Wildcat-Zirkular Nr. 24 - Februar 1996 - S. 15-46 [z24kapit.htm]


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Vorschläge zur Wiederbelebung der theoretischen Diskussion /2

Ist der Kapitalismus eine Marktwirtschaft?

Die Vorstellung, daß Tauschvorgänge und deren Logik im Zentrum der kapitalistischen Gesellschaft stehen und sich damit viele Vorgänge erklären lassen, ist heute weit verbreitet. Diese Vorstellungen geben den aktuellen Strategien der »Privatisierung« und des »Neoliberalismus« ihre Glaubwürdigkeit - sowohl bei ihren Anhängern wie bei ihren Kritikern. Diese Vorstellung hat zwar wenig mit der Realität der globalen Kapitalakkumulation zu tun, aber sie hat eine soziale Basis in der alltäglichen Atomisierung, die nur die Kehrseite einer Armut an offenen Kämpfen und darin entstehenden kollektiven Beziehungen ist. Dem vereinzelten Individuum erscheinen die gesellschaftlichen Vorgänge tatsächlich wie Tauschvorgänge, oder genauer, es rationalisiert dadurch die Erfahrung von Ohnmacht, denn das Wesen des Tauschens ist gerade die Behauptung der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der vereinzelten Subjekte. Indem wir uns gesellschaftliche Beziehungen, die wesentlich auf organisierter und institutionalisierter Gewalt, Ausbeutung, Unterdrückung beruhen, als Tauschakte vorstellen, wird wenigstens in der Vorstellung die »Freiheit« und »Selbständigkeit« des Individuum oder bestimmter Gruppen gerettet. Für den einzelnen ist es zudem mehr als nur eine bloß imaginäre Vorstellung, sondern eine sehr reale, da die alltägliche Reproduktion durch Märkte und Tauschvorgänge vermittelt wird und sich darin unsere individuelle Freiheit zu bestätigen scheint - und in gewisser Weise auch tatsächlich bestätigt (s.u. »Die politische Ambivalenz des Marktes«).

Was macht die Aktualität und Wichtigkeit dieser Frage aus, die in der theoretischen Diskussion um den Kapitalismus alles andere als neu ist? Zuerst ist es die Anfälligkeit in unseren eigenen Diskussionen gegenüber diesem »Mythos der Marktwirtschaft«. Sicher, offen mit der Frage konfrontiert, ob der Kapitalismus eine Marktwirtschaft sei, käme prompt die »korrekte« Antwort: nein, nein, er ist eine Klassengesellschaft. Damit ist aber wenig gesagt und es verhindert nicht, hinterrücks doch wieder den Mythen des Marktes aufzusitzen. Dieser Mythos durchzieht zweitens die Diskussionen des aktuellen deutschen »Neomarxismus«, in dem die Ware zu der »gesellschaftlichen Basisform« (Robert Kurz) schlechthin erklärt wird. In der Verlängerung dieser Lesart von Marx wird dann der Klassenkonflikt zu einem bedeutungslosen Unterkonflikt auf der Markt- und Tauschebene. Es ist sicher kein Zufall, daß ein breites Interesse an dieser »marxistischen Warenkritik« zeitgleich mit der allgemeinen und ausweglosen politischen Orientierung auf die »Freiheit der Märkte« entstand. Daher können wir sie auch nicht einfach links (oder rechts) liegen lassen. Drittens prägt die Vorstellung der bestimmenden Kraft der Märkte die sogenannte »Standortdiskussion« von linker Seite, bei der es um die Folgen des »Neoliberalismus« geht. Aufgrund der Annahme, daß die negativen Folgen aus dem Rückzug des Staates und der Gewalt der Marktkräfte stammen, ist in dieser Debatte ein neuer reformistischer Ruf nach staatlicher Intervention und Regulierung systematisch angelegt - eine mächtige ideologische Quelle für die erneute Legitimation des Staates (wie sich exemplarisch an der Diskussion um ein Entsendegesetz oder der Forderung nach sozialen Standards im Rahmen von GATT zeigen ließe). Nicht ganz so aktuell, aber immer noch einen Teil der Debatte im sogenannten sozialrevolutionären Spektrum (Autonomie/NF, Materialien für einen neuen Antiimperialismus pp.) prägend, ist die Gegenüberstellung von »moralischer Ökonomie«, wie es sie in der Frühphase der proletarischen Bewegung gegeben habe, mit der reinen, also nicht-moralischen Ökonomie, wie sie heute dominiere. Diese unvollständige Aufzählung soll nur darauf hinweisen, daß wir an ganz vielen Punkten der aktuellen Debatten nur weiterkommen werden, wenn wir die Bedeutung von Markt und Tausch im Kapitalismus in kritischer Weise klären. Dazu gibt es bereits eine Reihe von Analysen - z.B. der Text »Plan, Kapital, Demokratie« von Riccardo Bellofiore im Zirkular Nr. 1 oder der Ansatz von Immanuel Wallerstein, auf den im Zirkular Nr. 20 hingewiesen wurde.

Klassendeals?

1. Fangen wir bei uns selbst an. Im Artikel »Bau - Boom - Basta!« in der Wildcat 64/65 wird die relativ streiklose Situation auf dem Bau bis Ende der 80er Jahre mit einem »nationalen Deal« zwischen Arbeiterklasse und Kapital erklärt. Im Beitrag »(Ge)schlechter Deal in Rußland« im Zirkular Nr. 20 heißt es: »Beziehungen zwischen Männern und Frauen sahen und sehen in erster Linie wie ein Deal aus...« In »Alles Toyota - oder was« im Zirkular Nr. 11 geht es um die »Aufkündigung des Klassenkompromisses, der für die Nachkriegszeit in den kapitalistischen Metropolen Geltung hatte«, und eine jüngere ArbeiterInnen-Generation läßt sich für mehr individuell bestimmte Freizeit auf die Flexibilisierung ein, was »so etwas wie ein 'Deal'« sei. Ähnlich wird im Beitrag über die Arbeit in einer Gebäudereinigungsfirma im Zirkular Nr. 23 »eine Art Deal« zwischen Chef und ArbeiterInnen beschrieben. Auch bei Karl Heinz Roth taucht der Sozialpakt, den das Kapital der Arbeiterklasse in der Nachkriegszeit angeboten hat (S. 170), auf. Usw.Usf. Auch in alltägliche Gespräche und Diskussionen hält die »Marktsprache« Einzug. So wird von individuellen »Kosten-Nutzen-Erwägungen« bei politischer Aktivität gesprochen, also Tauschgerechtigkeit auf einem politischen Markt gefordert. Das Reden von »Deals« ist nicht neu in der wildcat-spezifischen Theorie- und Diskussionsstruktur, gehört zum Jargon. Die sprachlichen Relativierungen »sieht aus wie«, »etwas wie«, »eine Art« oder Anführungszeichen weisen schon auf das Fragwürdige der Erklärung hin. Angesichts der neuen Dominanz von Marktideologien ist es aber nötig, diese Begrifflichkeit genauer und kritisch zu überprüfen. Zudem handelt es sich bei den »Deals« zwischen Arbeiterklasse und Kapital um eine Spätfolge »operaistischer« Theoriebildung - im Wildcat-Umfeld also von besonderer Brisanz.

»Deal« (engl. Geschäft, Handel, Abkommen) wird im Deutschen üblicherweise dann anstelle von Wörtern wie »Tausch« oder »Handel« gebraucht, wenn ein besonderer Tausch, ein in der Regel etwas anrüchiger Tausch gekennzeichnet werden soll, z.B. ein politisches Geschäft. Anrüchig deshalb, weil hier Dinge getauscht werden, die ihrer Natur nach eigentlich nicht Gegenstand von Tauschgeschäften sein sollten. Für Linke ist es daher z.B. ein »Deal«, wenn sich die Arbeiterklasse ihren revolutionären Willen mit ein paar Sozialreformen »abkaufen« läßt; oder »Liebe« - per definitionem das Gegenteil von Markt und Ware - zum Objekt von Tauschgeschäften wird. Im Kapitalismus sieht alles so aus wie ein Deal, wie ein Tauschgeschäft, oder kann so hingestellt werden, als wäre es ein Tausch. Dieser Eindruck wird dann auf die gesamte Geschichte zurückprojiziert (siehe die ausführliche Kritik daran im vierten Kapitel von Karl Polanyi's »The Great Transformation«) oder sogar bei den Naturwissenschaften in alles mögliche hineingedichtet, wenn z.B. die Art und Weise des Zusammenlebens bestimmter Tiere oder Pflanzen in sogenannten symbiotischen Formen als »Tauschbeziehung« charakterisiert wird. Diese Art und Weise, sich irgendwelche Beziehungen vorzustellen, ist enorm wichtig für den Kapitalismus, auf ihnen fußt das ganze Spektrum von Gerechtigkeitsvorstellungen und Legitimationsformen dieser Gesellschaft. Die wirklichen Zusammenhänge werden in ihnen unkenntlich gemacht. Arbeiterklasse und Kapital können sowenig unabhängig voneinander existieren wie Männer und Frauen (die so wie Arbeiter und Kapitalist nur ein besonderes historisches Produktionsverhältnis - in der Produktion von Menschen - verkörpern). Die Vorstellung, sie träten sich erst auf einem Markt (in diesem Fall einem politischen oder sexuellen Markt) gegenüber und würden dann entscheiden, ob und wie sie bestimmte Dinge oder Verhaltensweisen gegeneinander austauschen, ist offenkundig absurd. Als spontaner Eindruck ist sie so zählebig, weil »Existenz« in einem bürgerlichen Sinne verstanden wird, als juristisch-materielle Existenz (»ich baue mir eine Existenz auf...«), nicht als wirkliche, organisch-lebendige Existenz. Und weil in dieser juristischen Existenz das Versprechen auf individuelle Autonomie enthalten ist. Sie ist daher Ausgangspunkt in der bürgerlichen Wissenschaft und wird allen Verhältnissen untergeschoben. »Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen der 18.-Jahrhundert-Robinsonaden (...). In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten menschlichen Konglomerats machen. (...) Der Mensch ist im wörtlichen Sinne ein zoon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, daß nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.« (Marx) Es ist eine ganz bestimmte, historische Gesellschaftsform, in der sich Menschen vereinzeln und für unabhängig voneinander halten können. Damit ist auch die Unabhängigkeit eine besondere historische Form von Unabhängigkeit. Im Begriff der Selbständigkeit und Autonomie des Individuums wird diese verabsolutiert, zur Natureigenschaft des Menschen und zum moralischen Ideal erhoben. Während es in der wirklichen Geschichte Freiheit immer nur als Befreiung von bestimmten Zwängen und Nöten gibt, wird Freiheit in der bürgerlichen Auffassung zur Freiheit schlechthin und zum Anlaß unzähliger philosophischer Diskussion um das Wesen der Freiheit. Diese abstrakte Auffassung von Freiheit hat die Linke seit der französischen Revolution im wesentlichen immer mit dem bürgerlichen Lager geteilt. Für diese Freiheit ist der Tausch die Form des Zusammenhangs zwischen den einzelnen Individuuen, da er das Gegenteil von Zwang, Gewalt, Nötigung darstellt. Im Tausch erreichen beide Individuen ihren eigenen Zweck und handeln aus freien Stücken. [1]

Arbeiterklasse als bürgerliches Individuum?

Jetzt wird deutlich, daß die Auffassung der Beziehung zwischen Klassen oder Geschlechtern als »Deal« dem gutgemeinten aber mystifizierenden Zweck dient, diesen »Subjekten« wenigstens theoretisch ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu lassen. Wenn sich Frauen auf Männer in Form eines Deals einlassen, dann behalten sie der Form nach ihre Unabhängigkeit und Autonomie, verfolgen im Zusammenleben ihr eigenes individuelles Interesse. Das Dasein als »Frau« wird dabei aber als naturgegebener Ausgangspunkt hingenommen, was z.B. in den feministischen Diskursen um die »gesellschaftliche Konstruktion von Weiblichkeit« hinterfragt wird. Dann wäre die Vorstellung von einem »Deal« zwischen den Geschlechtern nur eine nachträgliche Legitimation der so konstruierten Wirklichkeit.

Ähnlich ist es mit der Klasse und ihren »Deals«. Die Arbeiterklasse bleibt im »Deal« ein autonomes Subjekt, bestimmt selber, was sie mit dem Kapital zu welchem Preis austauscht. In der Anwendung der »Tauschbeziehung« auf die Klassenbeziehungen erkenne ich (zumindest in unserer Diskussion) die Auswirkungen einer unhistorischen Übernahme operaistischer Theorieansätze, kombiniert mit einem verdinglichten Begriff von Arbeiterklasse, wie er sich historisch als »Arbeiterbewegung« herausgebildet hat. Angesichts der Tatsache, daß der Operaismus als explizite Kritik an dieser Arbeiterbewegung entstand, schlägt damit die politische Absicht des Operaismus in ihr Gegenteil um.

Im Operaismus war der Begriff der »Arbeiterautonomie« in einer spezifischen Bedeutung, nämlich als Ausdruck eines Antagonismus in einer konkreten historischen Situation, eingeführt worden. Später ist daraus eine Art überhistorischer Schlüssel zur Erklärung der gesamten Geschichte der Arbeiterklasse gemacht worden, was dazu führte, daß mit ihm auch die nicht-antagonistischen Seiten der Klassenbeziehungen interpretiert werden sollten. »Autonomie« bekam damit eine ganz andere Bedeutung, nicht mehr die antagonistische Autonomie, sondern die Autonomie im Tauschvorgang, wie sie ins Repertoire jeder reformistischen oder gewerkschaftlichen Vorstellung gehört. Inwieweit diese Umkehrung in der operaistischen Wortwahl - »Autonomie« für »Antagonismus« - oder sogar in im theoretischen Konzept schon angelegt oder enthalten war, will ich als offene, aber klärungsbedürftige Frage hier stehen lassen.

Von der Arbeiterautonomie zur Tarifautonomie?

In dem kurzen Text »Was ist Arbeitermacht? Materialien zur Kaderbildung«, der 1971 in der Zeitschrift »Potere Operaio« erschien, wird »Arbeiterautonomie« als Verweigerung gegenüber dem Reformismus bestimmt. »...gegenüber der neuen Programmatik des kapitalistischen Planstaats, gegenüber dem neuen Stand kapitalistischer Koordination auf internationaler Ebene, gegenüber dieser Maschine, die glänzend und perfekt und ohne einen schwachen Punkt zu sein schien, kam es darauf an, den schwachen Punkt zu finden. Und dieser schwache Punkt bestand darin, daß der Reformismus, daß der reformistische Plan sich notwendig - wie jeder reformistische Plan - auf den Konsensus der Arbeiterklasse stützen mußte. Das war der schwache Punkt, hier mußte man kämpfen, und zwar kam es darauf an, daß die Arbeiter den Konsensus und die Zustimmung zum Reformismus verweigerten. Genossen, dies war die Entdeckung der Autonomie.« Kurz darauf wird Arbeiterautonomie schon sehr allgemein dadurch bestimmt, »daß die gesamte Geschichte des Kapitals, die gesamte Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft in Wirklichkeit die Geschichte der Arbeiterklasse ist«. In der Ausführung bleibt jedoch klar, daß damit immer die antagonistische Dimension gemeint ist: »Die Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft ist die Geschichte eines aus Herrschaft bestehenden Gefängnisses, das um die lebendige Arbeit, um die Arbeitskraft, um die Arbeiter herum errichtet worden ist zu dem Zweck, Arbeit aus ihnen herauszupressen.« Und »Arbeiterautonomie« bleibt im Text stets als Charakterisierung bestimmter Kämpfe sichtbar: »...gegenüber dem Staat des Reformismus und der Entwicklung mußte man den Konsensus verweigern, die Regeln des Plans, die Vermittlung der Gewerkschaften ablehnen, die Programmierung eines vernünftigen Verhältnisses zwischen Lohndynamik und Produktivitätsdynamik zerschlagen ... Hierin bestand die Entdeckung der Autonomie, der Kämpfe um Lohn, der Möglichkeit eines offensiven ökonomischen Kampfes, der diesen neuen Staat des Reformismus, der Planung und Entwicklung aus den Angeln heben würde.« Oder an einer anderen Stelle: »Kampf gegen die Mitbestimmung, gegen den Versuch, die Arbeiter an der Verantwortung für die Ausbeutung zu beteiligen, Kampf gegen das Arbeitstempo, gegen die kapitalistische Mystifikation der unterschiedlichen Werte der Arbeit (die in Wirklichkeit dazu dient, die Arbeiter politisch zu spalten), Kampf gegen die Verklammerung von Lohn und Produktivität«. An dieser Stelle wird von »großartigen revolutionären Inhalten« gesprochen, aber das politische Ziel des Textes bestand damals darin, die Notwendigkeit des Übergangs von der Autonomie zur revolutionären Organisation zu begründen. Es handele sich dabei um den Übergang vom Kampf um ökonomische Forderungen (in der deutschen Übersetzung: »ökonomisch-revendikative Ebene«) zum offenen politischen Kampf auf der Ebene der Macht, zur Insurrektion. Im Vergleich zu späteren Verallgemeinerungen und abweichend von dem, was üblicherweise bei »Autonomie« gedacht wird, ist diese »Arbeiterautonomie« klar nach zwei Seiten hin abgegrenzt: sie ist Ausdruck des Antagonismus der Arbeiterklasse, der aber selbst noch nicht revolutionär ist. Indem sich die Klasse in ihren Kämpfen, die auf der Ebene ökonomischer Forderungen bleiben, von bestimmten Vermittlungsformen wie Gewerkschaft und der planstaatlichen Einbindung der Lohnforderungen in die Akkumulationsdynamik löst, »fesselt sie das Kapital an die Krise, zwingt es zum Anhalten der Entwicklung und zwingt damit die Unternehmer und den Staat, sich als offene, gegen die Arbeiter gerichtete Gewalt zu zeigen.« In dieser Weise wird durch die Arbeiterautonomie erst eine klassische revolutionäre Situation geschaffen - in der dann, Lenin's Vermächtnis, die revolutionäre Partei auf die Tagesordnung treten muß. Ich will hier nicht die leninistischen Schlußfolgerungen diskutieren, sondern nur klarmachen, daß »Arbeiterautonomie« hier etwas ganz bestimmtes meinte, was der Vorstellung von »Deals« zwischen Arbeiterklasse und Kapital zuwiderläuft.

Die im Begriff »Autonomie« mitschwingende Vorstellung von einem selbständigen Subjekt, ähnlich der Selbständigkeit des bürgerlichen Individuums in der Marktgesellschaft, wurde später in us-amerikanischen und westdeutschen Verarbeitungen des Operaismus zu dem Versuch, sich mithilfe von Deals bestimmte Klassenverhältnisse zu erklären. In einer politischen zugespitzten Situation hatte »Potere Operaio« die Arbeiterklasse in einem Vorgriff als selbständiges kollektives Subjekt in der Geschichte (!) gefordert, als das sie eigentlich erst im Akt ihrer Selbstaufhebung als Arbeiterklasse entstehen kann. Also erst, wenn sie aus dem Klassen- und Kapitalverhältnis heraustritt, durch das ihre »Autonomie« immer nur eine begrenzte sein kann. Oder wie Marx es als Perspektive formuliert hat, wenn die Menschen ihre Geschichte nicht nur machen, sondern aus freien Stücken machen - im Unterschied zur ganzen bisherigen Vorgeschichte. Die Zwieschlächtigkeit, mit der »Potere Operaio« den Begriff »Autonomie« bestimmt, verweist darauf, daß die Arbeiterklasse außerhalb einer revolutionären Situation nicht als autonomes Subjekt, sondern nur als Pol in der widersprüchlichen Einheit des Klassen- und Kapitalverhältnisses gedacht werden kann.

Die Redeweise vom »Deal« ignoriert diesen Zusammenhang und setzt an dessen Stelle den Mythos von zwei selbständigen Kräften, wie er in der üblichen gewerkschaftlichen und reformistischen Geschichtsbetrachtung gepflegt wird. Diese gewerkschaftliche Ideologie und ihre materielle Basis (s.u.) sind auch der eigentliche Inhalt der Redeweise vom »Deal«, machen sie plausibel. Das Fatale in unseren eigenen Diskussionen ist, daß sich dies hinter Versatzstücken operaistischer Theorie verstecken kann.

Mit dem »Deal« kommen unvermeidlich die mystischen Kräfteverhältnisse in Spiel, die in der traditionellen Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung gepflegt werden und den Klassenkampf als Ringkampf zwischen zwei Individuen ausmahlen. So wie in den Naturwissenschaft, so wird auch hier die Leerformel »Kraft« immer dann herangezogen, wenn ein Zusammenhang nicht gefunden oder erklärt werden kann. Besonders fatal ist die Redeweise vom »Kräftegleichgewicht« (daraus kann dann alles und nichts »erklärt« werden, da bei Gleichheit die Kräfte nichts Bestimmendes mehr sind), weil damit der oberflächliche Eindruck harmonischer Klassenbeziehungen bestätigt wird: »Der 'Sozialpakt' entstand aus einem Kräftegleichgewicht zwischen Kapital und Klasse. Aus der gegenseitigen Blockade wurde der Ausweg 'höhere Produktivität gegen Lohnsteigerungen' gefunden, eine Art Deal: auf der einen Seite soziale Zugeständnisse, abgesichert durch Repression, auf der anderen Abkehr von revolutionären Ansprüchen und Flucht in massenhafte individuelle Arbeitsverweigerung.« (Wildcat 64/65, S. 5)

Auf diese Weise wird auf eine kritische Analyse der Klassenverhältnisse verzichtet und stattdessen deren verdrehte Erscheinungsform an der Oberfläche nachgebetet. So wie der Lohn als Bezahlung der Arbeit erscheint und damit den Mehrwert, der aus der Differenz zwischen Wert der Arbeitskraft und verausgabter lebendiger Arbeit stammt, unsichtbar macht, so erscheint auch die Aufteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts auf die verschiedenen Klassen in Lohn, Unternehmensgewinn, Zins und Mieteinnahmen als ein Verteilungskonflikt, der im Prinzip zu einem gerechten Abschluß und harmonischen Miteinander der verschiedenen Parteien geführt werden kann. In »Erde-Rente, Kapital-Zins, Arbeit-Arbeitslohn stehn sich die verschiedenen Formen des Mehrwerts und Gestalten der kapitalistischen Produktion nicht entfremdet, sondern fremd und gleichgültig, als bloß verschieden, ohne Gegensatz gegenüber. Die verschiedenen Revenues fließen aus ganz verschiedenen Quellen, die eine aus der Erde, die andre aus dem Kapital, die andre aus der Arbeit. Sie stehen also in keinem feindlichen, weil überhaupt in keinem inneren Zusammenhang. Wirken sie nun doch in der Produktion zusammen, so ist das ein harmonisches Wirken, der Ausdruck von Harmonie, wie ja z.B. der Bauer, der Ochse, der Pflug und die Erde in der Agrikultur, dem wirklichen Arbeitsprozesse, trotz ihrer Verschiedenheit harmonisch zusammenarbeiten. Soweit ein Gegensatz zwischen ihnen stattfindet, entspringt er bloß aus der Konkurrenz, welcher der Agenten mehr vom Produkt sich aneignen soll, vom Wert, den sie zusammen schufen, und kommt es dabei gelegentlich zur Keilerei, so zeigt sich dann doch schließlich als Endresultat dieser Konkurrenz zwischen Erde, Kapital und Arbeit, daß, indem sie sich untereinander stritten über die Teilung, sie durch ihren Wetteifer den Wert des Produkts so vermehrt haben, daß jeder einen größeren Fetzen bekommt, so daß ihre Konkurrenz selbst nur als der stachelnde Ausdruck ihrer Harmonie erscheint.« (Theorien über den Mehrwert, 26.3, 493f.) [2]

Die Erscheinungsform des Klassenkonflikts als Konkurrenz zwischen verschiedenen Einkommensquellen gibt der Redeweise vom »Deal« seine Plausibilität. Daran ändert sich nichts, wenn Gegenstand des Deals nicht nur das Einkommen selber, sondern auch soziale Zugeständnisse, Arbeitszeit, oder wie im jüngsten »Deal« (O-Ton Zwickel) Arbeitsplätze werden. »Deals« können nur zwischen Subjekten geschlossen werden, die über eine formale Autonomie verfügen. In Gestalt der Gewerkschaften existiert ein solches juristisch anerkanntes Subjekt, daß mit anderen ebensolchen juristischen Subjekten Verträge abschließen kann. Die spezifische Autonomie, die hier für die Freiwilligkeit und Selbständigkeit im Vertragsabschluß sorgt, wird als Tarifautonomie bezeichnet. Sprechen wir von einem »Deal« zwischen Arbeiterklasse und Kapital, so ergibt sich zwangsläufig der Eindruck, Gewerkschaften und Unternehmerverbände seien die Verkörperung von Arbeiterklasse und Kapital als historische Subjekte. Bleiben wir aber bei der kritischen Analyse von Marx, dann können wir Gewerkschaften nur als juristisch fixierte Organisation einer bestimmten Einkommensform, des Lohns, begreifen, einer Einkommensform, durch die der innere Zusammenhang zwischen Arbeiterklasse und Kapital - Klassenverhältnis, d.h. Abtrennung von den Produktionsmitteln, Ausbeutung und Unterwerfung unter das kapitalistische Kommando - als sein Gegenteil, als Zusammenhanglosigkeit und gleichgültiges bzw. gleichberechtigtes Nebeneinander erscheint. Die mit der Vorstellung vom »Deal« unterschwellig betriebene Gleichsetzung von Arbeiterklasse und Gewerkschaft verbaut zum einen den Weg zu einer grundlegenden Kritik von Gewerkschaft (die Auseinandersetzung mit ihr weicht daher in der Linken auch regelmäßig auf moralische Empörung über »Verrat der Basis«, »Bürokratisierung« oder »Kollaboration mit dem Kapital« aus und rennt wie Don Quichote mit Idealen von ihrer »wahren« Aufgabe gegen diese Windmühlenflügel), zum anderen gibt sie all denen Recht, die unter Berufung auf die verdrehte Erscheinungsform des Klassenkonflikts als Konkurrenz verschiedener Einkommensquellen ein revolutionäres Anknüpfen am Klassenkampf für absurd erklären. [3]

Klassenkampffetisch?

2. Genau dies ist das Argumentationsmuster bei der Krisis-Gruppe, mit dem sie den Klassenkonflikt als einen im Kapitalverhältnis verbleibenden und nicht über es hinausweisenden Konflikt einordnen und damit politisch abhaken. Wichtig und ernstzunehmen ist hieran, daß sie in marxistischem Vokabular und mit dem Ziel der Überwindung des Kapitalismus die allgemein verbreiteten und berechtigten Vorbehalte systemkritischer Aktivisten gegenüber den realen Verteilungskämpfen theoretisieren (ähnlich auch bei Moishe Postone, siehe den Hinweis in Zirkular Nr. 18).

In ihrer Kritik (hier: Robert Kurz und Ernst Lohoff, Der Klassenkampf-Fetisch, in: Marxistische Kritik 7/89) bezieht sich Krisis auf die Auffassung von Klassenkampf im traditionellen Marxismus und wählt sich deren Bestimmung des »Klasseninteresses« als zentrale Subjekt-Kategorie zum Ausgangspunkt. (Eine geschickte Wahl, denn damit hat die Kritik schon gewonnen: im Interesse sind die Bedürfnisse bereits als gesellschaftlich bestimmte gefaßt, die »nur innerhalb der von der Gesellschaft gesetzten Bedingungen und mit den von ihr gegebenen Mitteln erreicht werden« können, wie Marx im Rohentwurf über das Privatinteresse (!) schreibt; d.h. das Bedürfnis nach Nahrung ist als Interesse am Verkauf der eigenen Arbeitskraft oder nach mehr Lohn schon gesellschaftlich bestimmt.) Statt nun aber das Ideologische im traditionellen Marxismus und seinem Begriff von »Klasseninteresse« zu kritisieren und es mit einer Analyse der wirklichen Zusammenhänge zu konfrontieren, behalten sie den Begriff bei, weisen die Eingebundenheit jeden Interesses in die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen nach - und meinen, sie hätten mit der Kritik an der marxistischen Ideologie schon etwas über die Wirklichkeit gesagt.

Da es - so die Kritik - nur eine Zirkulation, nämlich die des Kapitals, gibt, ist in sie »das 'Arbeiterinteresse' und der Tausch der Ware Arbeitskraft vollständig involviert«. Dann wird gesagt, daß die Ware Arbeitskraft in der Tat einige fundamentale Besonderheiten aufweise - diese werden aber letztlich nur nach der Seite des Kapitals hin betrachtet, nämlich ihre Eigenschaft als Gebrauchswert, also Verausgabung lebendiger Arbeit, mehr Wert zu produzieren, als sie gekostet hat. Dies unterschlägt einen anderen Unterschied, der durch die Wertform, die auch dem Lohn anheftet, nur schwach kaschiert wird. Ein Seidenweber aus Manchester formulierte diese Besonderheit, die die Vorstellung einer juristischen Gleichheit von Arbeit und Kapital ad absurdum führt, 1835 in plakativer Weise: »Unter Kapital kann ich nichts anderes als eine Anhäufung der Produkte der Arbeit verstehen. Arbeit wird immer auf den Markt gebracht von denjenigen, die nichts anderes besitzen oder zu verkaufen haben und die sie deshalb möglichst schnell loswerden müssen. Angenommen, ich würde mich in Anlehnung an das Verhalten der Kapitalisten weigern, die Arbeit, die ich in dieser Woche leisten könnte, zu verkaufen, weil mir kein angemessener Preis dafür geboten wird: kann ich sie in Flaschen abfüllen? Kann ich sie einsalzen? Diese Unterschiede zwischen der Natur der Arbeit und der des Kapitals genügen, um mich zu überzeugen, daß Arbeit und Kapital niemals in gerechter Weise den gleichen Gesetzen unterworfen werden können.« (I/323) Diese Unmöglichkeit Arbeit einzusalzen, hindert Kurz/Lohoff nicht daran, die Warenform der Arbeitskraft im Lohn für das fundamentalere gegenüber der stofflichen Besonderheit zu halten (mit der dann auch die Ebene der Produktion von Mehrwert in den Blick käme, die bei ihnen völlig fehlt). Daher blieben die Arbeiter in der Verfolgung ihrer Interessen »notwendig in der Warenform, d.h. im Kapitalverhältnis befangen«. »Innerhalb der Warenform ist das 'Klasseninteresse des Proletariats' ein ganz gewöhnliches, stinknormales Konkurrenzinteresse, das zwar einen Gegensatz zu anderen Konkurrenzen-Interessen stiftet, aber als solches keineswegs einen 'unversöhnlichen'.« Bemerkenswert ist, daß sie hier fast wörtlich zu der Formulierung gelangen, mit der Marx im oben angeführten Zitat die verkehrten und verdrehten Erscheinungsformen des Klassengegensatz umreißt. Aber während es sich bei Marx um Erscheinungsformen handelt, in denen das Faktum der Ausbeutung, des Klassenverhältnisses usw. ausgelöscht sind, die daher kritisch durchdrungen werden muß (wofür es Marx zufolge erforderlich ist, verwickeltere Formen zu begreifen wie Profit, Zins, Unternehmerlohn usw., statt nur die Wertform!), meinen Kurz/Lohoff sie seien auf dem Wege der Ableitung zum wahren Wesen der Sache vorgedrungen. (Marx hat dieses tautologische Verfahren, mit Abstraktionen die konkrete Wirklichkeit zu erschlagen, aus der man zuvor durch Absehen von den bestimmten Konkretheiten die Abstraktionen gewonnen hat, an der bürgerlichen Wissenschaft immer wieder kritisiert, siehe z.B. GR/160f.)

Wollten sie mit ihren kritischen Bemerkungen die Mystifizierung und Versteinerung des Klassenkampfs zu dem, was gemeinhin »Arbeiterbewegung« genannt wird, kritisieren, so wären ihnen einige zutreffende Beobachtungen gelungen - zumal gegen jene, die sich auf eine rein antagonistische und ihren revolutionären Hoffnungen entsprechende Arbeiterklasse stützen wollen und dazu die widersprüchlichen Erscheinungsformen wie Gewerkschaften bzw. deren dem Klassenbegriff widersprechenden Charakter leugnen oder ignorieren. Indem sie aber Schein und Wesen in eins setzen, geht ihre Kritik am Gegenstand vorbei, und weist nebenbei darauf hin, daß sie das eigentliche Drama der Mystifizierungen und Fetischisierungen im Kapitalismus überhaupt nicht erfaßt haben.

Wie schwierig es ist, die Wirklichkeit mit dem Ableitungsschema zur Deckung zu bringen, zeigt sich an einem witzigen Mißverständnis, das ihnen unterläuft. Um das historische Phänomen von heftigeren Klassenkonflikten im letzten Jahrhundert in ihrer Analyse berücksichtigen zu können, führen sie diese darauf zurück, daß damals die Warenform der Arbeitskraft sich noch nicht vollständig durchgesetzt hätte. In den Klassenkämpfen, aus denen der traditionelle Marxismus seine Klassenbegrifflichkeit entwickelte, sei es darum gegangen, die Warenform der Arbeitskraft überhaupt durchzusetzen. »Dieser falsche Schein konnte nur entstehen, solange die 'Arbeiterklasse' innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht als offizielles Konkurrenzsubjekt anerkannt war, solange sie also noch gegen den halbfeudalen Staat und/oder gegen mächtige Einzelkapitale ihre 'Koalitionsfreiheit', überhaupt ihre 'Rechte' als warenförmiges soziales Subjekt geltend machen und durchsetzen mußte.« Das die halbfeudalen Reste bei der Ausprägung der sozialistischen Arbeiterbewegung - zumal in Deutschland - eine wichtige Rolle spielten, ist in der Geschichtswissenschaft unumstritten. Aber die Koalitionsfreiheit wurde gerade deswegen verweigert, weil sie gegen die Warenförmigkeit der Arbeitskraft verstieß, so wie die feudalen Zünfte, mit denen sich die Unternehmer bei der Schaffung eines freien Arbeitsmarktes auseinandersetzen mußten. All das, was Kurz/Lohoff als Durchsetzung der Warenform der Arbeitskraft betrachten - Koalitionsfreiheit, Anerkennung des »Arbeiterinteresses«, soziale Rechte usw. -, sind in Wirklichkeit gravierende Verstöße gegen die Warenform. Neoklassiker und Liberale werden nicht müde, auf diese marktwidrige Monopolisierung der Ware Arbeitskraft zu verweisen. Ebenso ist historisch offensichtlich, daß sich Arbeitskraft spätestens seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr wie jede stinknormale Ware verhält, daß z.B. ihre Preisbewegungen keineswegs dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage unterworfen sind, sondern eine für die Kapitalisten ärgerliche »Starrheit der Löhne nach unten« auftritt. Was den Eindruck der Harmonie in der Konkurrenz, den Marx vor allem in Hinblick auf das bürgerliche Bewußtsein kritisiert, auch in der Arbeiterklasse zu einem wirksamen Faktor machte, war also gerade nicht die Durchsetzung des Warencharakters der Arbeitskraft, sondern dessen staatliche Einschränkung. Daß trotzdem der Eindruck bestehen bleibt, der Arbeitsmarkt sei ein Markt wie jeder andere, auf den die kritische Intelligenz von Krisis auch sofort hereinfällt, liegt daran, daß der Staat sorgsam darauf achtet, daß alle Eingriffe und Regulierungen den Schein einer gewissen Marktförmigkeit wahren: soziale Absicherung wird als Sozialversicherung organisiert, Lohnregelungen werden dem kollektiven Marktverhalten als Gewerkschaft unterstellt. (Wie wichtig der Staatsmacht diese Verschleierung ist, zeigt sich auch an dem zweijährigen Eiertanz um ein Entsendegesetz für die Bauindustrie: Obwohl es seit 1952 in der Bundesrepublik ein Mindestlohngesetz gibt, nach dem der Arbeitsminister per Verordnung Mindestlöhne und !arbeitsbedingungen festlegen kann, wird ein neues Gesetz auf den Weg gebracht, das nur die Frage der Allgemeinverbindlichkeit von neu auszuhandelnden Tariflöhnen klärt. Es wird also peinlich genau darauf geachtet, daß die damit betriebene Absenkung des Lohnniveaus als Resultat einer freien Vereinbarung, eines »Deals« zwischen Unternehmern und Gewerkschaften erscheint.)

Für die Krisis-Gruppe ist die Warenform, wie sie zu Beginn des ersten Bandes des »Kapitals« entwickelt wird, die elementare Grundform der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Lesart des »Kapital« ist nicht untypisch und aus dem Seminarmarxismus der 70er Jahre bekannt. Ihr wesentlicher Fehler besteht darin, die Übergänge und Umschlagpunkte in der Analyse der Ware, die ihre wirkliche Bestimmung bei Marx erst am Ende des dritten Bandes erfährt, nicht zu bemerken. Im ersten Kapitel scheint ihnen schon alles über die Ware gesagt und mit dem dort präsentierten Warenfetisch läßt sich trefflich die ganze Welt kritisieren. Da die Reihenfolge der Darstellung - Ware, Kapital, Produktion usw. - für einen logischen Ableitungszusammenhang genommen wird (eine Form der Darstellung, mit der Marx seiner eigenen Aussage zufolge in ironisch kritischer Weise »kokettierte« - und dadurch für viel geistige Verwirrung gesorgt hat!), erscheinen die historischen und gesellschaftlichen Grundlagen der im Kapitalismus verallgemeinerten Warenproduktion als Ableitungen aus der Ware bzw. der Warenform selbst. Indem die Ware als das Bestimmende genommen wird, ist zugleich der Markt zum Ausgangspunkt geworden. Die Lesart der Krisis reproduziert auf diese Weise die neoklassische Sichtweise und bestärkt die landläufigen Vorstellungen von einer »Marktwirtschaft«.

Die Wut eines kritischen Intellektuellen wie Detlef Hartmann, der die wirkliche geschichtliche Entwicklung und die Kämpfe gegen das Kapital zu begreifen versucht, auf diese marxistische Neoklassik ist verständlich: »Sicher können wir Ausbeutung 'ökonomisch' als Ausdruck eines warenförmigen Austauschs zwischen Kapital und Arbeitskraft und als Raub der über die notwendige Arbeit hinausgehenden Mehrarbeit beschreiben. Aber dies ist banal und oberflächlich. Denn Grund und Dynamik der Ausbeutung liegen in der sozialen Gewalt, die die Bedingungen der Vernutzung von lebendiger Arbeit durchsetzt, ständig vertieft und in neue gesellschaftliche Dimensionen treibt. Spätestens seit Beginn der sogenannten 'zweiten' industriellen Revolution Mitte des letzten Jahrhunderts ist die Illusion, dies sei die Gewalt des ›Marktes‹, auf dem sich Arbeit und Kapital gegenübertreten, als ideologischer Schein offensichtlich.« (Rassismus im Umbruch, in: Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 4, S. 58) Das unübersehbare Moment der gezielten und planenden Gewalt in der Geschichte des Kapitalismus, verschwindet bei der Krisis-Gruppe hinter recht gemütlich wirkenden Fetischformen und die »hinter unserem Rücken« wirkenden Gesetzmäßigkeiten der Warenproduktion entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als die »unsichtbare Hand« von Adam Smith. Nur daß diese dafür sorgt, daß sich naturwüchsig für alle der größtmögliche Reichtum ergibt, während uns jene zielsicher in die Krise des Kapitalismus führen, das Schema ist dasselbe. Historisch hat Hartmann allemal recht gegenüber solchen Darstellungen. In seiner kritischen Wut gegen diesen Marktmarxismus ignoriert er allerdings leichtfertig als »banal« das Drama der Mystifizierungen, die sich an der Markt- und Tauschförmigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen festmachen. Zum Zweck der moralischen Selbstvergewisserung über unsere Feindschaft gegen das kapitalistische System müssen alle Eindrücke von Tauschgerechtigkeit und Marktharmonie weggewischt werden. Für eine revolutionäre Theorie ist es aber ebenso wichtig, die Legitimationsformen dieser Gewaltverhältnisse zu begreifen, um Bruchpunkte in ihnen zu finden und sie angreifen zu können - und da liegt die Bedeutung der marktförmigen Mystifizierungen. [4]

Umschlag des Eigentumsgesetz der Warenproduktion in Gesetze der kapitalistischen Aneignung

3. Bis hierher ging es darum, daß wir mit der Redeweise vom Deal den Klassenkonflikt in irreführender Weise als einen marktförmigen Tauschprozeß bestimmen. Gut, könnten wir jetzt sagen, aber was die Güterproduktion betrifft, so ist der Kapitalismus doch sehr wohl eine »Marktgesellschaft«. Noch einmal zurück zum Gang der Analyse bei Marx: Er verläßt ziemlich schnell die Ebene der einfachen Warenanalyse und zeigt, daß der Verallgemeinerung der Ware das Klassen- und Kapitalverhältnis historisch und logisch vorausgesetzt ist. Damit verändert sich auch die Bedeutung der Warenform des Lohnes, aus der die Krisis meint, alles Nötige über die Bedeutung des Klassenkampfs ableiten zu können. Es lohnt sich, diese Argumentation bei Marx kurz nachzuvollziehen - an ihr läßt sich die gesamte Schwäche der Marx-Rezeption bei Krisis ablesen. Unter anderem hieran hat sich auch eine Abspaltung von der Krisis-Gruppe festgemacht, die zwar weiterhin wie diese auf einem erschreckend unhistorischen Niveau argumentiert, aber die »Kritik der politischen Ökonomie« etwas sorgfältiger behandelt.

Im 22. Kapitel untersucht Marx die »Verwandlung von Mehrwert in Kapital«, also die allgemeine Grundlage jeder Akkumulation. Dabei stößt er auf eine völlige Umkehrung der Eigentumsgesetze. In der einfachen Warenproduktion (die Marx nur fiktiv annimmt, die aber eine reale historische Sphäre darstellt, s.u. zu Braudel) beruht das Eigentum an einer Ware auf der eigenen Arbeit. Der Schuster verkauft die Schuhe, die er selber produziert hat. Bei dem einzelnen Austausch zwischen Kapitalist und Arbeiter, bei dem sich vorgeschossenes Kapital in Geldform gegen die Ware Arbeitskraft austauscht, ist noch alles in Ordnung. Der Arbeiter erhält die Reproduktionskosten seiner Arbeitskraft. Gehen wir von einem fiktiven Beginn des Kapitalismus aus, so beruht auch das Kapital des Unternehmers auf eigener Arbeit (oder Ererbten, wie es die Legende will). Es findet also Austausch zwischen Gleichen statt. Selbst der Mehrwert, den der Kapitalist dadurch schöpft, daß das Produkt mehr hinzugefügte lebendige Arbeit enthält, als er dem Arbeiter im Lohn gezahlt hat, führt zu keiner wesentlichen Veränderung in der gesellschaftlichen Dynamik, solange er diesen einfach konsumiert. Beim nächsten Tauschakt würden sich beide wieder als Eigentümer von Waren gegenüberstehen, die sie aufgrund ihrer eigenen Arbeit besitzen. Eine wesentliche Änderung tritt ein, sobald Akkumulation stattfindet. Die im Produktionsprozeß vom Kapitalisten angeeignete fremde Arbeit wird als neues Kapital vorgeschossen, um sich mehr fremde Arbeit anzueignen. »Eigentum an vergangener unbezahlter Arbeit erscheint jetzt als die einzige Bedingung für gegenwärtige Aneignung lebendiger unbezahlter Arbeit in stets wachsendem Umfang.« (609) Damit findet das statt, was Marx als »Umschlag des Eigentumsgesetz der Warenproduktion in Gesetze der kapitalistischen Aneignung« bezeichnet. Es handelt sich dabei nicht um ein historisches Umschlagen, da es eine Gesellschaft der einfachen Warenproduktion nie gegeben hat und die Ware selber erst da zur Elementarform des Reichtums wird, wo schon kapitalistisch produziert wird. Marx meint einen logischen Umschlag in Bezug auf den Schein der »Marktgesellschaft«, alles Eigentum beruhe auf eigener Arbeit. »Der Austausch von Äquivalenten, der als die ursprüngliche Operation erschien, hat sich so gedreht, daß nur zum Schein ausgetauscht wird, indem erstens der gegen Arbeitskraft ausgetauschte Kapitalteil selbst nur ein Teil des ohne Äquivalent angeeigneten fremden Arbeitsprodukts ist und zweitens von seinem Produzenten, dem Arbeiter, nicht nur ersetzt, sondern mit neuem Surplus ersetzt werden muß. Das Verhältnis des Austauschens zwischen Kapitalist und Arbeiter wird also nur ein dem Zirkulationsprozeß angehöriger Schein, bloße Form, die dem Inhalt selbst fremd ist und ihn nur mystifiziert. Der Inhalt ist, daß der Kapitalist einen Teil der bereits vergegenständlichten fremden Arbeit, die er sich unaufhörlich ohne Äquivalent aneignet, stets wieder gegen größeres Quantum lebendiger fremder Arbeit umsetzt.« (609)

Zwei Punkte sind hier hervorzuheben, ein methodischer und ein inhaltlicher:

a) Jeder Tauschakt Arbeitskraft-Lohn für sich genommen gehorcht nach wie vor den Gesetzen des gerechten Austauschs gleicher Werte. Das Umschlagen in sein Gegenteil, beständige Aneignung fremder Arbeit durch zuvor angeeignete fremde Arbeit, wird erst in der dynamischen Analyse, in der Betrachtung des Kapitalverhältnis als Prozeß sichtbar. Da es ganz offensichtlich zum Wesen des Kapitals gehört, prozeßhaft zu sein, ständig zu akkumulieren, sich auszuweiten, scheint diese Feststellung banal. Aber gerade zu dieser dynamischen Analyse dringt weder die Neoklassik noch die kurzsche Warenkritik vor, weshalb sie weiterhin den Märkten bzw. der Warenform eine Bedeutung zumessen, die sie höchstens in einem fiktiven statischen Zustand haben könnten.

In der Betonung der dynamischen Analyse, der Auffassung der gesellschaftlichen Bestimmtheiten nicht als Ding, fixes Subjekt oder Struktur, sondern als Prozeß und Geschehen, liegt die Bedeutung des Wirtschaftswissenschaftlers Joseph Schumpeter. Es ist daher kein Zufall, daß sich alle - von Wallerstein bis Hartmann und Bellofiore -, denen es um die tatsächlichen historischen Tendenzen des Kapitalismus geht, auf ihn beziehen. In vielen Punkten hat er - politisch auf der entgegengesetzten Seite stehend - Marx sehr viel besser verstanden als ganze Schulen von »Marxismen«: »Als wesentlicher Punkt ist festzuhalten, daß wir uns bei der Behandlung des Kapitalismus mit einem Entwicklungsprozeß befassen. Es mag merkwürdig scheinen, daß ein so offensichtlicher Sachverhalt, der zudem schon längst von Karl Marx hervorgehoben worden war, überhaupt übersehen werden kann. Und doch wird er von jener fragmentarischen Analyse, die den Großteil unserer Behauptungen über das Funktionieren des modernen Kapitalismus liefert, beharrlich vernachlässigt.« Bei diesem Entwicklungsprozeß handele es sich nicht um eine bloß quantitative Zunahme, eine Anhäufung von Kapital, wie es in der linken Diskussion um Akkumulation oft verstanden wird. »Der Kapitalismus ist also von Natur aus eine Form oder Methode der ökonomischen Veränderung und ist nicht nur nie stationär, sondern kann es auch nie sein. Dieser evolutionäre Charakter des kapitalistischen Prozesses ist nicht einfach der Tatsache zuzuschreiben, daß das Wirtschaftsleben in einem gesellschaftlichen und natürlichen Milieu vor sich geht, daß sich verändert und durch seine Veränderung die Daten der wirtschaftlichen Tätigkeit ändert (...). Auch ist dieser evolutionäre Charakter nicht einer quasi-automatischen Bevölkerungs- und Kapitalzunahme oder den Launen des Geldsystems zuzuschreiben (...). Der fundamentale Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und hält, kommt von den neuen Konsumgütern, den neuen Produktions- oder Transportmethoden, den neuen Märkten, den neuen Formen der industriellen Organisation, welche die kapitalistische Unternehmung schafft. (...) Die Eröffnung neuer, fremder oder einheimischer Märkte und die organisatorische Entwicklung vom Handwerksbetrieb und der Fabrik zu solchen Konzernen wie dem U.S.-Steel illustrieren den gleichen Prozeß einer industriellen Mutation (...), der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozeß der 'schöpferischen Zerstörung' ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum. Darin besteht der Kapitalismus und darin muß auch jedes kapitalistische Gebilde leben.« (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 136f.)

In diese Richtung zielt auch die Kritik von John Holloway an der verdinglichten Betrachtungsweise des Kapitals, allerdings in revolutionärer Absicht. Während Schumpeter aus seiner Analyse zu einer pessimistischen Prognose für die Zukunft des Kapitalismus gelangt, will Holloway zeigen, daß wir uns mit einer verdinglichten Betrachtungsweise des Kapitals in einer politisch-revolutionären Praxis selber im Wege stehen: »Wenn wir jedoch nicht die Herrschaft und Reproduktion des Kapitals verstehen wollen, sondern seine Verletzlichkeit und Brüche, wenn, mit anderen Worten, wir nicht verstehen wollen, wie der Kapitalismus funktioniert, sondern wie er zerstört werden kann, dann müssen wir die Dinglichkeit des Kapitals aufknacken, seine Tatsächlichkeit aufbrechen, die Illusion zerbrechen, Edas Kapital ist, das Kapital bewegt sich, das Kapital herrscht, so ist das haltD. Das ist der Grund, warum Marx einen so großen Teil seines Lebens damit verbrachte, zu beweisen, daß das Kapital kein Ding ist, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, ein gesellschaftliches Verhältnis, das in der fetischisierten Form eines Dings existiert.« (Zirkular Nr. 19, S. 48). Was bei Schumpeter die ununterbrochene schöpferische Zerstörung ist, faßt Holloway als die endlose Flucht des Kapitals vor der Aufsässigkeit der Mehrwertproduzenten, von denen es abhängt.

Erst eine dynamische historische Analyse ermöglicht auch die Untersuchung dessen, was wir Arbeiterklasse nennen, statt sie nur dogmatisch zu behaupten. Als Ding oder fixes Subjekt, das dies oder jenes tut, mal kämpft, mal Deals abschließt usw., ist sie nicht zu fassen. Arbeiterklasse ist die andere Seite, der innere Widerspruch der Dynamik, die Kapital genannt wird. In Ableitungszusammenhängen zwischen Kategorien oder als statisches soziologisches Subjekt existiert sie wirklich nicht.

»Soziologen, die die Zeitmaschine angehalten haben und - unter beträchtlichem Aufwand an begrifflichem Geächze und Gestöhne - in den Motorraum hinabgestiegen sind, erzählen uns, daß sie nicht in der Lage waren, irgendwo eine Klasse zu lokalisieren oder zu klassifizieren. Sie können nur eine Vielzahl von Menschen mit verschiedenen Beschäftigungen, Einkommen, Status-Hierarchien und was es sonst so gibt, finden. Sie haben natürlich recht, 'Klasse' ist ja nicht dieser oder jener Teil der Maschine, sondern die Art und Weise, wie die Maschine funktioniert, wenn sie einmal in Gang gesetzt ist - nicht dieses und jenes Interesse, sondern die Reibung von Interessen - die Bewegung selbst, die Hitze, das donnernde Getöse. Eine Klasse ist eine soziale und kulturelle Formation (oft mit institutionellem Ausdruck), die nicht abstrakt oder isoliert definiert werden kann, sondern nur über die Beziehung zu anderen Klassen; und im Grunde kann diese Definition nur im Medium der Zeit vorgenommen werden - Aktion und Reaktion, Veränderung und Kampf. Wenn wir von einer Klasse sprechen, dann denken wir an einen sehr lose definierten Zusammenhang von Menschen, die dieselbe Anhäufung aus Interessen, sozialen Erfahrungen, Traditionen und Wertsystemen teilen, die dazu neigen, wie eine Klasse zu handeln, sich selbst in ihren Handlungen und ihrem Bewußtsein im Verhältnis zu anderen Gruppen klassenmäßig zu bestimmen. Aber Klasse selbst ist kein Ding, sondern ein Geschehen.« (E.P.Thompson)

Die Brisanz des Vorschlags von K.H.Roth, seiner These von der neuen »Proletarität«, liegt darin, daß sie in einem solchen dynamischen Sinne an die Klassenverhältnisse herangeht - auch wenn er dies nicht explizit sagt oder es hinter einer gewissen (Fremd-) Wortgewaltigkeit verborgen bleibt. Der heftige Streit um seine Behauptung einer »Nivellierung« in den Klassenverhältnissen hat viel damit zu tun, daß seine Kritiker diese Behauptung auf eine verdinglichte, statische Vorstellung von Arbeiterklasse beziehen (und dann kann man immer nur eine Vielzahl von Unterschieden finden), während es ihm um die Vereinheitlichung in einer Dynamik, in einem Prozeß geht, der selber das ausmacht, was wir Klasse nennen. [5]

b) Der zweite, inhaltlich wichtige Punkt bei diesem Umschlagen der Eigentumsgesetze der Warenproduktion in Gesetze der Aneignung fremder Arbeit betrifft das Verhältnis von Produktion und Markt, von Planung und Konkurrenz. Getauscht, sagt Marx, wird nur noch zum Schein, der wesentliche Vorgang, der durch diesen Schein nur verdeckt wird, ist die Produktion des Mehrwerts. Die Dynamik dieser Mehrwertproduktion nennen wir Akkumulation, also Mehrwertproduktion mittels Mehrwert (statt der »Warenproduktion mittels Waren« eines Sraffa!). Dadurch verändert sich auch die Logik des Tauschens fundamental - bis in die quantitativen Austauschverhältnisse hinein. Zu Beginn der Analyse im »Kapital« ging Marx als Konsequenz der Warenanalyse und der Wertbestimmung durch Arbeit davon aus, daß Waren im Verhältnis zu den in ihnen enthaltenen Arbeitsmengen getauscht werden. Die kapitalistisch produzierten Waren, bei denen es um den in ihnen enthaltenen Mehrwert geht, tauschen sich in einem völlig anderen Verhältnis, nämlich im Verhältnis des zu ihrer Produktion benötigten Kapitals. »Die ganze Schwierigkeit kommt dadurch hinein, daß die Waren nicht einfach als Waren ausgetauscht werden, sondern als Produkt von Kapitalen, die im Verhältnis zu ihrer Größe, oder bei gleicher Größe, gleiche Teilnahme an der Gesamtmasse des Mehrwerts beanspruchen.« (Das Kapital III, 184 - dieser Punkt führt auch in Kapitalschulungen immer wieder zu Überraschung und Verwirrung, da bei der Lektüre des ersten Bandes die Analyse der Ware als abgeschlossen gilt und dann auf einmal alles ganz anders sein soll, als es zuvor gelehrt wurde!) In der Analyse der Herausbildung einer Durchschnittsprofitrate zeigt sich, wie die Konkurrenz, die scheinbare Feindseligkeit der Kapitalisten untereinander auf dem Markt, nur den gesellschaftlichen Charakter der Produktion zur Geltung bringt. Das Kapital kommt verrückterweise gerade durch diese konkurrenzhafte Ausgleichsbewegung zur Durchschnittsprofitrate »zum Bewußtsein als eine gesellschaftliche Macht« (Marx). Nicht mehr die Warenform und der Markt ist der Ausgangspunkt, sondern die gesellschaftliche Macht über die Mehrwertproduzenten im Produktionsprozeß, die durch die Warenform nur vermittelt wird.

Die Dynamik, die historische Entwicklung des Kapitalismus, ist daher aus dem Marktgeschehen nicht zu verstehen. Die neoklassische Theorie und ihre Wiederholung in der »marxistischen Kritik der Ware« geht von den Märkten, der Warenform der Produkte, als regulierenden und bestimmenden Ausgangspunkten aus. Die Produktion paßt sich den Märkten an, es wird für einen vorhandenen Bedarf produziert, alles wird in Ware verwandelt usw.. Die Theorie der »flexiblen Spezialisierung« von Piore/Sabel oder die Betonung der »Kundenorientierung« in Gruppenarbeitskonzepten stärken diese Vorstellungen - und zeigen, wie notwendig die Auseinandersetzung mit ihnen ist. [6]

Die Betrachtung der Märkte geht an dem entscheidenden Punkt vorbei: die kapitalistische Dynamik innerhalb der Mehrwertproduktion schafft völlig neue Dinge und neue Produktionsverfahren, und revolutioniert von dort aus die Organisation der Produktion und der gesellschaftlichen Beziehungen. In welchem Maße und wie für die Vermittlung dieser Beziehungen Märkte und Tauschvorgänge eine Rolle spielen, bzw. als tauschförmige dargestellt werden, wird dabei durch die Organisation der Mehrwertproduktion bestimmt - wobei Organisation alles einschließt, vom Kommando des Kapitals innerhalb der Produktion bis zur Ausübung seiner gesellschaftlichen Macht als Staat und Nationalstaat. In einem vor kurzem erschienen Buch, das den »Mythos der Marktwirtschaft« in einer gründlichen Auseinandersetzung mit der ganzen Theoriegeschichte der Ökonomie demontiert, wird die Wichtigkeit des von Marx gewählten Ausgangspunkts betont: »Außer Marx hat kein anderer Ökonom in der Geschichte des ökonomischen Denkens die Schlüsselfragen der Beziehung zwischen Arbeit und Management auf der Produktionsebene - insbesondere die arbeitssparenden technologischen Veränderungen und das Problem der Verausgabung von Arbeit - ins Zentrum einer mikroökonomischen Theorie der Produktion und der Einkommensverteilung gerückt. In der Analyse der kapitalistischen Ökonomie war Marx zudem ein Pionier in der historischen Analyse der dynamischen Wechselwirkung zwischen Organisation und Technologie - was er als Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte bezeichnete - als den Motor des ökonomischen Wachstums.« (William Lazonick, Business Organization and the Myth of the Market Economy, 1991, S. 270) Lazonick, ein Wirtschaftswissenschaftler und !historiker aus der Schule der »Radicals«, nimmt Marx als Historiker ernst, der nicht in einem dialektischen Denkprozeß, sondern durch die Analyse der tatsächlichen historischen Entwicklung zu seinen Aussagen über den Kapitalismus kommt. Gerade indem er durch eigene historische Analysen historische Irrtümer bei Marx aufdeckte (z.B. zu den Einhegungen oder zur »self-acting mule« und Marx Überbetonung der Technologie, siehe den Hinweis in »Klassenkampf-Krise-Kommunismus?« in Zirkular Nr. 1), stieß er darauf, daß Marx' Betonung der Organisation der Ausbeutung gegenüber dem Marktgeschehen der entscheidende Schlüssel zum Verständnis der Geschichte war.

Markt und Plan (-staat)

4. Aufgrund der Übermacht der Marktideologie und des Geredes vom »Neoliberalismus« in der heutigen Zeit, geht es vorrangig darum, den »Mythos der Marktwirtschaft« anzugreifen, wie Lazonick oder auch Bellofiore es tun. In den 60er und 70er Jahren dieses Jahrhunderts stand die Linke vor dem umgekehrten Problem. Da der Kapitalismus sich offensichtlich mehr und mehr wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Planungsinstrumente bediente und dies offen verkündete (siehe dazu die beiden von Bellofiore herausgearbeiteten Halbzeiten im Plan-Markt-Match!), befand sich die Linke in einem dramatischen Dilemma. In den Sozialismusvorstellungen der II. und III. Internationale war Planung immer der (linke) Gegensatz gegen den (rechten) Markt gewesen. Nun schien aber der Kapitalismus selber die Entwicklung zu planen, also die Kernsubstanz des sozialistischen Ideals zu verwirklichen - zur Absicherung der Ausbeutung! Die Linke hatte den Kapitalismus wegen seiner Anarchie auf dem Markt, dem blinden Wirken der ökonomischen Naturgesetze in der Konkurrenz und deren krisenhaften Folgen kritisiert. Die rationelle Planung in der Fabrik war dagegen der durch den Kapitalismus hervorgebrachte Anknüpfungspunkt für eine geplante sozialistische Gesellschaft. Die von den Kapitalisten selber nicht durchschaubare Anarchie auf dem Markt galt als der historische Garant dafür, daß sich aus krisenhaften Prozessen Kämpfe der Arbeiterklasse und schließlich eine revolutionäre Situation ergeben würden. Die Planungsfähigkeit des Kapitalismus mußte daher Theoretiker wie Paul Mattick in einen tiefen Pessimismus stürzen, denn nun konnten Staat und Unternehmer ökonomische Krisen und damit das Auftreten revolutionärer Situationen verhindern. (Die von der »Autonomie/NF« behauptete Unmöglichkeit der Revolution aufgrund der vollständigen Unterwerfung der Arbeiterklasse unter das geplante kapitalistische Kommando nicht nur in der Produktion, sondern auch im Reproduktionsbereich, basiert auf einem ähnlichen Gedankengang wie Matticks Pessimismus.) Dieses Dilemma, in das sich die Linke mit ihren Gleichsetzungen von Sozialismus-Plan und Kapitalismus-Markt hineingeritten hatte, das die Radikalen deprimierte und den kommunistischen Parteien einen theoretisch glaubwürdigen Übergang zur reformistischen Beteiligung an den Staatsgeschäften erlaubte, war ein wichtiger Ausgangspunkt für die operaistische Kritik Anfang der 60er Jahre. »Da das Kapital durch die allgemeine Planung die mystifizierte Grundform des Mehrwertgesetzes unmittelbar von der Fabrik auf die ganze Gesellschaft ausweitet, scheint jetzt wirklich jede Spur des Ursprungs und der Wurzel des kapitalistischen Prozesses zu verschwinden. Die Industrie nimmt das Finanzkapital wieder in sich auf und projiziert die spezifische Form, die die Abpressung des Mehrwerts in ihr annimmt, auf gesellschaftliche Ebene: als 'neutrale' Entwicklung der Produktivkräfte, als Rationalität, als Plan. Damit wird der apologetischen Ökonomie ihre Aufgabe sehr erleichtert.« (Raniero Panzieri, Mehrwert und Planung, 1964, nachgedruckt in Thekla 7) Sie stellen die scheinbare Neutralität und Rationalität von kapitalistischer Maschinerie, Organisation und Planung in Frage (»Despotismus der Rationalität«), lenken den Blick weg von der Anarchie des Marktes auf den geplanten und organisierten Prozeß der Abpressung von lebendiger Arbeit in der Fabrik als dem eigentlichen Skandal und der wesentlichen Irrationalität des Kapitalismus. Die Ausweitung der Planung auf die gesamte Gesellschaft (»Fabrikgesellschaft«) steht dann nicht im Gegensatz zur kapitalistischen Marktgesellschaft, sondern ist eine Weiterentwicklung der historischen Tendenz des Kapitalismus, die auch Marx schon in der Herausbildung des Kreditwesens und des Aktienkapitals erkannt habe. Indem der »Marxismus« dies nicht sieht, sondern weiterhin Planung mit Sozialismus gleichsetzt, wird er selber zum »apologetischen Denken« (Panzieri). Um in dieser historischen Phase die lähmende und apologetische Rolle des Parteimarxismus bekämpfen zu können, muß Panzieri schon aus taktischen Gründen seine Argumentation sehr eng an den Texten von Marx entwickeln. Aber es ist nicht nur Taktik; indem er in Abgrenzung zu Lenin die Marx'sche Analyse des unmittelbaren Produktionsprozesses, der Rolle der Kapitalzentralisation im Akkumulationsprozeß und schließlich der Entwicklung des Kreditwesens als einen ersten Ansatzpunkt der kapitalistischen Planung in der gesellschaftlichen nachzeichnet, zeigt sich, »daß die Beziehungen zwischen dem Bereich der unmittelbaren Produktion und dem Bereich der Zirkulation sehr viel enger sind, als es anhand der Analyse des Verhältnisses zwischen unmittelbarer Produktion und Konkurrenz den Anschein hatte«, und daß »der historische Charakter des Produktionsprozesses unmittelbar Vorrang vor den Formen des von ihm abhängigen Zirkulationsprozesses hat« (ebd.). [7]

Diese Kritik am traditionellen Marxismus und seiner Konzentration auf die Anarchie der Märkte ist von zentraler Bedeutung für die Wende, die der operaistische Diskurs einleitet. Die Verhältnisse im unmittelbaren Produktionsprozeß kommen wieder in den Blick und werden zum zentralen Ansatzpunkt der politischen Initiative: »Im Fabriksystem besteht der anarchische Aspekt der kapitalistischen Produktion einzig in der Insubordination der Arbeiterklasse, in ihrer Ablehnung der Edespotischen RationalitätD.« (Panzieri) Angesichts des Erstarkens von Marktideologie, dem Schlagwort vom »Neoliberalismus«, der Einordnung der französischen Streikbewegung als eine »Revolte gegen das Europa der Märkte« usw. bekommt der Text von Panzieri eine neue Aktualität. Er kann davor bewahren, auf die neoliberalistische Schimäre mit einer Neuauflage des orthodoxen Marxismus und seiner politischen Planstaatskonzepte zu reagieren, und er zeigt, wie wichtig eine genauere Analyse der Organisiertheit der kapitalistischen Politik z.B. in Form des internationalen Kreditwesens wäre. [8]

Gegen den Parteimarxismus führt Panzieri Marx ins Feld, indem er zeigt, daß es bei ihm kein geschlossenes Schema von Marktanarchie contra geplanter Produktions gibt. Aber er ist souverän genug, um auf die eigentümliche Zweideutigkeit bei Marx hinzuweisen. Einerseits betone er den despotischen und zutiefst kapitalistischen Charakter der Planung, andererseits ergebe sich aus der »Betonung des Aspektes der gesellschaftlichen Anarchie als charakteristisches Merkmal des Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion« vor allem im ersten Band des »Kapital« doch wieder die Perspektive »den Plan als solchen als gundlegenden Wert des Sozialismus zu übernehmen«. Er betont, daß wir uns dieser Zweideutigkeit bewußt sein müssen, und daß daher die »Perspektive des Sozialismus« nicht in klarer Weise aus Marx herausgelesen werden kann. Was die theoretischen Aussagen betrifft, bleibt er allerdings bei der irreführenden historischen Einordnung des von Marx analysierten Kapitalismus als »Epoche der Konkurrenz« und gewisses »Stadium« in der Entwicklung, wie sie sich auch im traditionellen Marxismus findet. Allerdings dreht er dessen Auffassung um: während dort der organisierte und monopolistische Kapitalismus, der erst nach Marx die historische Bühne betreten habe, als Abweichung vom reinen und voll ausgebildeten Kapitalismus und damit als letztes Stadium eines »faulenden« Kapitalismus verstanden wird, sieht Panzieri in der zunehmenden Organisiertheit gerade die Weiterentwicklung und Durchsetzung der despotischen Rationalität der Mehrwertabpressung.

Die Vorstellung einer Epoche des Konkurrenzkapitalismus muß aber historisch in Frage gestellt werden, womit sich auch die theoretischen Probleme in einem neuen Licht zeigen. Polanyi hat gezeigt, daß es in der Geschichte keine den Märkten selber innewohnende Tendenz gibt, sich auszuweiten, daß die Ausweitung von Märkten nur durch gezielte und gewaltsame Eingriffe zustandekam. Weil von der liberalistischen Ideologie die Ausweitung der Märkte als »die natürliche Konsequenz eines allgemeinen Gesetzes des Fortschritts« dargestellt wurde, seien »das wahre Wesen und die Ursprünge des Handels, der Märkte, des städtischen Lebens und der Nationalstaaten fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt« worden (365). Dies ließe sich noch als Problem der Durchsetzung des Kapitalismus in Kinderschuhen fassen, wie es bei Marx einige Male heißt. Aber auch der »reife« Kapitalismus, den Marx vor Augen hatte, der englische Liberalismus, war keine »Marktwirtschaft«. Sein Setzen auf die Karte der freien Konkurrenz muß umgekehrt verstanden werden aus der besonderen historischen Stellung des britischen Empires und der innerenglischen Struktur der Produktion (s.u.). Allgemein ist herauszuarbeiten, daß Märkte immer schon die Existenz und regelnde Gewalt von Staaten voraussetzen, die mehr oder weniger mit dem organisierten Kapital verbunden sein können. Daher ist auch der Weltmarkt keine selbständige Kraft, die sich über den Nationalstaaten erhebt und ihnen etwas Fremdes aufzwingt, wie es in der aktuellen Debatte um »Globalisierung« dargestellt wird. In dem Maße, wie er sich entwickelt, entsteht eine allseitige Abhängigkeit, die nur die ökonomisch isoliert gefaßte Seite der Abhängigkeit ist, die nach der politischen Seite hin im globalen Staatensystem existiert. Wie Wallerstein herausarbeitet, ist der Prozeß des Kapitals von Beginn an ein globaler und fällt zusammen mit der Entwicklung des Staatensystems.

Der historische Mythos des Laissez-faire-Kapitalismus

5. Der Begriff »Neoliberalismus«, der heute in aller Munde ist (von der EZLN immerhin in einem kritischen Sinne, der nur zu leicht überlesen wird: »In 'Neoliberalismus' hat sich das historische Verbrechen der Privilegien, Reichtümer und Straffreiheiten umbenannt...«), knüpft an die Vorstellung eines historischen laissez-faire-Kapitalismus an. In der Einleitung zu »Mythos der Marktwirtschaft« skizziert Lazonick die historischen Grundlagen der Vorstellung von Adam Smith's »unsichtbarer Hand«. Da dieses liberalistische Kredo immer noch allen neoklassischen Gleichgewichtsvorstellungen zugrundeliegt und auch hinter den vulgärmarxistischen Auffassungen von den »hinter unseren Rücken vor sich gehenden Bewegungen« oder »stummen Zwängen der ökonomischen Verhältnisse« steckt, will ich dessen Demontage durch Lazonick hier ausführlicher (in Übersetzung) anführen. Diese Skizze lädt dazu ein, in der aktuellen linken Diskussion um »Globalisierung« und »Standortkonkurrenz« die theoretischen Voraussetzungen des »Neoliberalismus« genauer zu hinterfragen.

»Adam Smith ging bei seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung von dem Diktum aus, daß ›die Teilung der Arbeit begrenzt ist durch die Ausdehnung des Marktes‹. Je größer die Nachfrage, die einer Firma, einer Industrie oder einer nationalen Ökonomie gegenübersteht, um so mehr kann diese eine spezialisierte Arbeitsteilung ausweiten. Und für Smith sind die Produktivkräfte der Arbeit um so größer, je spezialisierter die Arbeitsteilung ist.

Smith behauptet nicht, daß die spezialisierte Teilung der Arbeit selbst durch den Markt koordiniert werden muß. Bei seinem Beispiel der Nadelmanufaktur ist es der Kapitalist und nicht der Markt, der koordiniert. Das Argument von Smith für den laissez-faire richtet sich vielmehr gegen die gesetzlichen Einschränkungen für das Kapital, sich dorthin zu bewegen, wo der größte Gewinn erwartet wird, d.h. dorthin, wo der größte Umfang (scope) einer spezialisierten Arbeitsteilung möglich ist. Würden diese Barrieren niedergerissen, so würde die unsichtbare Hand dafür sorgen, daß sich das Kapital in die Bereiche begibt, wo die Arbeitsteilung am weitesten getrieben werden kann.

Durch diese Argumente schlägt Smith institutionelle Veränderungen vor. Im britischen Kontext der 1770er Jahre bestand der politische Zweck von 'Wealth of Nation' [erschien 1776] darin, die merkantilistischen Institutionen anzugreifen, die die britische Wirtschaft in den letzten 200 Jahre eingerichtet hatte. Aber bei seinem Vorschlag institutioneller Veränderungen fehlte Smith eine dynamische historische Analyse. Bei seinem Anschlag auf diese Institutionen hätte sich Smith fragen sollen, warum sich der Britannien zur Verfügung stehende Umfang des Weltmarktes im späten 18. Jahrhundert in einer so einmaligen Weise unter britischer Kontrolle befand. Wenn Smith diese 'große Frage' gestellt hätte, wäre er möglicherweise gezwungen gewesen, eben die merkantilistischen Institutionen für das britische Ausmaß des Weltmarktes verantwortlich zu machen, die er angriff.

Insbesondere hätte Smith die Bedeutung der joint-stock trading companies wie der East India Company und der Royal Africa Company, gechartert von der britischen Monarchy, für die Öffnung neuer Märkte auf der ganzen Welt für britische Güter, vor allem Garn- und Kleidungsexporte bemerkt. Diese Gesellschaften wurden selbst wiederum, mit ihren überseeischen Organisationen und ihren bewaffneten Handelsflotten, zum Bollwerk für Britanniens internationale politische und militärische Macht.

Smith hätte dann erwähnt, wie Britannien seine politische Macht dazu nutzte, das Wachstum der Textilindustrie in Portugal und Irland zu ersticken, sodaß der Umfang des Marktes dieser Handelswaren durch britische Manufakturbetreiber bedient werden konnte. Er hätte vielleicht auch hervorgehoben, wie Britanniens siegreichen Kriege gegen die Spanier im 16. Jh., gegen die Holländer im 17. Jh. und gegen die Franzosen im 18. Jh. dazu beitrugen, daß die britischen Schiffe ihren Handel, wo und wann es ihnen beliebte, betreiben konnten. Smith hätte zugestanden, daß Britanniens wachsender Umfang des Marktes sei dem späten 17. Jh. auf ihrer sowohl diplomatisch wie militärisch ausgeübten nationalen Macht beruhte, die Navigation Laws einzuführen und zu stützen. Diese Gesetze, die bis weit ins 19. Jh. hinein andauerten, sicherten Britanniens Position als Umschlaghafen der Welt und schützten die britischen Manufakturen wirksam vor ausländischer Konkurrenz auf dem Heimatmarkt. Kurzgesagt, Smith hätte vielleicht die integrale Beziehung zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht beim Aufstieg Britanniens zur internationalen Vorherrschaft erkannt.

Mit seiner Konzentration auf die Arbeitsteilung als Quelle der wirtschaftlichen Entwicklung vereinfachte er auch die Transformation, die die britische Industrie in die Lage versetzte, den wachsenden Umfang des Marktes zu bedienen. Die Geschichte zeigt, daß die britische Antwort auf der Angebotsseite nicht einfach eine stärker spezialisierte Teilung der Arbeit war, wie sie von Smith in seinem Beispiel der Nadelmanufaktur ausgemalt wurde. Grundlegender war, daß diese Antwort eine Reorganisation der Art und Weise, in der produktive Arbeit sowohl in der Landwirtschaft wie in der Industrie ausgeübt wurde, enthielt.

In der Landwirtschaft schuf die Entstehung und das Wachstum von Marktgelegenheiten für den Verkauf von Wolle und Korn - Gelegenheiten, die durch merkantilistische Unternehmungen mit Unterstützung der Staatsmacht eröffnet wurden - Anreize, die Nutzung von Land von traditionellem Subsistenzanbau zu Anbau dieser handelbaren Güter umzuwidmen (to reallocate). Die Reorganisation des landwirtschaftlichen Bodens, die seit dem 17. Jh. in Britannien als das, was als Enclosurebewegung (Einhegungen) bekannt wurde, voranschritt, untergrub zwangsläufig die Lebensfähigkeit der traditionellen bäuerlichen Landwirtschaft. Während die enclosure Bewegung es auf der einen Seite der Britischen Landwirtschaft erlaubte, neue Gelegenheiten des kommerziellen Anbaus zu nutzen, schuf sie auf der anderen Seite eine beträchtliche Arbeitskraft enterbter Bauern mit nur noch schwacher Anbindung an das Land. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wandten sich viele dieser Bauern der »Haus-Industrie« zu - der Produktion von Gütern in ihren Häusern (cottages). Der bedeutendste Zweig der Hausindustrie waren Textilien - zuerst wollene unter Benutzung des einheimischen Rohstoffs, aber seit dem 18. Jh. zunehmend solche aus Baumwolle, wobei der Rohstoff über die dritte Seite des Dreieckhandels mit Afrika und den Amerikanern nach Britannien importiert wurde.

Es war die Expansion der Hausindustrie im 18. Jahrhundert, während der das Kapital zu den Arbeitern auf dem englischen Land floß, die die Basis für die britische Industrielle Revolution schuf. Das Auftauchen arbeitssparender Maschinentechnologien in den späteren Dekaden des 18. Jh. transformierte die produktiven Potentiale der Textilmanufaktur. Zunehmend wurden die Technologien in Fabriken angesiedelt, aber während der Industriellen Revolution expandierte die auf Handweberei beruhende Hausindustrie, in der die Produkte des auf mechanisierter Spinnerei beruhenden Fabriksystems weiterverarbeitet wurden. Schließlich, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts und mit der zunehmenden Exportorientierung der Textilindustrie, verdrängte die Mechanisierung die Handarbeit und die Fabrik ersetzte das Familienheim als die vorherrschende Produktionsstätte.

Der Aufstieg der Fabrik bedeutete eine dramatische Änderung in der Art und Weise, in der die Arbeiter ihren Lebensunterhalt zu verdienen versuchten. Aber selbst mit dieser stärker kollektivierten Produktionsweise blieb der Besitz und das Management der Firmen unter der Kontrolle von individuellen Eigentümern oder engen Partnerschaften. Wie ich in Kapitel 1 zeigen werde, verfügten die kapitalistischen Unternehmer - einmal abgesehen von den wohlbekannten Unternehmerfiguren der frühen industriellen Revolution wie Arkwright und Peel -, die die britischen Fabriken des 19. Jh. betrieben, im allgemeinen über recht beschränkte Managerfähigkeiten und begrenztes finanzielles Kapital. Daher wählten sie in der Regel für ihre Unternehmungen eine eng spezialisierte Branche der Industrie und einen geographischen Ort, der bereits über ein reichhaltiges Angebot der Schlüsselressourcen verfügte, insbesondere gelernte Arbeiter (die Hinterlassenschaft der früher vorherrschenden Hausindustrie), die unzuverlässige Maschinen in Betrieb halten und den Materialfluß in den Abteilungen sicherstellen konnten. Die vertikale Spezialisierung und industrielle Lokalisierung führte zu einer horizontalen Fragmentierung. Als Ergebnis davon entwickelten sich innerhalb der britischen Hauptindustrien Strukturen der industriellen Organisation, bei denen die Koordinierung der wirtschaftlichen Aktivitäten durch den Markt eine vorherrschende Rolle spielte.

Das Auftauchens dieser stark individualistischen Strukturen der industriellen Organisation im 19. Jahrhundert war es, was der Idee einer effektiven Steuerung der Wirtschaft durch eine »unsichtbare Hand« ihre Plausibilität verlieh. Aufgrund der Vorteile im internationlen Wettbewerb, die die Britische Industrie durch die Industrielle Revolution erreicht hatte, konnte sie die ungehinderten Marktkräfte auch für die internationale Ökonomie als ganze empfehlen. Da sie sich durch ihre Vorteile der ausländischen Konkurrenz auf den heimischen Märkten gewachsen sah, drängte sie andere Ökonomien, ihre Grenzen für die britische Waren zu öffnen.« (S. 2-5)

Die Analyse von Lazonick kritisiert nicht nur die Vorstellung eines reinen »Konkurrenzkapitalismus«, sie zeigt auch, wie sich die bestimmte - von Smith und Marx geteilte - Auffassung von der großen Rolle der freien Konkurrenz aus einer historisch spezifischen Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ergibt, die sich mit dem Siegeszug der us-amerikanischen und deutschen Unternehmen radikal ändern sollte.

Märkte und Monopole - die politische Ambivalenz des Marktes

6. Die Bestimmung des Kapitalismus als »Marktgesellschaft« erfolgte üblicherweise nicht nur in Abgrenzung zum Sozialismus, sondern historisch auch als Unterscheidungsmerkmal zum Feudalismus. In zwei Aufsätzen diskutiert Immanuel Wallerstein historische Befunde von Fernand Braudel, die auch diese Debatte »auf den Kopf« stellen (»Kapitalismus: Ein Feind des Marktes?« und »Braudel über den Kapitalismus oder Ealles verkehrt herumD«, in: Die Sozialwissenschaften »kaputtdenken«). In der »Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts« zeichnet Braudel ein Bild, in dem er dem Markt als der Sphäre kleiner Gewinne, der auf eigener Arbeit beruhenden Einkünfte, den Gegen-Markt, die Sphäre des Fernhandels, der Monopole, des gewaltsam erzwungenen Tauschs entgegenstellt und als »Kapitalismus« bezeichnet. Dort gibt es die großen Gewinne, Konzentration und Akkumulation, dort liegt der Ursprung der kapitalistischen Unternehmen. Das Spiel von Angebot und Nachfrage hat dort keine Rolle, entscheidend sind Monopolstellungen und der Einsatz der staatlicher und militärischer Macht zur Durchsetzung der eigenen Position. In der Analyse des »kapitalistischen Weltsystems« von Wallerstein spielt die gewaltsame Durchsetzung des »ungleichen Tauschs« eine zentrale Rolle. Das besondere im Kapitalismus sei, daß er diesen Vorgang hinter der scheinbaren Trennung zwischen einer ökonomischen und politischen Arena verstecken kann (siehe »Der historische Kapitalismus«, S. 25f.) Ähnlich unterscheidet Braudel zwischen der Marktwirtschaft als einer Welt der »klar erkennbaren, sozusagen transparenten Gegebenheiten« und der Welt des Kapitalismus als einer undurchsichtigen Sphäre, in der privilegierte Gruppen ihre Aktivitäten hinter Rechenverfahren und Transaktionen, die für die normalen Leute ein Buch mit sieben Siegeln blieben. Von der ersten Welt sagt er in Bezug auf das späte Mittelalter: »Der Markt bedeutet Befreiung, Öffnung, Zugang zu einer anderen Welt, Auftauchen an die Oberfläche.« Die Aufforderung Braudels und Wallersteins (und erst recht Polanyi's), nicht pauschal von Märkten zu reden, sondern genauer zu untersuchen, um welche konkreten Strukturen es sich handelt, ist wichtig. »Wir müssen uns von der simplizistischen Vorstellung befreien, daß der 'Markt' der Platz ist, an dem sich ein ursprünglicher Produzent und ein Endverbraucher treffen. (...) Im historischen Kapitalismus haben solche Marktplatz-Transaktionen (...) immer einen ganz kleinen Prozentsatz vom Ganzen ausgemacht. Die meisten Transaktionen waren Austausch unter zwei Zwischenherstellern, die in einer langen Warenkette angesiedelt waren«. (Der historische Kapitalismus, S. 24) Auf diesen verschiedenen Märkten herrschen unterschiedliche Gesetze, unterschiedliche Einflüsse von Monopolen oder staatlicher Macht. Der einfache Markt der kleinen Leute, diese vereinfachende Vorstellung, die sich bis hin zum weihnachtlichen Geschenkverhalten oder Wohngemeinschaftsbeziehungen auf alltägliche Erfahrungen stützen kann, ist sicherlich eine wichtige Legitimationsquelle für alle kapitalistischen Ausbeutungsmechanismen, die sich als tauschförmige Beziehungen darstellen lassen.

Theoretisch ist es hilfreich, sich in der Art von Braudel die Unsinnigkeit der liberalistischen Selbstdarstellung des Kapitalismus klarzumachen. Marx hat in seiner Analyse oft diesen kleinen Markt und seine Tauschgerechtigkeit unterstellt, um zu zeigen, wie sich hinter dieser Form Ungleichheit und Ausbeutung verbergen. Aber Monopole spielen in seiner Theorie die zentralere, grundlegendere Rolle. Schon die scheinbar banalste, als gegeben hingenommene Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise, die Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln, ist ein gigantisches Monopol; zunächst gewaltsam durch Einhegungen, Sklaverei usw. geschaffen, dann in einer realen stofflichen Gestalt des Produktionsapparates und damit lautloser befestigt: die Fabrik und Maschinerie als ein Produktionsmittel, das nur noch kollektiv bedient werden kann, dem die Arbeiterinnen und Arbeiter aber als atomisierte einzelne Warenverkäufer gegenüberstehen. Diese Atomisierung wird aufrechterhalten durch die Organisation der Produktion, die sich an der fixen Gestalt der Maschinerie, der Abtrennung des Wissens, der verfeinerten Formen des kapitalistischen Kommandos festmacht, und ebenso durch die Organisation der übrigen Lebensumstände in Wohnungsbau, Städteplanung, Gesundheitswesen, Schulen und die Verrechtlichung aller Beziehungen. Die Andeutungen lassen erahnen, wieviel Staat nötig ist, um dieses grundlegende Monopol dauerhaft zu sichern. Natürlich werden die Liberalen nicht müde, uns vom Gegenteil zu überzeugen, gerade jetzt, wenn sie mit dem Ruf nach mehr Selbständigen die allen gegebene Möglichkeit verkünden, als Kapitalist selber Eigentümer von Produktionsmitteln zu werden ...

Wallerstein fragt sich, welche politischen Konsequenzen sich aus der Umdrehung der Betrachtungsweise bei Braudel ziehen lassen. Es handele sich bei Braudels Ansichten vom Markt nicht um einen »versteckten Poujadismus« (eine nationalistische und reaktionäre Wählerbewegung in Frankreich in den 50er Jahren, um die sich kleine Geschäftsleute mit Existenzängsten scharten). »Wenn der 'Markt' die Domäne des kleinen Mannes, die Domäne der Freiheit im ständigen Kampf mit den 'Monopolen' ist, den Domänen der Großen, den Domänen der Beschränkung; und wenn Monopole nur aufgrund gewisser staatlicher Aktivitäten existieren, folgt dann daraus, daß der Kampf gegen die verschiedenen - wirtschaftlichen, politischen und kulturellen - Ungleichheiten tatsächlich ein und derselbe Kampf ist? (...) Für Braudels 'Markt' zu sein, scheint mir schließlich zu bedeuten, für die Durchsetzung der Gleichheit auf der ganzen Welt einzutreten. Das heißt, für die menschlichen Freiheiten zu kämpfen und somit auch für die Brüderlichkeit ...« (246). (Braudels Markt ist übrigens auch der Markt der »moralischen Ökonomie«, das Setzen Wallersteins auf ihn, ist also nicht unähnlich der politischen Perspektive, die in einigen Texten der »Materialien für einen neuen Antiimperialismus« durchschimmern.) Wallerstein meint, diese Sichtweise könne vielleicht eine ganz neue Perspektive für die systemfeindlichen Bewegung mit sich bringen - aber er bleibt vorsichtig. Er ist fasziniert von der Art, wie Braudel auf historischem Wege die traditionelle und falsche Gegenüberstellung von kapitalistischem Markt und feudaler oder sozialistischer Staatslenkung auflöst und umdreht. Was praktische Schlußfolgerungen betrifft, die Braudel selber nicht gezogen hat, bleibt er vorsichtig, formuliert Fragen, keine sicheren Antworten. Die Warnung vor dem »Poujadismus« zeigt, daß er die Gefahren einer zu optimistischen Schlußfolgerung sieht.

Systemkritische Ansätze, die hier und heute eine Übergangsperspektive entwerfen wollen oder nach Befreiungsmöglichkeiten suchen, kommen alle immer wieder auf die Ambivalenz des Tauschs zurück - einerseits Bestätigung individueller Autonomie, andererseits die mächtigste Legitimation für Ausbeutung und Herrschaft. In der Debatte um »Lohn für Hausarbeit« kritisierte die antikapitalistische Fraktion, daß Lohnabhängigkeit keine befreiende Perspektive sei. Als Möglichkeit des Ausbrechens aus der persönlichen Abhängigkeit des Hausarbeitsverhältnis war es für die einzelne Frau aber eine praktische erfahrene Befreiung, ihre Arbeitskraft selber als Ware verkaufen zu können - auch wenn dies gesamtgesellschaftlich mit der Ausweitung prekärer und nicht-existenzsichernder Ausbeutungsverhältnisse verbunden war. Selbst die neomarxistischen Warenkritiker kommen nicht an Vorstellungen von kleinräumigen Tauschbeziehungen und Naturaltausch vorbei, wenn sie in Zugzwang geraten und Vorschläge für die Zeit nach dem unausweichlichen »Zusammenbruch« des Kapitalismus präsentieren wollen, und knüpfen damit an alternativbewegte oder anarchistische Ideen an.

Sicher, Marx hatte schon zu seiner Zeit »die Albernheit der Sozialisten« kritisiert, »die demonstrieren, daß der Austausch, der Tauschwert etc. ursprünglich (in der Zeit) oder ihrem Begriff nach (in ihrer adäquaten Form) ein System der Freiheit und Gleichheit aller sind, aber verfälscht worden sind durch das Geld, Kapital etc. (...) Es ist ein ebenso frommer wie dummer Wunsch, daß der Tauschwert sich nicht zum Kapital entwickele, oder die den Tauschwert produzierende Arbeit zur Lohnarbeit. Was diese Herren von den bürgerlichen Apologeten unterscheidet, ist (...) das Gefühl der Widersprüche, die das System einschließt (...).« (GR/160) Für Marx ist der Tausch, so wie er existiert, die Basis der Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit, sie sind nur ideelle Widerspiegelungen der bürgerlichen Gesellschaft. Es könne daher nicht darum gehen, die schlechte gesellschaftliche Realität mit ihrer eigenen idealisierten Selbstauffassung zu konfrontieren, sondern um die Überwindung dieser Gesellschaft samt ihren idealisierten Ausdrücken.

Trotzdem bleibt das Modell des nichtkapitalistischen Marktes politisch attraktiv, weil es eine demokratische und dezentrale Alternative zu staatlichem Plan und/oder kapitalistischer Herrschaft anbietet. Bellofiore kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluß, daß »die Vorstellung von Marx über den Kommunismus (...) - man erlaube mir dieses Paradoxon - dem Liberalen Hayek sehr viel näher steht als der geläufigen marxistisch-leninistischen Doktrin, denn in Kohärenz mit den Ideen von Marx kann man unter Kommunismus nur die Dispersion der Macht verstehen.« Er geht allerdings einen Schritt weiter, der bei Braudel und Wallerstein fehlt, da in ihrer Betrachtung der unterschiedlichen Marktstrukturen deren Beziehung zu den jeweiligen Formen der Produktion fehlt. »Sich auf diesen Marx beziehen, heißt, gegen das Primat der Ökonomie zu kämpfen« und eine Kritik vorzuschlagen, die »nicht nur mit der zentralistischen, sondern auch mit der industrialistischen Tradition der Arbeiterbewegung bricht.«

Beim Versuch, die Ziele von Freiheit (Liberalismus) und materieller Gleichheit (Sozialismus) zusammenzuführen, landen wir also wieder an dem Punkt, den wir schon lange betonen: bei der Abschaffung der Arbeit. Solange das Individuum von der Arbeit abhängig bleibt, solange bleibt Privateigentum und Tausch die einzig mögliche Freiheit in den Beziehungen zwischen den Individuen. Aber es kommt nicht von ungefähr, daß diese Frage in den ansonsten äußerst kritischen politischen Vorschlägen von Wallerstein oder auch von Karl Heinz Roth ausgeklammert bleibt. Wir müssen uns über die Gründe dafür klar werden, statt nur dogmatisch an der Perspektive »Abschaffung der Arbeit« festzuhalten. Die erste Erschütterung lag im Operaismus selbst. Indem Panzieri betont, daß es bei Marx nicht bloß um die kapitalistische Anwendung von Maschinerie, Technologie und Wissenschaft geht (darauf konnte mit so einfachen Parolen wie »Die Wissenschaft in Volkes Hand!« geantwortet werden), sondern daß die stoffliche Gestalt der Technologie durch und durch kapitalistisch, die gesamte Rationalität selbst despotisch ist, zerstört er auch jedes naive Hoffen auf die vorhandenen Produktivkräfte als Basis für eine arbeitsfreie Gesellschaft. Durch die sogenannte »Ökologiefrage«, die von der Linken weitgehend bürgerlichen Strömungen überlassen wurde, gerieten die »Produktivkräfte« erst recht in Verruf. [9] Es gibt keine einfachen Antworten auf dieses Problem, aber wir können uns nicht um es herumdrücken, weil sonst alles Gerede von Revolution und Abschaffung der Arbeit frommer Wunsch bleibt, womit die Tendenz einhergeht, den Kampf gegen die Arbeit als anthropologische Naturkonstante »Faulheit« zu verstehen.

Der historische Kapitalismus als kritische Methode

7. Abschließend will ich nur einen methodisch wichtigen Punkt an dem Ansatz von Wallersteins »historischem Kapitalismus« verdeutlichen, ohne seine Thesen im einzelnen zu diskutieren. Er ist wichtig, weil er zu einer grundlegend anderen Auffassung von Kapitalismus als in traditionellen Analysen führt und damit ein kritisches Licht auf die aktuellen Globalisierungsdebatten wirft.

In dem Sammelband »Die Sozialwissenschaft EkaputtdenkenD« beschäftigt sich Wallerstein wiederholt mit dem Gegensatz zwischen »nomothetisch« und »idiographisch«, seine eigene Methode nennt er an anderer Stelle »heuristisch«, und er bezieht sich auf den klassischen Methodenstreit in der deutschen Soziologie des 19. Jahrhunderts. Jenseits dieser akademischen Debatte will ich das dahinter liegende Problem anhand einer von Marx selbst provozierten Lesart des »Kapital« verdeutlichen.

Im Vorwort zur ersten Auflage versucht Marx dem deutschen Publikum - schon aus Gründen der besseren Vermarktung seines Schinkens - ein Buch nahezubringen, dessen Handlung fast ausschließlich in England spielt. Um zu begründen, was an dieser Story für ein nicht-englisches Publikum so spannend sein soll, verweist er auf den allgemeinen Charakter der englischen Situation und unterstreicht sie, indem er seine Analyse an der damals unumstrittenen Königswissenschaft, der Naturwissenschaft, mißt (eine Taktik, der sich leider auch Wallerstein mit seinen Anspielungen auf die Chaostheorie bedient!): »Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient.« (Das Kapital, I, 12)

Hier ist offensichtlich die Faszination für die naturwissenschaftliche Methode und Strenge mit dem Historiker Marx durchgegangen und er hat die Basis dafür geschaffen, seine Kritik der herrschenden Verhältnisse wieder mit der bürgerlichen Wissenschaft zu versöhnen und aus ihr einen »apologetischen Marxismus« (Panzieri) zu machen. Unterstellt wird ein »Idealtypus« von Kapitalismus, der in England schon anzutreffen sei. Das deutsche Publikum möge sich gedulden, auch dort werde bald die reine Form Einzug halten. Damit ist die wirkliche Geschichte des Kapitalismus zur bloßen »Illustration« allgemeiner Gesetzmäßigkeiten geworden. Marx hat an vielen anderen Stellen gegen solche Typisierungen der Realität polemisiert, aber hier ist er eindeutig und scheint sowohl die vulgärmarxistischen Naturgesetze wie akademische Ableitungshäkeleien zu bestätigen.

Historisch wird damit gesagt, daß es einen voll entwickelten Kapitalismus gibt - was davor liegt, ist Herausbildung- und Durchsetzungsphase, was danach liegt, kann nur noch Verfaulen, Absterben oder Zusammenbruch sein. Räumlich heißt es, daß in England der Idealtypus von Kapitalismus zu finden ist, alles andere sind Abweichungen oder hinterherhinkende Formen.

Das Problematische bei diesem Verfahren liegt auf der Hand: Wenn beim »reinen Vorgang« von allen »störenden Einflüssen« abgesehen werden soll, wie stelle ich fest, was »rein« und was »störend« ist. Ein Experiment (die wissenschaftliche Form der industriellen Produktion) läßt sich beliebig oft wiederholen und dadurch bestimmen, was störend ist, gemessen an einem gewünschten Resultat. Aber in der Geschichte gibt es weder Wiederholungen, noch ein gewünschtes Resultat (es sei denn ich unterstelle einen göttlichen Plan oder eine geheime Teleologie).

Die Vorstellung von einem Idealtypus ist irreführend, es gibt nur den wirklichen Kapitalismus »in seiner konkreten einzigartigen Realität« (Wallerstein). Nun gäbe es noch die Möglichkeit, die Gesellschaften in sehr vielen Ländern zu vergleichen und auf diesem Wege einen zumindest durchschnittlichen Kapitalismus, oder einen Kapitalismus, auf den sich alle Gesellschaften hinentwickeln, zu finden. Hiergegen richtet sich das zweite zentrale Argument von Wallerstein, die Frage nach der Wahl der Analyseeinheit (klassisch könnten wir auch sagen, nach der Identität des Untersuchungsgegenstandes). Beim Vergleich der Kapitalismen in verschiedenen Ländern werden die räumlichen Grenzen der Länder als naturgegeben unterstellt, was sie offensichtlich nicht sind. Territorial- und Nationalstaaten können gerade bei der Untersuchung des Kapitalismus nicht als gegebene Analyseeinheiten vorausgesetzt werden, sie sind selbst Teil des Problems. [10] Historisch will Wallerstein zeigen, daß die dominierende Produktionsweise, die wir als kapitalistisch bezeichnen, nicht an einem Ort der Welt für sich entstehen konnte, sondern von Anfang an im Rahmen eines Staatensystems und als »Weltmarkt«. Die historischen Anstöße zu Kapitalbildung und -akkumulation kamen aus einer Arbeitsteilung und aus Warenketten, die über die einzelnen Staaten hinausreichten. Die Auftrennung in eine Betrachtung der jeweils nationalen kapitalistischen Gesellschaften und eine daran anschließende Untersuchung der »Außenbeziehung« führt daher zu nichts. In bezug auf den Gegenstand ist die Trennung zwischen Innen und Außen irreführend, da es von Beginn an zu einem seiner wesentlichen Merkmale gehört, das Verhältnis von Außen und Innen nur als ein Mittel seines Funktionierens zu gebrauchen.

Es macht also keinen Sinn, von verschiedenen Kapitalismen in Raum und Zeit zu sprechen, sondern es gibt nur einen, den historischen Kapitalismus.


Fußnoten:

[1] Nebenbei: Im historischen Prozeß erfordert diese Vorstellung von individueller Freiheit die gewaltsame (!) Durchsetzung einer gewissen Gewaltfreiheit in der Gesellschaft; genauer gesagt, in der Sphäre, die erst in und durch diesen Durchsetzungsprozeß zur »Gesellschaft« wird (siehe »The Great Transformation«, zehntes Kapitel, zu dieser »Entdeckung der Gesellschaft«). Die ständig vorhandene Gewalt kann nur ausgeblendet werden, indem sie zu dem ganz anderen der Gesellschaft wird, zum Staat. Da diese Trennung eine Fiktion ist, kann sie auch nur als idealer Fluchtpunkt organisiert werden, als Ideal des staatlichen Gewaltmonopols. Der tatsächliche gesellschaftliche Zusammenhang und seine Stabilität haben immer auf sozialer Gewalt und Autorität in gesellschaftlichen Zusammenhängen wie Familie, Community oder Betrieb basiert und könnten allein vom Staat nicht aufrechterhalten werden. Im Beitrag »Gewaltmonopol zu verkaufen« im Zirkular Nr. 20 wird der Mythos vom Gewaltmonopol für bare Münze genommen und die Einführung privater Sicherungsdienste usw. als Abgehen vom Gewaltmonopol interpretiert. In Wirklichkeit dürfte es sich dabei um eine Form der Kommerzialisierung innergesellschaftlicher Gewalt handeln, die nicht mehr »spontan« funktioniert. Da das Wegbrechen innergesellschaftlicher Disziplinierungsfunktionen und -orte nicht so offensichtlich oder an staatlichen Maßnahmen ablesbar ist, erscheint das Auftauchen neuer Kontrollinstanzen als neue Macht, als »fragmentierte Gewaltausübung« (ebd.), mit der die »neoliberalen Krisenstrategien« abgesichert werden sollen. Vergleichen wir diese neuen Formen allerdings mit den unwirksam werdenden Formen tatsächlich fragmentierter Gewaltausübung wie Familie, Kirche, Militär oder Arbeit, so wirken sie wie ein erbärmlich ohnmächtiger Ersatz. Mindestens genauso wichtig dürfte die - im Beitrag auch angesprochene - Ideologie und Praxis der »Gewaltfreiheit« sein, die mit dem neuen Antifaschismus und der medialen Gewaltphobie (siehe den Buchhinweis »Die Scharfmacher« im Zirkular Nr. 20) transportiert wird. Die Diskussion um Gewalt- und Gewaltmonopol sollte die historische Spezifik der Trennung von »friedlicher Gesellschaft des Tauschs« und gewalttätigem Staat nicht aus den Augen verlieren.

[2] In diesem Zitat werden die Resultate aus einer langwierigen Analyse der Erscheinungsform der verschiedenen Einkommen in der kapitalistischen Gesellschaft lediglich zusammengefaßt, keinesfalls erklärt. Die Marx'sche Analyse selber ist diskussionsbedürftig und historisch zu überprüfen, sie soll hier nicht als »wahr« unterstellt werden!

[3] Eine weitere, politisch verhängnisvolle, Konsequenz dieses Fehlers besteht darin, daß mit der Behauptung »nationaler Deals« von vornherein unterstellt wird, mit Arbeiterklasse seien nationale Arbeiterklassen gemeint. In der Wildcat-Diskussion ist mehrmals darauf hingewiesen, wie problematisch das umstandslose Reden vom »globalen Klassenkampf« ist, da sich Arbeiterklasse als konkrete politische Größe spätestens seit 1918 nur noch auf nationaler Ebene festmachen ließe. Sie dazu das Papier »Integration und Klassenkampf«, das in der Vorbereitungsphase der Wandlitz-Treffen diskutiert wurde (Kurzfassung in Wandlitz-Reader III, P. 20-22), und auf das der Autor in »The American way of antifa« im Zirkular Nr. 17 nochmals hinweist. Damit ergibt sich allerdings das Problem, wie wir Nation verstehen. In der historischen Entwicklung läßt sich m.E. zeigen, daß die Herausbildung von Nationalstaaten (im Unterschied zu Territorialstaaten) nur im Zusammenhang mit dem Virulentwerden eines spezifischen Klassenkonflikts erklärt werden kann. Mit der Reduzierung des Klassenbegriffs auf die Ausdrucksformen nationaler Arbeiterklassen, wie sie sich dann tatsächlich herausbilden, würde man sich dann aber nachträglich die Erklärungsmöglichkeit von Nationalstaatlichkeit aus der Hand schlagen. Anders ausgedrückt: auch die Existenz nationaler Klassen kann nur verstanden werden, wenn von einem globalen Klassenbegriff ausgegangen wird, und nur auf der Ebene ließe sich ein Antagonismus fassen.
Angesichts des Standes unserer Diskussion halte ich den Hinweis aber für berechtigt und äußerst produktiv, da wir ständig unreflektiert von nationalen Arbeiterklassen sprechen (nationale Deals, Arbeiterklasse in Deutschland usw.), damit faktisch den Klassenbegriff aufgeben und nur formal an ihm festhalten können. Auch dies wird zur Quelle von Dogmatismus, wenn dann z.B. weiterhin ein Antagonismus postuliert wird, den die eigene Betrachtungsweise gerade ausschließt. Hier ist die Auseinandersetzung mit Wallerstein wahrscheinlich hilfreich, weil er auf die Implikationen hinweist, die schon mit der Wahl der Analyseeinheit (z.B. der nationale Rahmen) verbunden sind.

[4] Diese kurzen Anmerkungen zu Krisis und Hartmann sollen nicht so verstanden werden, daß eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen damit erledigt ist bzw. sich nicht lohnt, im Gegenteil. Die von Krisis (es geht hier nicht um die realpolitischen Konsequenzen, die Robert Kurz mittlerweile aus seiner Popularität gezogen hat!!!) und mittlerweile einigen Abspaltungen in Gang gesetze Debatte um Marx und die Kritik des »warenproduzierenden Systems« hat die Diskussion um die Bedeutung und Tragweite eines historischen Endes dieses System neu belebt. Sie hat dabei die Frage nach den abstraktesten und daher auch am ehesten als naturhaft erscheinenden Formen der kapitalistischen Gesellschaft wie Ware oder Geld neu aufgeworfen, wie es auch schon die Situationisten - allerdings in einer erfrischenderen Art - getan hatten. Und genauso wichtig ist es, Untersuchungen zu wirklichen Geschichte der kapitalistischen Ausbeutung wie die von Detlef Hartmann zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn wir die Begriffe, in denen dies geschieht, kritisch diskutieren müssen.

[5] Die Zeitschrift ILA hat in ihrer Dezember-Ausgabe eine Debatte unter dem Titel »Eine Weltwirtschaft - Den Kapitalismus wieder kritisierbar machen« eröffnet. In dem Beitrag »Widerstand: von wem?« wird dort sehr klar die These einer weltweiten Angleichung der Lebensverhältnisse im Sinne von Klassenlagen vertreten. In dieser Debatte sind übrigens auch wir zur Beteiligung aufgefordert ...

[6] Es ist zwar richtige, daß gerade von den Theoretikern der flexiblen Spezialisierung Schumpeter bemüht wird, um das Gewicht auf die Innovation in der Produktion und bei den Produkten zu legen. Insofern lassen sie sich als »neoschumpeterianisch« einordnen, wie es in »Klassenkampf-Krise-Kommunismus?« im Zirkular Nr. 1 geschieht. Sie tun dies aber nur, um durch Innovationen zu einem erneuerten harmonischen Marktmodell zu kommen. Die Produktion der flexiblen Spezialisierung könne sich den Marktforderungen und individuellen Kundenwünschen besser anpassen. Damit wird das alte Märchen von der »Konsumentensouveränität« wieder aufgelegt, mit dem die »Marktwirtschaft« schon immer legitimiert wurde: durch ihre Nachfrage bestimmen die Konsumenten, was wo produziert wird. Die »Produzentensouveränität«, die für Schumpeter den Lauf der Dinge bestimmt (siehe Bellofiore), sei nur eine zu korrigierende Fehlentwicklung der Massenproduktion. Vergeblich versuchen sie damit, Schumpeters pessimistischen Schlußfolgerungen für den Kapitalismus zu entfliehen und das von ihm theoretisch widerlegte Bild einer »Marktgesellschaft« als Zukunftsvision zu retten. In der empirischen Diskussion um die flexible Spezialisierung sind die Vermutungen über die neue Rolle der Kleinbetriebe und die Ausrichtung der Produktion auf sich diversifizierende Märkte weitgehend widerlegt worden.

[7] Brick/Postone setzen sich in ähnlicher Weise mit dem Pessimismus der kritischen Theorie anhand von Friedrich Pollock auseinander, indem sie auf der Vorrangigkeit der Produktionsverhältnisse vor den Distributionsverhältnissen in der Marxschen Theorie insistieren. Ihre Kritik bleibt aber auf einem seminarmarxistischen Niveau und kommt auch zu anderen politischen Schlußfolgerungen als Panzieri (Barbara Brick/Moishe Postone, Kritischer Pessimismus und die Grenzen des traditionellen Marxismus, in: Sozialforschung als Kritik, 1982).

[8] Genau dieselben Fragen legt sich fast dreißig Jahre später Bellofiore vor und demontiert den Gegensatz zwischen Markt und Plan als falschen Schein. Bis auf die kurze Fußnote 8, in der er die Befürchtung der Quaderni Rossi über die Planbarkeit des Kapitalismus zurückweist (was nach der Erfahrung einer zwanzigjährigen Phase erneuter Krisenhaftigkeit nicht schwerfällt), geht er dabei mit keinem Wort auf die gründliche Untersuchung von Panzieri ein. Der Grund dürfte darin liegen, daß Panzieri in der taktischen Auseinandersetzung mit der von Lenin und Marx geprägten Parteiideologie stand, während sich Bellofiore in der taktischen Auseinandersetzung mit der akademischen Wirtschaftswissenschaft bewegt, in der Marx und Marxismus keine Rolle mehr spielen.

[9] Im zweiten Teil von »Klassenkampf-Krise-Kommunismus?« im Zirkular Nr. 2 wurde diese Frage bereits aufgeworfen und als erste Antwort vorgeschlagen, den Begriff der Produktivkraft stärker am Wissen, Können und der Kooperation der Menschen, statt an der »Hardware« festzumachen. Sicher, dies ist eine erste Kritik am technizistisch mißverstandenen Produktivkraftbegriff des traditionellen Marxismus, aber es löst das Problem nicht. Wissen und Können lassen sich sehr schnell verändern, wenn nur die nötigen materiellen Voraussetzungen vorhanden sind. Aber das, was einen Zusammenhang (nicht unbedingt einen Fortschritt wie Wallerstein zu recht betont!) in der Geschichte ausmacht, ist, daß jede Generationen stoffliche Bedingungen vorfindet, die von früheren Generationen (oder sogenannten Naturkräften) geschaffen wurden (wobei geschaffen eben auch zerstört bedeuten kann). Und diese lassen sich nicht von heute auf morgen willkürlich ändern. Dazu gehören z.B. in Europa Bedingungen, die wir uns heute selten als geschaffene bewußt machen, wie die Trockenlegung von Sümpfen, die Rodung von Wäldern, die gesteigerte Menschenproduktion nach der Hexenverfolgung, die Trennung von Stadt und Land etc. Wissen und Können sind demgegenüber sehr flüchtige Gestalten, was wir aktuell an der kurzen Halbwertzeit von Computerprogrammen erfahren, oder aus der Geschichte als das jahrtausendlange Vergessen bereits gemachter Erfindungen und Entdeckungen kennen. Ich denke, die Produktivkraftfrage muß in eine andere Richtung radikalisiert werden, nämlich als Auflösung der falschen Unterscheidung zwischen Produktivkraft (der Arbeit) und Naturkraft - wie Marx es einleitend in der Kritik am Gothaer Manifest andeutet. Damit muß auch der übliche Gegensatz von Gesellschafts- und Naturwissenschaft in Frage gestellt werden, an dem Wallerstein, gerade indem er sich an der neuen Orientierung in der Naturwissenschaft mißt, unreflektiert festhält. Die heute selbstverständlich gewordenen Vorstellungen von einer unhistorischen Natur und einer un-natürlichen Gesellschaft müssen dann genauso kritisiert werden, wie die Getrenntheit von Politik und Ökonomie.

[10] Seine Kritik an den aufgezwungenen Analyseeinheiten (z.B. schon durch die Verfügbarkeit von Statistiken oder Dokumenten, die jeweils länderweise vorliegen) kann auch in andere Richtungen weiterhelfen. Z.B. läßt sich die Untersuchung von Klassenbewegungen aus scheinbar pragmatischen Gründen immer wieder auf die Analyseeinheit der Nation eingrenzen: »Die Klassenkämpfe in Frankreich«, »Die polnische Arbeiterklasse« usw.. Dann gerät aber leicht aus dem Blick, inwieweit durch die Wahl der Analyseeinheit schon Aussagen vorweggenommen werden. Betrachte ich die Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter in »Polen« (wobei in diesem Fall die Grenzen historisch ohnehin sehr prekär sind) oder die »polnischen« Arbeiter? - womit ich unweigerlich auch in Deutschland, Frankreich oder den USA landen würde. In diesem Bereich stehen sich eine rein komparative Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegungen und Migrationsforschung meistens unvermittelt gegenüber.


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