüche an die Zukunft nach unten. Man wird zum Apostel des Realismus, indem man vor dem Wesentlichen weicht, und man reiht sich hinter neuen Unterdrückungsprojekten ein.
Die Gruppen von Revolutionstouristen, die vom Exotismus der indianischen Besonderheit verführt wurden [1], sind unfähig, uns die geringste Information oder direkte Augenzeugenberichte darüber zu liefern, was auf dem mexikanischen Land passiert: sei es über die Besetzungsaktionen, die von den Bauern im Kampf gewählten Organisationsformen, ihre Ziele und politischen Perspektiven. Sie sind alle auch unfähig, uns das geringste kritische Element herbeizubringen, das es erlauben würde, das Wissen über die Avantgarde-Organisation zu vertiefen, die den bewaffneten Kampf anführt.
War es einfach die Nennung des Namens von Zapata und die Erinnerung an ein »Mexiko unter dem Vulkan«, was für die Mobilisierung gereicht hat? Wie kann man sich naiv in die Unterstützung einer Bewegung werfen, welche die identitätsstiftenden und patriotischen Werte transportiert, die heute der Kern der barbarischsten Abwege in der Welt sind? Die, welche radikalere Ansprüche auf die Welt haben, können ihre Solidarität gegenüber dieser zapatistischen Armee der nationalen Befreiung nur im Namen einer Gelegenheitstaktik rechtfertigen. So kommt man im Namen dieser taktischen Unterstützung dazu, etwas für andere akzeptabel zu finden, was für einen selbst inakzeptabel ist!
Hätte man nicht besser, statt über dem Zauber des verhüllten Heilands einzuschlafen, analysiert, was es an Neuem in diesem Typ alter Organisation gibt?
2.
Der totalitäre Charakter der Maya- und Inka-Gesellschaften muß nicht mehr bewiesen werden. Dennoch hat der Mythos der idyllischen indianischen Gemeinschaft ein langes Leben. Dieser Mythos wird teilweise von der Vorstellung genährt, die man sich von der Gemeinschaft macht. Als ob die gemeinschaftliche Form der vorkapitalistischen Gesellschaften eine sehr strukturierte Hierarchie, eine zentralisierte Macht und eine barbarische Ausbeutung der Arbeit verhindert hätte. Bei den Mayas z.B. - deren Territorium das Chiapas von heute umfaßt - war die Mehrarbeit der Bauern dazu bestimmt, eine Minderheit von Adligen und Priestern zu ernähren und zu reproduzieren, die die herrschende Klasse der Stadtstaaten bildeten [2]. Von den »örtlichen Traditionen der demokratischen Entscheidung« zu reden und die Regeln, die sie regierten, als Formen primitiver Demokratie zu präsentieren, heißt schweigend an der Autorität der Alten und der Chefs vorbeizugehen, die von der zentralen Theokratie abhingen, deren Losungen sie anwandten und deren Interessen sie verteidigten. Die Entscheidung über die wesentlichen Fragen des materiellen Lebens entzog sich den Mitgliedern der Gemeinschaft und die Werte, auf denen sich der soziale Zusammenhalt gründete, waren die einer Unterwerfung unter die Autorität. Diesbezüglich genügt es, sich auf die aztekischen Diskurse zu beziehen, welche die Normen und die Prinzipien verbreiteten, die das soziale Leben leiten sollen: »Sei liebenswürdig, anerkennend, respektvoll, sei voller Furcht, schaue mit Angst, sei gehorsam, mach, was das Herz der Mutter, des Vaters wünscht, denn es ist ihr Verdienst, ihre Gabe; denn es kommt auf sie zurück, der Dienst, die Unterwerfung, die Ehrerbietung... Demütige dich, füge dich, neige dein Haupt, krieche.« [3] Das Studium der Eroberung hat es erlaubt, die Hypothese aufzustellen, daß »die Spanier militärische Siege eher über »strukturierte« Reiche als über nicht in die Staatsform eingeschlossene Stämme erringen konnten. Dies ist leicht zu erklären. Die Einwohner eines Reiches, wie das der Inkas, waren bereits an die »Frondienste« für den Herrscher oder für die Tempel der Sonne und des Mondes gewöhnt. Der Transfer (vom Herrscher auf den Encomendero) lief natürlich nicht ruhig ab; aber er wurde möglich, ohne auf Gewalt zurückzugreifen. Stattdessen konnte gegen die freien Bevölkerungen ohne staatliche Einordnung die Gewalt nicht genug sein: der Krieg wurde zum Massaker und die Überlebenden wurden versklavt.« [4]
Diese Völker wurden, nachdem sie den bürokratischen Reichen, dann den europäischen Kolonialisten unterworfen waren, von der kapitalistischen Maschine zermalmt. B.Traven - der bezüglich der Revolte von Chiapas gerne zitiert wird [5] - hat ganze Seiten voll Wut über ihre Demütigung geschrieben. Auf einer unter ihnen muß er sich an das erinnert haben, was er während der deutschen Revolution geschrieben hatte: »Hat ein einziger von euren Chefs andere Ziele als euch zu bevormunden oder sich euch zu bedienen, um dadurch andere zu beherrschen?« [6] Viele Indianer sind Proletarier geworden, nachdem sie vom gemeinschaftlichen Land vertrieben und der Gewalt der Marktverhältnisse der Lohnarbeit unterworfen worden waren. Die, welche sich heute als die bewaffneten Vertreter der »Indianergemeinschaften« vorstellen, vergessen niemals, patriotisch ihre Verbundenheit mit den Idealen der mexikanischen Unabhängigkeit hinauszuschreien! Jedoch weiß man, daß dies ein privilegiertes Moment der Umwandlung der Indianer in arme Bauern und in landlose Proletarier war. Die, welche die Mehrheit der zapatistischen Armee bilden, seit der Mexikanischen Revolution, stammten aus dem Bundesstaat Morelos: »praktisch der einzige Staat im Süden, wo die kapitalistischen Produktionsverhältnisse überall vorherrschten.« [7] Wenn ihre Verbundenheit mit dem Streben zu einer indianischen gemeinschaftlichen Vergangenheit ihre Revolte belebt hat, erklärt sie auch ihre Unfähigkeit, zu ihrer Befreiung weiterzugehen. Diese Bauern waren tief mit der Erde und den Traditionen verwurzelt. Sie kämpften vor allem für die Rückgabe des enteigneten gemeinschaftlichen Landes und für das Recht auf die individuelle Parzelle. Für die, welche die historische Wahrheit jenseits der Legende suchen, erscheint es, daß: »Die zapatistische Bewegung (...) nicht sozialistisch, nicht einmal »fortschrittlich« in dem Sinne (ist), daß sie ganz Mexiko revolutionär verändern will. (...) Sie ist nur in dem Maße revolutionär, wo sie auf das Streben nach einer indianischen gemeinschaftlichen Vergangenheit antwortet, (...) Sie setzt weder einen Bruch voraus noch schlägt sie ihn vor.« Oder wenn man will: »Der Traditionalismus der zapatistischen Bewegung legt den Grundstein für ihre Einsamkeit und ihre Isolierung, und vor allem ihre Inkonsequenz, ihre Zweideutigkeit und ihre tiefen Widersprüche. Und diese Originalität erlaubt es ihr, zu überleben, sie legitimiert gleichzeitig ihre Unfähigkeit, sich dynamisch zu entwickeln, sich selbst zu verändern und wirklich aus ihrem regionalistischen »Ghetto« herauszukommen.« [8] Übrigens ist es bezeichnend, daß zur selben Zeit der Regierung die vorübergehende Befriedung der aufständischen Yaquis gelungen war, indem sie ihren Chefs die Rückgabe des Gemeinschaftslandes und den Bau von Kirchen versprach... [9] Nachdem die Revolution beendet war, hat die Ausbreitung des Kapitalismus die Zerstörung der traditionellen Formen der Indianergemeinschaft beschleunigt, indem er die Mehrzahl ihrer Mitglieder in die »Gemeinschaft des Kapitals« integrierte. In Chiapas z.B. überlebten bereits in den Vierziger Jahren viele Gemeindemitglieder dank der Lohnarbeit der Indianer, die in den Kaffeeplantagen beschäftigt waren. [10] Die uralten Werte, die in ihrem materiellen Überleben verwurzelt bleiben, sind im wesentlichen Werte der Unterwerfung. Hingegen haben sich die Revolten als Träger von Elementen sozialer Befreiung immer ausgehend von Situationen der Proletarisierung entwickelt. In Mexiko ist die Natur der jüngsten Kämpfe gleichermaßen von den modernen Strömungen verändert worden, welche die Gesellschaften der Dritten Welt durchziehen: Vertreibung vom Land, sozialer Ausschluß, Migration, Proletarisierung. Die Revolte von Chiapas ist Teil davon, und darauf zu bestehen, sie als eine Indianerrevolte darzustellen, kann nur die politische Tragweite der Aktion derer begrenzen, die daran teilnehmen. [11]
3.
Die Revolten der armen Bauern und die Besetzungen sind endemische Phänomene in den Gesellschaften Lateinamerikas. Um die Natur der Revolte in Chiapas zu verstehen, müssen wir schnell auf die Besonderheiten dieser Region zurückkommen und auf den Platz, den sie in der Entwicklung der sozialen Spannungen in Mexiko einnimmt.
Seit Ende der Fünfziger Jahre begannen zahlreiche indianische Bauern, die von ihren individuellen Parzellen (ejidos) vertrieben worden waren, spontan in Richtung Chiapas zu emigrieren. Die Regierung ermutigte danach die Bewegung der »expulsados« (»der Vertriebenen«) und forderte sie auf, sich im Wald niederzulassen: »gesellschaftlich war die lakandonische Grenze ein Sicherheitsventil; eine Region, die sich weit vom Machtzentrum befand, wo die potentiell explosiven Massen der Indianer und Bauern des tiefsten Mexikos an die Arbeit geschickt werden konnten. Das war, wenn man will, ein Naturreservat für die Ärmsten der Armen.« [12] Innerhalb weniger Jahre brachte die Ankunft dieser »Pioniere der südlichen Agrargrenze« die soziale Struktur von Chiapas durcheinander. [13] Die Zersetzung der alten indianischen Gemeinschaften ging einher mit der Schaffung einer neuen armen Bauernschaft, die aus einer gemischten Bevölkerung (Maya-Indianer oder nicht, und Mestizen) zusammengesetzt war.
Wie bei jeder kapitalistischen Landverteilung kam diese ungleich zustande. Die Neuankömmlinge fanden sich auf den ärmsten Ländereien wieder, die in den Bergen gelegen waren und hatten niemals Zugang zu den fruchtbaren Tälern. Die Bedingungen für das Auftauchen neuer sozialer Antagonismen waren geschaffen und das »Sicherheitsventil« verwandelte sich in eine Bombe mit Zeitzünder. So ließen Anfang der Siebziger Jahre »die alten Gemeinschaften, die vorher strukturiert waren, die Auswirkungen eines intensiven Prozesses innerer sozialer Differenzierung zum Vorschein kommen, der ihre Zusammengehörigkeits- und Verteidigungsmechanismen aushöhlte. Die Bauern ohne Land und ohne Arbeit begannen, sich in den Elendsvorstädten (der Städte von Chiapas) zu konzentrieren. Zu Beginn der Achtziger Jahre verdoppelte sich das Angebot an Arbeitskraft, da zur selben Zeit die Politik der »verbrannten Erde« der Regierung Rios Montt in Guatemala mehr als 80.000 Maya-Flüchtlinge auf Chiapas zurückwarf, die ins Nachbarland flohen und sich der Reservearmee auf dieser Seite der Grenze anschlossen. Das alte System des Kaufs-Verkaufs und der Reproduktion der Arbeitskraft wurde aus den Angeln gehoben, ohne daß es durch ein neues System ersetzt wurde, das fähig gewesen wäre, eine wachsende Masse an arbeitslosen Landarbeitern aufzunehmen. Die Hoffnungslosigkeit und die Krise begannen, ihre perversesten Auswirkungen zu zeigen.« [14]
In Mexiko äußerte die arme Bauernschaft schon immer eine starke Verbundenheit mit dem Privateigentum an Land. Das Streben zu einer indianischen gemeinschaftlichen Vergangenheit und das Erbe der Mexikanischen Revolution erklären diese Haltung. Besonders in Chiapas verließ der Inhalt der Forderungen der Bauernkämpfe niemals den Rahmen der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die politischen Organisationen, die sich in den Bergen des mexikanischen Südostens entwickelten, machten aus dem Gedanken des individuellen Landbesitzes ein konstitutives Element ihrer reformistischen Natur.
4.
Im Oktober 1968 massakrierte die mexikanische Regierung, die durch die Breite einer nie da gewesenen Studentenbewegung verwirrt war, 300 Demonstranten auf dem Platz der Drei Kulturen in Mexiko-Stadt. Zur selben Zeit ging eine wilde Repression auf die Organisationen der extremen Linken nieder. In der Folge dieser tragischen Ereignisse entschied sich die marxistisch-leninistisch-maoistische Gruppe Politica Popular, das Studentenmilieu zu verlassen, um ihre Aktivität auf die »Volksmassen« zu konzentrieren. Sie setzten sich also in den Städten im Norden des Landes fest, wo der Exodus vom Land breite Zonen von Elendsvierteln wachsen ließ, ein günstiges Terrain für linke Aktivisten. Das Ziel war, »rote Basen« zu schaffen: ein Netz von Organisationen, das alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens abdecken und das auf Dauer imstande sein sollte, diese armen Viertel zu kontrollieren. Die Taktik war von den linken Tendenzen der chinesischen Kulturrevolution entliehen: die politische Führung der Organisation durfte niemals offen zum Vorschein kommen, ihre Entscheidungen wurden immer als das Ergebnis einer Befragung der Massen dargestellt, die sich in Komitees und Versammlungen äußern. Das klassische Projekt der Rekrutierung und der Manipulation der Bevölkerung durch eine autoritäre Avantgarde-Organisation wurde durch einen demagogischen Diskurs von Basisdemokratie maskiert. In ihrer »politischen Arbeit« vor Ort haben die mexikanischen Maoisten unvermeidlicherweise Aktivisten mit höherem Dienstalter getroffen: die fortschrittlichen Priester der Strömung der Theologie der Befreiung. Trotz der Tatsache, daß sie sich in Konkurrenz um die Kontrolle derselben Massen befanden, kamen die Maoisten und Priester schnell zu einem Bündnis. Aus ihrer wundersamen Kooperation sollte ein mexikanisches Modell der »Massenarbeit« entstehen, das als »Torreonismus« bekannt ist, nach dem Namen der Großstadt im Norden. [15] Gegen Mitte der Siebziger Jahre entfesselte die mexikanische Regierung, die wegen des Erfolgs dieser Strömung unruhig geworden war, eine wilde Repression, in deren Verlauf zahlreiche Aktivisten ermordet wurden. Von neuem sollte die Führung der Organisation ihre Positionen revidieren: die »Massenlinie«, die die Betonung auf die politische Arbeit in den städtischen Zonen legte, wurde durch die »proletarische Linie« ersetzt, die der Verankerung bei den armen Bauern den Vorrang gab. Tatsächlich bedeutete die Übernahme der neuen Linie den Rückzug der Maoisten in Zonen, wo sie sich der Repression weniger ausgesetzt glaubten: das war ihr »langer Marsch«. Dies war auch eine verworrene Periode im Leben der Gruppe, die durch eine Aufeinanderfolge von Scheitern der Verankerung, Spaltungen, Selbstverleugnungen und internen Reglementierungen gekennzeichnet war. [16] So kamen erst gegen Ende der Siebziger Jahre die ersten »Brigaden« der maoistischen Avantgarde nach Chiapas, wo sie ihre »Weggefährten« von der fortschrittlichen Kirche wiedertrafen, die bereits gut in die Gemeinschaften der armen Bauern integriert waren. Das Bündnis zwischen diesen beiden Organisationen wurde also an der Idee der »Indianerkirche« entwickelt, die auf dem Prinzip der Autonomie der Diözesen und auf der Qualität der Basisaktivisten beim Erfüllen der Evangelisierungsaufgaben und dem Zelebrieren der Messe basierten. Die Dominikaner, die in Chiapas die Mehrheit bildeten, fanden diese Idee gut, die es ihnen erlaubte, die »Arbeit an den Seelen« fortzuführen, wo die Maoisten sie jedoch als Mittel benutzten, um die Gemeinschaften zu infiltrieren und Basiskader zu schaffen. Das Bestehen dieser Avantgarden auf der indianischen Besonderheit erklärt sich vor allem aus der Rolle, die diese »Indianerkirche« in ihrer Verankerungsarbeit gespielt hat.
Heute ist es nicht mehr leicht, eine klare und lineare Verbindung zwischen der Periode der Verankerung dieser Organisation und dem Entstehen der EZLN festzustellen. Alles, was sicher ist, ist die Existenz dieser Verbindung. Mit der Zeit kamen andere Gruppen maoistischer Aktivisten nach Chiapas. Marcos selbst soll zu einer der letzten »Brigaden« gehört haben. [17] Viele politische Aktivisten und Führer verschwanden, Opfer der unerbittlichen Repression, die von der Armee und den Söldnern im Dienste der Großgrundbesitzer geführt wurde. Was die Überlebenden betrifft, so mußten sie einige ihrer Auffassungen an die lokalen Bedingungen anpassen. Bekannt ist schließlich, daß die grundlegenden taktischen Prinzipien der maoistischen Linken begannen, in den Bauernkämpfen aufzutauchen: der ständige Rekurs auf die Versammlungen als Mittel, um die politischen Chefs zu verbergen und zu schützen.
Die mexikanischen Maoisten hatten - ganz genau wie ihre peruanischen Brüder vom Leuchtenden Pfad - auf ihre Art die guevaristische Vorstellung des Focus kritisiert. Sie hatten verstanden, daß die politische Verankerung zum Scheitern verurteilt war, wenn sie sich auf die Aktion eines bewaffneten Kerns beschränkt, der in Indianergemeinschaften abgesetzt wird, die gegenüber allem, was von außen kommt, sehr geschlossen und feindlich sind. Seit Beginn an vertraten sie aus taktischen Gründen die indianische Besonderheit. Die militanten Kerne mußten sich in die Gemeinschaften integrieren, indem sie, unter anderem, ihre Verbindungen zur »Indianerkirche« benutzten. In einer zweiten Phase paßte die politische Organisation ihre dirigistischen Auffassungen den neuen historischen Bedingungen an, die durch die Auflösung der ländlichen Gemeinschaften und eine Proletarisierung der indianischen Bauern gekennzeichnet waren. Die Schaffung von Bauerngewerkschaftsorganisationen entspricht dieser Phase. 1991 wandelte sich die »Unabhängige Bauernallianz Emiliano Zapata« in eine nationale Organisation um, ein Ereignis, das einen grundlegenden politischen Sprung darstellt. Die Arbeit der Schaffung einer »Massenbasis« war vollendet worden und die »regionalistischen« Vorstellungen - die von den sich selbstversorgenden indianischen Gemeinschaften vertreten und von der »Indianerkirche« verteidigt wurden - waren überholt. Die Stunde der bewaffneten Aktion war gekommen. Tatsächlich mußte nach diesem Modell die Schaffung der militärischen Organisation die letzte Phase einer langen politischen Arbeit der Verankerung [18] unter der Bevölkerung sein. Heute ist die zapatistische Armee, Ergebnis dieser »Massen«organisationen, nur eine der Strukturen der Organisation; sie ist ihr sichtbarer Teil! Die Texte der EZLN und die Erklärungen von Marcos kommen oft auf diese Frage zurück. Der Erfolg der zapatistischen Organisation erklärt sich zum großen Teil aus der politischen Intelligenz, die ihre Aktivisten während der ganzen Periode der Verankerung bewiesen haben.
Die Revolte in Chiapas kann nicht von der Verschlechterung der allgemeinen Situation getrennt werden. Zu Beginn der Neunziger Jahre war ganz Mexiko durch eine Abfolge von sozialen Bewegungen aufgewühlt. Die Integration der lokalen Ökonomie in den nordamerikanischen Wirtschaftsraum hat die Veränderungen beschleunigt, die seit Jahren am Laufen waren: besonders die Industrialisierung der Agrarproduktion und dadurch den Zerfall der Subsistenzlandwirtschaft. Die Verarmung der Kleinbauern wächst an und hat Revolten und mächtige Mobilisierungen zur Folge. Parallel dazu hat die Masse der Jugendlichen keinen Zugang zum Land mehr und findet keine Arbeit mehr in den Städten. Muß daran erinnert werden, daß 60% der Bevölkerung von Chiapas heute jünger als 20 Jahre alt sind? Sie sind es, die die Reihen der Organisation vergrößern werden: »Heute besteht die zapatistische Armee vor allem aus dieser Masse moderner, marginalisierter Jugendlicher, die mehrere Sprachen sprechen und eine Erfahrung mit Lohnarbeit haben. Ihr Profil hat wenig mit dem isolierten Indianer zu tun, wie man ihn sich vorstellt.« [19]
Was originell ist in der EZLN, ist ihre beträchtliche Fähigkeit, sich an eine Situation anzupassen, die aus dem Zerfall des Staatskapitalismus und dem Ende der Aufteilung der Welt in zwei Blöcke entstanden ist. Sie ist die erste avantgardistische Guerillabewegung, die versucht, eine Funktionsweise in der Ära der »neuen Weltordnung« zu finden. Ihre Kader mit marxistisch-leninistischer Ausbildung haben niemals den Inhalt der Ausbeutung der Systeme kritisiert, die zerfallen sind. Sie haben nur das Verschwinden dessen festgestellt, was für sie Sozialismus bleibt: »Die Sowjetunion ist zu Ende, es gibt kein sozialistisches Lager (sic) mehr, in Nicaragua hat man die Wahlen verloren, in Guatemala wurden der Frieden unterzeichnet, in Salvador wird darüber diskutieret, Kuba ist isoliert, niemand will mehr was vom bewaffneten Kampf hören, noch weniger vom Sozialismus; inzwischen sind alle gegen die Revolution, sogar wenn sie nicht sozialistisch ist«. [20] Also, was bleibt Marxisten-Leninisten, die ihre Unterstützungsbasis verloren haben, anderes als die Hinwendung zu einem primären anti-imperialistischen Patriotismus, das Loblied auf die nationale Sache und der Respekt gegenüber der parlamentarischen Demokratie. Die EZLN ist die erste Guerilla der postkommunistischen Periode, eine Bürokratie, die aus der demokratischen Demagogie ihre Geschäftsgrundlage macht.
5.
Die Kontrolle des Wortes ist einer der Aspekte der bürokratischen Natur der EZLN. Die Stimmen der Rebellierenden von Chiapas werden auf eine einzige Stimme reduziert, die im Namen aller anderen spricht und schreibt! [21] Einige verteidigen sie im Namen einer elitären Auffassung und erklären, daß Marcos ein »Künstler« sei und »der beste zeitgenössische lateinamerikanische Schriftsteller«, der Vertreter »einer Handvoll begabter junger Leute«. »Er (Marcos) spricht nicht an ihrer Stelle, er verwandelt seine Gefährten in Personen einer Erzählung oder Novelle. Mit dieser prahlerischen, aber kollektiven Subjektivität erfindet er eine neue Art Ich zu sagen, die mit dem Wir zusammenklingt, ohne es zu ersetzen, ein offenes und sich veränderndes Ich, das jeder für sich aufnehmen und auf seine Weise verlängern kann.« [22] Andererseits ist es besonders beunruhigend, daß dieser Aspekt von praktisch all denjenigen gerechtfertigt wurde, die in der militanten Unterstützung für diese Bewegung aktiv waren. Noch scharfsinnigere Geister garantieren, daß Marcos im Namen des Volkes spricht, deren Wortführer er nur sei. Aber wie soll man das Wort des Volkes erkennen, wenn man nur Marcos hört? Nur Marcos kann dies sicherlich! Und man dreht sich im Kreis. Einige begeisterte Getreue fühlen sich dennoch durch das Spektakel des Subkommandanten in Verlegenheit gebracht und verdoppeln ihre Anstrengungen, um uns zu beweisen, daß es in dieser militärischen Organisation »einen Wunsch (gibt), die Gefahr des Caudillismus zu vermeiden«. [23] Was der Subcomandante selbst teilweise verneint: »Was neu ist, ist nicht das Fehlen eines Caudillo; was neu ist, ist die Tatsache, daß es sich um einen Caudillo ohne Gesicht handelt.« [24] Das ist für uns noch viel schlimmer! In einer Welt der Internet-Netze und virtueller Realitäten ist die Anonymität des Chefs nicht das Ende des Chefs, sondern, im Gegenteil, die abstrakte Form der Autorität. Der Heldenkult ist nicht überwunden, er äußert sich in seiner reinen Form. Die Modernität bietet sich uns in der Form der Karikatur der Vergangenheit an: man glaubte, den bolschewistischen Avantgardismus erledigt zu haben und man findet sich dem Avantgardismus von Zorro gegenüber. Die EZLN, das ist der Dirigismus in der demokratischen Sturmhaube.
Dennoch enthüllt die aufmerksame Lektüre der EZLN-Prosa die Existenz einer reinen Trennung zwischen dem »wir« (die Befreiungsarmee) und dem »sie« (die Massen). Um den geringsten Zweifel zu zerstreuen, wird uns gesagt, daß die Organisation unermüdlich die Basis konsultiert: es gäbe Plebiszite, Versammlungen, Referenden. Es ist eine Frage von »demokratischem politischem Prozeß«, von »neuem politischen Projekt«, von »autonomer Demokratie für alle (sic) Ebenen der mexikanischen Gesellschaft«, einer »neuen politischen Synthese«, usw. Andererseits, da es sich darum handelt, über diese abgedroschenen Konzepte hinauszugehen und den realen Inhalt der Machtstrukturen zu präzisieren, ist die Näherungsformel die Regel. Also wird jeder scharfsinnige Beobachter keine Probleme haben, hinter der Verschwommenheit die Grundprinzipien des linken Maoismus, des »Torreonismus« der Siebziger Jahre, wiederzufinden. Die zapatistische Organisation bleibt dem Modell treu: unten die Versammlungen, oben die klandestinen politischen Komitees (die Generalkommandantur der EZLN, von der Marcos und seine Komparsen abhängen).
Die patriotischen Themen sind allgegenwärtig im Diskurs der EZLN. Ein sympathisierender Beobachter ihrer Aktion konnte sich nicht zurückhalten zu bemerken, daß »Marcos selbst einen Patriotismus durchsickern läßt, der auf das Manische hinweist«. [25]. Zweifellos war die patriotische Hysterie eine der karikaturalen Makel der maoistischen Linken, die schließlich zu einer Varianten des demokratischen Nationalismus geworden ist. Im vorliegenden Fall kompensieren diese Themen durch die Demagogie die Schwäche der Vorschläge zur sozialen Frage. Es fehlt seltsamerweise in diesem Diskurs jeglicher Bezug auf ein Projekt der Reorganisation der Produktion und der Gesellschaft. Die EZLN mit ihrem Anspruch als Wortführer der armen Bauernschaft, die traditionell mit der Erde verbunden ist, hat weder etwas gegen das Privateigentum noch für Enteignungen oder Landbesetzungen gesagt oder geschrieben. Dennoch ist bekannt, daß man Anfang 1995 alleine im Bundesstaat Chiapas mehr als 500 Güter zählte, die von armen Bauern und Subproletariern besetzt wurden. Es schien eine gewisser Abstand zwischen der Organisation und den Massen aufzutauchen... Andererseits wird nicht versäumt, die sozialen »Errungenschaften« aufzuzählen, die durch ein Trugbild von revolutionärem Legalismus erreicht wurden. Auf diesem Gebiet ist der maskierte Subcomandante in seinem Element und versäumt es nicht, die Verwirklichung der neuen lokalen Führung aufzuzählen: »wir haben das Fällen von Bäumen verboten, und wir haben Gesetze für den Schutz des Waldes gemacht und wir haben die Jagd auf wilde Tiere verboten (...), sowie den Anbau und den Handel mit Drogen, und diese Verbote wurden befolgt. (...) Und wir haben der Prostitution ein Ende gesetzt und die Arbeitslosigkeit ist verschwunden, genauso wie das Betteln. Und die Kinder haben Bonbons und Spielzeug kennengelernt«. [26] Warum werden diejenigen ohne Stimme gelassen, die überzeugt sind, daß es unmöglich ist, die Probleme zu lösen, ohne die Gründe anzugreifen? Seit wann kann man den Alkoholismus oder die Prostitution durch das Verbot beseitigen? Seit wann beweisen die Beteiligung der Frauen an militärischen Aufgaben und ihr Aufstieg in der Kommandohierarchie das Voranschreiten der Frauenbefreiung?
Von dem wenigen, was man über die wirklichen Bedingungen der sozialen Revolte weiß, die sich in Mexiko ausbreitet, scheint es, daß sich die mexikanischen Proletarier in den entscheidenden Momenten alleine gegenüber den repressiven Kräften befinden, die das Privateigentum verteidigen. Die Sympathisanten der EZLN wollen uns um jeden Preis glauben machen, ihre Existenz bilde einen Schutz, eine Selbstverteidigungsmacht der armen Bauern gegen den Staat und die Kapitalisten. Dies hier ist ganz sicher ein elitäres Argument par excellence: das schwache Volk braucht einen bewaffneten Arm, der fähig ist, es zu verteidigen. Nun, die Realität ist ganz anders. Seitdem sich die Zusammenstöße außerhalb der von der EZLN militärisch kontrollierten Zone abspielen, greift diese nicht ein und die revoltierenden Bauern müssen rücksichtslos auf sich schießen lassen. Wir sind weit entfernt vom Schema der bewaffneten Gruppen - die wir an anderen Orten und zu anderen Zeiten kennenlernen konnten - die es als Strategie hatten, dort eine Antwort auf die Repression zu geben, wo sie ausgeübt wird. Denn die EZLN ist keine klassische bewaffnete Gruppe, sie ist der bewaffnete Arm einer Organisation, die ein Gebiet und eine Bevölkerung kontrolliert. Soweit die mexikanischen Proletarier sich an dem Punkt reinlegen lassen, an die Selbstverteidigungsrolle der EZLN zu glauben, werden sie einen schrecklichen Preis zahlen müssen. Von diesem Standpunkt aus (welches der unsere ist) können wir feststellen, daß die Existenz der EZLN eine Bremse gegenüber der Entwicklung von Kapazitäten der Autonomie der Kämpfe ist. Die Daseinsberechtigung der Avantgarde-Organisation lag in ihrer Fähigkeit, die autonome Macht durch die Macht der Partei zu ersetzen. Aber man muß auch anerkennen, daß die EZLN eine Doppelrolle spielt bei den jungen Subproletariern, die ihre Basis darstellen. Sie kanalisiert ihre Revolte in einen militärischen Kader, also kontrollierbar durch die Chefs, und sie gibt ihnen eine kollektive Identität in einer Periode starker sozialer Destrukturierung.
6.
Die Ereignisse von Chiapas geschehen in einer Zeit, in der der Kapitalismus einen besonderen historischen Moment durchläuft. Zur Zeit der Aufteilung der Welt in zwei Blöcke bedeutete jedes Projekt der nationalen Unabhängigkeit, sich der einen oder anderen kapitalistischen Macht zu unterwerfen. Jedoch war das Ziel der sogenannten Befreiungsbewegungen, die Bindungen dieses oder jenes Landes zum amerikanischen Imperialismus abzubrechen. Die nationalistische Ideologie identifizierte sich mit dem Marxismus-Leninismus, der zur Ideologie der herrschenden Klassen des neuen entstehenden Staates wurde. Seit der Errichtung der neuen Weltordnung, die aus dem Zerfall der staatskapitalistischen Systeme hervorgegangen ist, kann das nationalistische Projekt nicht mehr auf diesen Bruch zielen. Jede Avantgarde-Organisation muß die Taktik und Strategie revidieren, um nicht zum Verschwinden verdammt zu werden. Indem sie die nationalistischen Forderungen vorantreibt, welche das anti-imperialistische Gefühl ausbeutet, das in den von den kapitalistischen Zentren abhängigen Ländern sehr lebendig geblieben ist, muß sie sich in das lokale politische Leben integrieren, um dort Bündnisse allein im Rahmen der Widersprüche innerhalb der herrschenden Klassen zu finden.
Wir wissen, daß die militärische Aktion der EZLN in Chiapas im selben Moment ausgelöst worden war, an dem die NAFTA in Kraft trat, das Freihandelsabkommen zwischen den drei Ländern Nordamerikas. Dieses Abkommen möchte einen formalen juristischen Rahmen schaffen und einen Prozess reglementieren, der seit mehreren Jahren in Gange ist: die ausgestreckte Hand der Vereinigten Staaten nach seinen beiden Nachbarländern Kanada im Norden und Mexiko im Süden. Die Auswirkungen auf die mexikanische Wirtschaft sind wegen ihrer Schwäche sehr wichtig: Schließung der nicht wettbewerbsfähigen Industrieeinheiten, Zerstörung der traditionellen Agrarproduktion und Verarmung der Mehrheit der Bevölkerung. [27] Dazu kommen, da diese Ökonomie durch eine starke staatliche Intervention gekennzeichnet ist, Umwälzungen im Innern der herrschenden Klasse. Das Zerbrechen von im Laufe der Jahrzehnte geknüpften Banden zwischen der Nomenklatura der Staatspartei und der privaten Kapitalistenklasse ist an der Tagesordnung. Plötzlich ist das gesamte System des Klientelismus und der Korruption bedroht. Der Verfall der politischen Klasse - der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) - und die Zersetzung des Netzes von bürokratischer Kontrolle der bürgerlichen Gesellschaft sind nicht neu: die Studentenbewegung der Sechziger Jahre und die Bewegungen der Selbstorganisation, die auf das Erdbeben in Mexiko folgten, hatten sie bereits angekündigt. Heute ist man im Stadium
des Verfaulens und die Situation ist dergestalt, daß selbst in der Spitze der Nomenklatura der PRI blutige Abrechnungen stattfanden. Die neoliberale Tendenz verlangt die Beseitigung der bürokratischen Beschränkungen, welche die Überlebensbasis für die alten PRI-Sektoren bildeten. Wohlgemerkt, die Bündnisse zwischen den verschiedenen Tendenzen sind weit davon entfernt, auf klaren Grundlagen zu entstehen, weil viele Partisanen des Neoliberalismus gleichermaßen von korrupten und Spekulateurssektoren der PRI abstammen. Hier wie dort verwandeln sich Mitglieder der Staatsbürokratie in erbitterte Verteidiger des wilden Privatkapitalismus.
Innerhalb der mexikanischen Bourgeoisie gibt es viele, die sich nicht an die Erfordernisse des nordamerikanischen Kapitalismus anpassen möchten. Wir können vermuten, daß die militärische Aktion der EZLN und die Unruhe, die sie in den Kreisen des multinationalen Kapitals geweckt hat, zur Kraftprobe im Konflikt zwischen dieser Tendenz und den Verteidigern der amerikanischen Interessen werden konnten. Der Übergang des mexikanischen Erdöls unter amerikanische Kontrolle - eine Operation, die unter dem Deckmantel der Schuldenrückzahlung realisiert wurde - hat diese Antagonismen wiederbelebt und das nationalistische Gefühl der Bourgeoisie erregt.
7.
Die mexikanische sozialdemokratische Linke - die in der Demokratischen Revolutionären Partei (PRD) zusammengefaßt ist - war ebenfalls gezwungen, einen neuen Platz auf der politischen Bühne zu finden. In der ersten Zeit versuchte sie, sich mit der EZLN-Führung zu verbünden, indem sie dieser ihre institutionellen Posten, ihre politischen und gewerkschaftlichen Strukturen und ihren Einfluß in den Medien zur Verfügung stellte. Dennoch überlebte diese Allianz nicht die Entwicklung der Situation. Die EZLN konnte nicht zulassen, daß ihre Aktion in die nationale Strategie einer PRD integriert wird, welche sie als zu sehr mit bestimmten Sektoren der mexikanischen Bourgeoisie kompromittiert ansah. Ihre Divergenzen verschärften sich nach den Wahlen vom August 95, die einen Mißerfolg der PRD und den Aufstieg zur Macht der katholischen neoliberalen Strömung der Partei der Nationalen Aktion (PAN) brachte, einer neuen politischen Kraft, die verspricht, den Staat vollkommen zu sanieren und an die Erfordernisse der NAFTA anzupassen. Die EZLN fordert ihrerseits nicht die Macht, was oft als Beweis für ihren Anti-Autoritarismus betont wurde, ohne zu sehen, daß ihre Führer genau wissen, daß sie angesichts der historischen Situation und des Kräfteverhältnisses gar nicht imstande sind, die Macht des Zentralstaates zu fordern. Andererseits sind die Zapatisten imstande, eine Vertretungsmacht bei den marginalisierten und ausgeschlossenen Schichten des Proletariats zu verhandeln, einer Macht, die dank der Sympathie erworben wurde, welche ihre Aktion erweckt hat. Die EZLN ist zur neuen Partei der mexikanischen Linken geworden. Was Marcos betrifft, mit seinem starken Mediencharisma, so tritt er immer mehr als einer ihrer Chefs auf und verbreitet in der Presse seine Politikerweisheiten.
Der Ausbruch der mexikanischen Krise und seine finanziellen Folgen haben den Mythos des neoliberalen Wirtschaftswunders auf dem ganzen amerikanischen Kontinent zerstört. Die amerikanischen Kapitalisten, die ja nur glaubten, mit der NAFTA ein gutes Geschäft zu machen, finden sich mit Mexiko vor einer Situation, die Gefahr läuft, explosiv zu werden. Um so mehr werden sie, wenn es eine Explosion gibt, sich einerseits in den USA der Unzufriedenheit der (nicht nur mexikanischen, sondern allgemein hispanischen) Einwanderercommunities [28] und andererseits der Gefahr des Ausbreitens der Revolte auf andere Länder Lateinamerikas stellen müssen. Wie dem auch sei, die politische Zukunft der EZLN kann nicht von den Zusammenstössen getrennt werden, die innerhalb der herrschenden Klasse über die Frage der Abhängigkeit vom amerikanischen Kapitalismus stattfinden. Die Aktivität der Zapatisten ist bereits Teil dieses politischen Kräftemessens. Die große Unbekannte in diesem Szenario bürgerlicher Politik ist die Bewegung der mexikanischen Proletarier und ihre Fähigkeit, sich der Kontrolle der bürokratischen Organisationen, der alten (PRI und PRD) und der neuen (EZLN) zu befreien. Mögen sie autonome und unabhängige Aktionen unternehmen und sie werden den Unterschied entdecken, der zwischen ihren Klasseninteressen und den nationalistischen Interessen dieser Parteien und Organisationen besteht. An jenem Tag wird man die alten Kaziken und die neuen Chefs in der Sturmhaube sich die Hände reichen sehen. Es besteht kein Zweifel, daß die »begabten jungen Leute« [29] einig sein werden, die »unrealistischen« Ansprüche der jungen revoltierenden Subproletarier zurückzuwerfen. So werden sie ihre Ambitionen verwirklichen, denn, wie es ein Revolutionär zu Zeiten Zapatas bemerken ließ: »Der Personenkult kann nur unter den Ignoranten oder den Pöstchen- und Rentenjägern Anhänger finden« [30].
Fußnoten:
[1] Für eine treffende Analyse der »indigenen Kultur« als Ware im Dienst der Tourismusindustrie und die politische Manipulation: »El Indigenismo desde arriba: traficando politicamente y comercialmente en el nombre del pueblo«, in der kolumbianischen Zeitschrift Contrafluxo (Nr.1, Medellin 1995), in: Etcetera (Nr. 24, April 1994, Barcelona).
[2] Siehe Eric S. Thompson, Grandeur et décadence de la civilisation maya [Größe und Zerfall der Maya-Zivilisation], Paris, Bibliothèque historique Payot, 1993.
[3] Témoignages de l'ancienne parole [Zeugnisse des alten Wortes], S.48, übersetzt aus dem Nahuati von Jacqueline de Durand-Forest, Paris, La Différence, 1995.
[4] Ruggiero Romano, Les mecanismes de la conquète colonial: les conquistadores, [Die Mechanismen der kolonialen Eroberung] (S.46), Paris, Flammarion.
[5] Siehe den Text von B.Traven, Depuis les montagnes du Sud-Est mexicain, Paris, l'Insomniaque, 1994.
[6] B.Traven, Dans L'État plus libre du monde, Paris, L'Insomniaque, 1995.
[7] Americo Nunes, Les revolutions de Mexique (S.151), Paris, Flammarion, 1975. In dieser brillianten Kritik der fortschrittlichen Mythen der mexikanischen Revolution zeigt der Autor im besonderen, daß »die Parole 'Land und Freiheit' fälschlicherweise der zapatistischen Bewegung zugeschrieben wurde«, wo sie doch die Devise der Liberalen Partei der Brüder Magon war. Siehe auch: Die mexikanische Revolution von Ricardo Flores Magon, Paris, Spartacus, 1979.
[8] ebenda, S.148 und S.150.
[9] Der Stamm der Yaquis im Bundesstaat Sonora im Nordosten Mexikos hat mehrmals gegen die Enteignung von Land rebelliert. Er wurde 1926 entgültig militärisch besiegt durch Obregon, einen revolutionären General, der Verbündeter der Zapatisten geworden war.
[10] Antonio Garcia de León, »Los motivos de Chiapas«, Barcelona, Etcetera, November 1995.
[11] Die armen Bauern von Chiapas - wo die Grenzen historisch wenig Sinn haben - werden dank des bürokratischen Denkens »mexikanische Indianer«!? Wer ist Indianer?, wer ist Mexikaner?, wer ist Guatemalteke? Ein weiteres Problem, das den der zapatistischen Sache Ergebenen zu entgehen scheint.
[12] Rebellion from the roots, John Ross, Common courage press, 1995, S.257.
[13] Ein Beispiel: Die Gemeinde Ocosingo hatte 1960 eine Bevölkerung von 12.000 Personen und 1990 von 250.000. Siehe John Ross, ebenda.
[14] A. Garcia de León, ebenda.
[15] In diesem Teil des Textes habe ich reichlich die Arbeit von John Ross, Rebellion from the roots, ebenda, benutzt. Siehe besonders die Kapitel »Back to the jungle« und »Into the zapatiste zone«.
[16] Seit dieser Zeit hatten sich Verbindungen zwischen den Kaziken der Partei an der Macht, der PRI, und Führern von Politica Popular entwickelt. Zwei große maoistische Chefs jener Zeit sind heute hohe PRI-Kader in der offiziellen Bauernorganisation... Siehe diesbezüglich Rebellion from the roots, ebenda, S.276.
[17] Rebellion from the roots, ebenda, S.278.
[18] Siehe die interessante Analyse von Julio Mogel, in La Jornada, 19.Juni 1994, zitiert nach John Ross.
[19] Antonio Garcia de León, ebenda.
[20] Interview Die wahre Legende des Subcomandante Marcos, ein Film von T.Brissac und C.Castillo, La Sept/Arte, Paris 1995, von Marcos, ebenda.
[21] Als ein Karikaturbeispiel siehe: Les insurgés zapatistes raccontent un an de révolte au Chiapas [Die zapatistischen Aufständischen erzählen von einem Jahr der Revolte in Chiapas], Editios Dagorno, Paris 1995. Es handelt sich faktisch um 466 Seiten mit Texten der EZLN-Führung oder von Marcos unterzeichneten Texten.
[22] Régis Debray, »A demain Zapata«, Le Monde, Mai 1995, übersetzt in: Die Aktion Nr.133/136, Hamburg, Juni 1995.
[23] H.Cleaver, Zapatists, documents of the new mexican revolution, 1995.
[24] Interview, ebenda.
[25] John Ross, Rebellion from the roots, ebenda, S.294.
[26] Marcos, »La fleur promise«, Le Monde, 1.April 1995.
[27] Seit der Unterzeichnung der NAFTA hat der Peso 50% seines Werts verloren, mehr als 6000 Betriebe haben dichtgemacht, 1 Million Arbeiter wurden entlassen und der Verbrauch ist um 25% gesunken (Le Monde, 9.August 1995).
[28] Trotz der Verstärkung der Kontrollen bleibt die Grenze zwischen Mexiko und den USA ein Sieb. Millionen von Mexikanern leben und arbeiten in den USA, wo ihr politisches Engagement sich immer mehr in den Schulen, den Stadtteilen und am Arbeitsplatz bemerkbar macht.
[29] Regis Debray, ebenda.
[30] Ricardo Flores Magon, La guerre social, 1911, veröffentlich durch Spartacus, ebenda.