Editorial
Wie ihr seht, erscheint dieses Zirkular deutlich verspätet; wir sind vom monatlichen Rhythmus etwas abgekommen. Ein Grund dafür liegt darin, daß wir uns in der Westredaktion ausführlicher mit den Überlegungen zur fehlenden Diskussion im letzten Editorial beschäftigt haben. Am Anfang stand daher die Frage, klatschen wir als Redaktion einfach nur alle eingegangenen Texte zusammen, oder diskutieren wir sie, greifen rote Fäden der Diskussion auf und machen sie kenntlich. Das würde auch bedeuten, nicht nur abzuwarten, daß Leute etwas schicken (was ohnehin selten geschieht!), sondern in den Gruppen oder bei Einzelpersonen nachzufragen, ob sie sich an bestimmten Diskussionssträngen beteiligen. Wir haben daher gründlicher über die Beiträge in diesem Zirkular diskutiert und eigene Texte dazu geplant. Dies umzusetzen ist uns nicht an allen Punkten gelungen − zumal die Verstreutheit der Westredaktion über vier Städte die Diskussion erschwerten
Im einzelnen haben wir länger über das Verhältnis zwischen den beiden kritischen Texten im Zirkular 22 zur EZLN (von Sylvie Deneuve/Charles Reeve und von der griechischen Genossin Katerina) und der hier abgedruckten Einschätzung von »Land und Freiheit« diskutiert. Offensichtlich ist, daß die Texte sich an verschiedene Adressaten richten. Während die Kritiken im Zirkular 22 sehr genau nach dem revolutionären Charakter der EZLN fragen bzw. diesen in Zweifel ziehen, kämpft die Einschätzung von »Land und Freiheit« darum, überhaupt erst einmal die EZLN in einen revolutionstheoretischen Gesamtzusammenhang einzuordnen - was hierzulande keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Er richtet sich an ein breites Spektrum von »Solidaritätsgruppen«, die in den seltensten Fällen ihre Unterstützung für die Kämpfe in Chiapas mit einem revolutionären Gesamtanspruch auch hier verbinden. Dadurch geht er aber an einigen Punkten zu glatt und blumig über Probleme und Fragen hinweg, die von Deneuve/Reeves und Katerina aufgeworfen werden. Mit unsere eigenen Diskussion sind wir an diesem Punkt stecken geblieben, sie soll aber weitergehen.
Der Text von Charles Reeve zur Bewegung in Frankreich, »Sturmwarnung«, ist nach den Texten von Martin und von Nicole in den Zirkularen 23 und 24 der dritte Text zu der Dezemberbewegung. Sicherlich behandelt er diese Bewegung auf einer ganz anderen Ebene als Nicole, die die Eindrücke aus dem Inneren der Bewegung heraus zusammenzufassen versucht, grundsätzlichere Fragen z.B. nach der Rolle der Gewerkschaften oder dem Nationalismus aber ausspart. Im Verhältnis zum Text von Martin sind Widersprüche deutlicher, da Reeve vor einem positiven Bezug auf die »Anti-Maastricht«-Tendenzen im Streik warnt.
Zu dem Text von Reeve, einem Artikel aus dem NACLA-Report über den Bürokratisierungsprozeß in der brasilianischen CUT, einer Übersetzung aus »Los Angeles View« über die gewerkschaftliche Organisierung von prekarisierten Migranten, Kurzberichten zu Entwicklungen auf dem Bau, einem Überblick über die hier fast kaum bekanntgewordene Bewegung gegen Sozialkürzungen in Österreich und einem kurzen Bericht und Flugblatt aus Bielefeld hat einer aus der Redaktion eine Art Einleitung (»Zur Aktualität der Gewerkschaftskritik«) geschrieben, die auch noch einmal den Zusammenhang zur Diskussion um die Thesen von Karl Heinz Roth herstellt.
Da wir innerhalb der Westredaktion diese Diskussion erst ansatzweise begonnen haben (der Text von Reeve lag zum Beispiel zu spät in Übersetzung vor), sie aber wichtig finden, wollen wir bei den nächsten Treffen das Thema »Syndikalismus« gründlicher angehen. Als Einstieg dient uns ein Überblicksaufsatz über revolutionären Syndikalismus aus der Zeitschrift »1999« Nr. 3/90. (Es wäre gut, wenn auch andere Gruppen öfter über ihre aktuellen und geplanten Diskussionen berichten würden!)
In Köln haben wir uns anläßlich einer geplanten Veranstaltung zum »Bündnis für Arbeit« die Geschichte der Gewerkschaften an den sogenannten Wendepunkten 1933 und 1945 angesehen und versuchen, den Zusammenhang der damaligen gewerkschaftlichen Politik zum allgemeinen Charakter von Gewerkschaft und ihrem Verhalten zur Arbeit herauszuarbeiten. Interessanterweise gab es nicht nur Verbindungslinien zwischen dem ADGB der Weimarer Republik und der »Deutschen Arbeitsfront«, sondern auch Versuche führender Gewerkschaftsvertreter, nach 1945 die »positiven Aspekte« der DAF in die Neubildung des DGB einzubringen. Der Charakter der DAF als zwangsstaatlicher Einheitsorganisation mit größerer Kontrolle über ihre Mitglieder, entsprach durchaus dem − auch von Linken stets verteidigten − Ziel der »Einheitsgewerkschaft«. Die üblichen Mythen über »Zerschlagung« des ADGB und freiheitlichen Neuaufbau nach 1945 aufzubrechen (was mittlerweile in Gewerkschaftspublikationen unter der Rubrik »Geschichte« zugelassen wird), ist kein Selbstzweck, sondern soll in der aktuellen Debatte um »Bündnis für Arbeit« eine grundlegendere Kritik an gewerkschaftlicher Organisierung und Verteidigung »sozialstaatlicher Errungenschaften« verdeutlichen. Was heute auf der Tagesordung steht, ist eine radikale Front gegen die Arbeit, da sich nur so die nationalistischen und reformistischen Fallgruben der aktuellen Mobilisierungen gegen den »Sozialabbau« vermeiden lassen (dazu mehr im nächsten Zirkular).
Den Text »Welt in Umwälzung« haben wir erst kurz vor Fertigstellung bekommen. Er setzt die »Vorschläge zu Wiederbelebung der Diskussion« aus dem letzten Zirkular fort und sollte in diesem Zusammenhang gesehen werden. Über den Text aus Freiburg zu Zygmunt Bauman konnten wir auch nicht mehr diskutieren.
In der Hoffnung, das Zirkular in Zukunft stärker zu einem Diskussionsorgan entwikeln zu können, wünscht die Westredaktion eine heiße Mai-Sonne ...