Wildcat-Zirkular Nr. 25 - Mai 1996


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NS-Massenvernichtung, Antisemitis­mus und sozialer Antagonismus

Einige Überlegungen und Thesen zu Zygmunt Baumann: Große Gärten, kleine Gärten − Allose­mitismus: Vormodern, Modern, Postmo­dern

(Kursiv gesetzte Zitate sind aus diesem Aufsatz)

Vorbemerkung:

Die sozialrevolutionäre, antileninistische Position, die am Prinzip der Aktion von unten festhält, wird von dem historischen und aktuellen Antise­mitis­mus und verschiedensten Antisemitismus-Theorien am stärksten her­ausgefor­dert. Steckt in Antisemitismus ein fehlge­leiteter oder verkürzter Antikapitalismus? Ist Anti­semitismus eine Ideo­lo­gie im Sinne von »notwen­dig falschem Be­wußtsein«, das unmit­tel­bar aus der Basisform der bürger­lich-kapitali­stisch verge­sell­schafteten Strukturen erwachsen muß − wie es bei Posto­nes be­kanntem Text »Die Logik des Antisemitis­mus« anklingt? Muß daher auf Grund des Fetischcharakters der Warengesellschaft jeder 'unbewußte' antikapitali­stische Wider­stand im ver­kürzten Antikapitalismus des antisemitischen Denkens enden?

Oder können wir es uns wie Eberhard Jungfer so einfach machen und ver­kün­den: »über antikapitalistischen Inhalt des Antisemi­tismus nachzudenken hieße nur, selbst einer Propaganda aufzusit­zen«?

Im Rahmen einer Freiburger Antisemitismus-Arbeitsgruppe entstand folgender Text, der lediglich dem Zusammen­hang von ostjüdischer Migration und Antise­mitismus nachgeht, aber auch den Zusammen­hang von Produktivismus, kapitalen Bewußtseinsformen, Subjekt­kon­stitution und Antisemitismus anreißen will. Die folgenden Über­legungen entstanden parallel zu der Lektüre von Zygmunt Bau­manns Aufsatz »Große Gärten − kleine Gärten« ; es wird weni­ger auf den Text Baumanns eingegan­gen, sondern assoziativ vor­gegangen. Der Text ist ein erster Beitrag in einer Reihe von »Frag-menten« zur Über­prüfung des sozialrevo­lutionären Paradig­mas. Eine Ausein­ander­setzung mit Postones Text »Die Logik des Antisemitis­mus« und dessen Rezep­tion ist in der Mache...

I. Zur soziologischen Sprache Baumanns Was ist »Vormoderne« und »Moderne«?

Baumann ist polnisch-englischer Soziologe. Er selbst ist der postmoder­nen Soziologie zuzurechnen. In seinem neusten Buch »Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit« will Zyg­munt Baumann in der Postmoderne die Chance zur Überwindung der »Eindeutigkeit« die für moderne Herrschafts­formen konstitutiv ist (war?), ent­decken. Ausschlußmechanismen, wie sie nur für die Moderne prä­gend gewesen sein sollen, seien der Postmoder­ne fremd. Ein merk­würdiger Optimismus, der jedoch Bau­manns Ver­dien­st, der ihm mit seinen Holocaust-Analysen zu­kommt, nicht schmä­lert.

Es ist wichtig, Baumanns soziolo­gische Betrachtungsweise histo­risch zu unter­füttern. Auch verschleiern und irritieren Be­grifflichkeiten wie »Moder­ne« oder »Postmoderne« mehr, als daß sie Erhellendes zur geschicht­lichen Entwick­lung und zur ge­schichtlichen Genese des Antisemi­tismus beitragen könnten.

»Moderne« bezeichnet die Durchsetzung und Ausbreitung der kapi­talistischen Pro­duktionsweise. Die Gesell­schaft(en) wurden funk­tional, der kapi­talistischen Arbeitsteilung dienlich diffe­ren­ziert. Die Arbeite­rInnen sollten − so sagte es die Ideologie − als »Freie und Glei­che« auf dem Markt ihre Ware Arbeits­kraft verkaufen, dazu mußten die »vor­moder­nen«, feudalen Abhän­gig­keitsverhältnisse zertrüm­mert wer­den. Agrari­sche Subsistenz­wirt­schaften wurden aufgelöst, um ArbeiterInnen freizusetzten und für die Arbeit in den Manu­faktu­ren und Fabri­ken zu gewinnen.

Der Kapitalismus als sämtliche Lebensbereiche durchziehende und prägende Vergesellschaftungsform fand allerdings seinen Durch­bruch erst Anfang des 20. Jahrhunderts im Fordismus. Hier hat Auschwitz auch seinen historischen Ort; von hier aus sollte sich dem Phänomen Antisemitismus genähert werden. Das Zusammenrühren der antisemitischen Hep-Hep-Krawalle von 1819, der Juden­verfol­gung in Baden 1848 mit dem Holocaust unter dem Stichwort »Anti­semitis­mus in der Moderne« macht daher wenig Sinn.

Der Kapitalismus mit seinem Zwang zur eigenen Reproduktion über den Ver­kauf der Ware Arbeitskraft produ­ziert Ideo­logie als »not­wendig falsches Be­wußtsein« (Marx). Doch die oftmals daraus abgeleitete Totalität der kapitalisti­schen Vergesellschaftung ist ihrerseits zu totalitär und systemtheoretisch ge­dacht, denn die Ideologie der (Fa­brik)ar­beit mußte erst durchge­setzt werden. Erst mit neuen Organi­sationsformen der Arbeit, die in den ersten 20 Jahren des 20.Jahrhunders sich entwickelten, konn­te die Wi­derständigkeit des »Nicht-Werts« (Tronti) der Ar­beiter-BäuerIn­nen einge­hegt werden. Die Auseinanderset­zung mit dem »Ludditen­tum«, der Ma­schi­nenstürmerei, bereits im 18. und 19. Jahrhundert steht paradigmatisch für den Kampf zwischen Arbeiterautonomie und Maschinendikta­tur der kapitali­stischen Arbeit. Eine weitge­hend au­ßerhalb des Kapi­tal­verhält­nisses sich befin­dende und über den Zu­sammenstoß mit den Ver­wertungsimpera­tiven des Kapitals sich in ihrem konservativen Gehalt auflö­sende »moral economy«, die zu einem revolutionären Moment wurde, soll­te im Krieg der Stech­uhren, Fließbänder und Werk­polizei endgültig erst Anfang des 20. Jahrhunderts besiegt wer­den.

Daß Verge­sell­schaftung nur als kapitali­stische Ver­ge­sell­schaf­tung ge­dacht wurde, mußte also erst mit der Zer­schlagung prole­tari­scher, aber auch radikali­sier­ter bäuerlicher Zusam­menhän­ge, die sich dem kapitali­stischen Arbeitsdiktat verweigerten, frei­ge­kämpft werden. Im Zuge der fort­setzenden Kapitaldurch­drin­gung und Festsetzung der Verwertungslogik in den Köpfen lösten so dis­parate Ge­sell­schaftungs­formen nicht nur Xeno­pho­bie aus, son­dern auch mis­sio­na­rischen Eifer oder glü­henden Hass auf diese (Re)produk­tions- und Lebens­wei­sen. Daher machen auch Kategorien wie »Ra­tionali­tät« und »Irrationa­lität« wenig Sinn, um sich antisemiti­sche Hand­lungen erklären zu wollen. Sie sind in ihrem Hass völ­lig irrational, folgen aller­dings sehr rational den kapitalisti­schen Verwertungs­impera­tiven. Selbst in ihrer »anti­kapitalisti­schen« Rhetorik folgen sie der aus den kapitalen Verhältnis­sen resul­tierenden Hypostasierung der 'kon­kreten Ar­beit'. (vgl. Postone − Logik des Antisemitismus)

Wo die Kategorie »Wert« die einzige bestimmende Größe der Ver­gesell­schaf­tung werden sollte, mußte definiert werden, was »un-wert« ist: »Die Produktion von Ordnung hat ihren Sondermüll, alle Klassifikation läßt etwas übrig, was sich der sakrosankten Trennung zwischen den Klassen entzieht, kein Füllmateri­al ist fein und komplex genug, um ohne Querverweise und eine umfangrei­che Abteilung 'Diverses' auszukommen, die dem Ordnungssystem spottet.« Neben der Arbeiterklasse des Kapitals, deren Inter­nationalität auf Grund kolonia­listi­scher und imperiali­stischer Gefälle die Grundlage entzogen wurde, und 'deren' »Arbeitgeber«, der im gleichen natio­nalen Boot sitzen sollte, stand das »Un­produkti­ve«: Der »raffen­de«, und eben nicht »schaf­fende« Speku­lant und Wuch­erer, der im antisemiti­schen Denken des NS als »jüdisches Fi­nanzkapi­tal« wieder auftauchte. Auf der ande­ren Seite wurden der lei­stungs­verweigernde »Aso­zia­le« und der ostjü­dische »Luft­mensch« zum Gegenentwurf der völ­kischen Konzeption der produktivistischen NS-Gesell­schaft.

II. Die »gärtnerische Logik« im Kampf gegen die Un-Ordnung

Zygmunt Baumann spricht von Allosemitismus, er findet den Be­griff des Antise­mitismus zu eng gefasst. Der Haß auf das Anders­artige, die »Ambivalenz gegen­über dem Anderen, dem Fremden − und konse­quenterweise dem Juden als der radikalsten Verkörpe­rung, der Essenz des letzteren« sieht er in Zusammenhang mit dem Pro­jekt der Moderne. Die Moderne wieder­um ist für Bau­mann ge­prägt von dem »gärtnerischen Blick« auf die Gesell­schaft, dem ordnen­den und struk­turierenden Blick auf die Gesell­schaft, bei dem das »Nicht-Passende« wie Unkraut beseitigt ge­hört:

»Das Zeitalter der Moderne ist (...) als ein ›Zeitalter des Gar­tens‹ inter­pretier­bar − eine Zeit in der die Gesellschaft wie ein Garten behandelt wird, der Design und Kultivation benötigt; und wie jeder Gärtner weiß, ist unverzicht­barer Teil der Kulti­vation das Unkrautjäten; der Schutz von Pflanzen, die in die Gestaltung hineinpassen vor solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Wenn Gesellschaft zu einem Garten wird, dann nimmt die Idee vom unwerten Leben in jedem Gesellschaftsentwurf zwangs­läufig so viel Platz ein, wie die Notwendig­keit der Bekämp­fung von Unkraut und Parasiten in jedem guten Gartenhand­buch aus­macht.«

Leider verzichtet Zygmunt Baumann darauf, diese biotopischen und land­schafts­gärtnerischen Analogien auf die Geschichte des Kapi­talismus, also auf die Geschichte der Mehrwertabpressung, zu beziehen:

Am Anfang der Welt stand angeblich der Biß Adams in den Apfel − schen­ken wir der Bibel Glauben, am Anfang des Kapitalismus stand die ursprüngliche Akku­mula­tion (von Kapital) - schenken wir Marx, Bd. 23, Das Kapital I. S. 741ff., Glauben. Dieser ge­walt­täti­ge Aneignungsprozeß von Boden und Arbeit, um ersteinmal Kapital zur Verfügung zu haben, war nur der Auf­takt einer Gewalt und Gewalt­förmigkeit, die seither den Kapita­lismus begleitet und für die Profite der Her­ren der kapitalisti­schen Akkumulation sorgen soll­te.1 Ent­gegen der libe­ralistischen Ideologie, eine »invi­sible hand« würde den Markt ganz von allei­ne regulieren (Adam Smith), fanden die Her­ren der kapita­listische Akkumu­la­tion sehr schnell heraus, daß der Markt allein kein Quäntchen an Rendite bringt. Die offensichtlich falsche Vorstellung von Kapi­talismus als »Marktwirt­schaft« zeigte sich am deutlichsten im Fordismus-Taylorismus:

Anfang des 20. Jahrhunders setzte sich in den USA, Deutsch­land aber auch Ruß­land dieses Denken des Planens und Formierens der kapitalistischen Gesell­schaft soweit durch, per­fektio­nierte und moderni­sierte sich, daß die Zurichtung von Gesell­schaft nach Anforderungen des Kapitals nicht nur zur wis­senschaftli­chen Auf­gabe wurde, sondern eine regelrechte Effi­zienz- und Planungs­hysterie um sich griff. Die wissenschaftliche Betriebsführung, das sogenannte Taylor-Prinzip sollte das »Hum­ankapital«, also die ArbeiterInnen, zum effizien­ten und profita­blen Arbei­ten bringen. Nicht nur die Fabriken wur­den mit Fließ­bändern ausge­stattet, an denen mathema­tisch genau be­rechnete Greif- und Dreh­bewegun­gen der ArbeiterIn­nen die Ent­fremdung in der Produk­tion auf ihre Spitze trie­ben, sondern die Durchratio­nalisierung ging bis zur Gestal­tung kon­trollier­ter Wohngegenden. Psychatri­sierung »ab­weichenden Verhal­tens« und soziale Hygiene und Kon­trolle des Sexualverhal­tens sollte die Gesellschaft nach Ver­wertungsinter­essen durchratio­nalisieren. Auffal­lend ist der sprunghafte An­stieg rassistischen und antise­miti­schen Denkens und »zivilisato­risch« legitimierten imperiali­sti­schen Zugriffs­versuchen auf die »rück­ständigen« und »barbari­schen« Elemente, der diese Entwick­lung begleitete.

An dem System der totalen (Ar­beits- und Gesell­schafts)Kon­trolle fanden natür­lich gerade auch die Bol­sche­wisten großen Gefallen. Der Zusam­menhang des Antise­mitismus unter Stalin und dem Fa­brik- und Effizienz­terror in der SU müßte einer genaueren Be­arbeitung vorbehalten sein. Die »gärtnerische Lo­gik« erfuhr im Kasernen­so­zialismus des Stali­nismus eine Radi­kalisie­rung, die ja in der Tat große Ähnlich­keit mit dem Na­tio­nalsozia­lismus auf­weist.2

III. nationale Arbeiterklasse, »Luftmenschen«, Intergration und Klassen­kampf

Nach 1870 waren die Grenzen westeuropäischer Staaten für alle Proletarier offen, gerade die osteuropäische jüdische Massen­armut drängt in die Staaten Westeuropas. Capitalistic business as usual: sie sollten mit den einheimischen ArbeiterInnen kon­kurie­ren − und damit auch deren erkämpfte Standards un­terhöhlen. Doch der kapitalistischen Handhabung der Einwanderung stand die Furcht der Kapitalisten entgegen, die die nationa­le Ar­beiter­klasse revolutionär »aufgemischt« sahen durch die oftmals poli­ti­schen MigrantInnen. Die mit der Migra­tion ver­bundene techni­sche Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse brachte auch immer eine politisch-kämpferische Neuzusammenset­zung der Klasse mit sich. Mit den massenverelen­deten jüdischen Wander-Prole­ta­riern zirku­lierten auch Kampferfah­rungen. »Die Nationen fühlen gegen­über den Juden die gleiche Ani­mosität, die das Mehl gegen­über der Hefe spürt, die es davon abhält, zur Ruhe zu kom­men.« Gera­de die jüdischen »Luft­men­schen«, die Einwan­dere­rIn­nen, die das Bild eines inter­natio­na­len, flexiblen und oft­mals poli­ti­sierten Pro­letariats verkör­perten, standen der Inte­gra­tion der Arbeite­rIn­nen in die jeweili­gen Nationen ent­gegen.3

»Allgemein gesprochen war das 19. Jahrhundert das der 'proleta­rischen Massen­migration' (Ferenczi); Migration war in Zentral­europa willkommener Export des Pauperismus und die Migranten fanden Nachfrage in neuen Regionen kapitalisti­scher Entwicklung. Mit dem ersten Weltkrieg und mit der Wende zum national organi­sierten Kapitalismus und verschärft durch die Freisetzung infol­ge der Weltwirtschaftskrise von 1929 wurden die Migranten zu Flücht­lingen.« (E.Jungfer − Aktualität des Antisemitismus) Und die Juden galten als die klas­sischen Flücht­linge: »In der mobilen Welt waren die Juden noch mobiler als alle ande­ren, in der Welt der Grenzzerstörungen durchbrachen sie die meisten Gren­zen...« Aber auch die inte­grierte, nationale Arbeiter­klasse wehrte sich gegen diese immi­grierende Konkur­renz. Die Zeit des Kampfes und der Revo­lu­tion war für die natio­nal einge­hegte Klas­se zu Ende:

»Nach dem Abflauen der revolutionären Wogen waren alle Bedingun­gen beisammen für die Entstehung eines massenhaften Antisemi­tismus in den entwickelten Nationen, polarisiert von einer na­tionalisti­schen extremen Rechten, die einen wichtigen Teil der einheimischen Arbeiterklasse mit sich riß. Das Urbild des »Ju­den« als Wucherer und Ausbeuter wurde wiederbe­lebt und in allen Tonlagen gesungen. damit wollte man die einheimischen Arbeiter davon überzeugen, daß die Einwanderer, weil sie Juden waren, nichts mit dem (na­tionalen) Proletariat zu tun hätten, und so die Gefahr der revolutionären Ansteckung neutralisier­ten. In der Verschär­fung der Krise 1929 radikalisierte sich dieser Arbeiter-Antisemitismus. Ein Teil der Arbei­terklasse klammerte sich in seiner bedrohlichen Lage verzweifelt an die Zugehörig­keit zur Nation und wies die Vorstellung von einem inter­nationa­len Prole­tariat immer stärker von sich. Die Ver­schärfung der Arbeitslo­sigkeit machte aus den neu gekom­menen Proletariern Konkurren­ten, die es zu beseitigen galt.« (Le Brice-Glace, Frühjahr 89, aus: TheKla 14)

IV. »Der Jude« als revolutionäre Bedrohung

In persona sind die Juden und Jüdinnen, die sich aktiv als Revo­lutionärInnen betätigten, heute noch bekannt. Rosa Luxem­burg und Leo Jogi­ches, der an der Spitze der Berli­ner Kom­mune stand, Eugen Levi­ne an der Spitze der bayerischen Rätere­publik, Karl Radek, aber auch Namen wie Trotzki, Kamenew, Sino­wjew, Litwinow, Isaac Deut­scher...

Doch diese personenfixierte Geschichts­schreibung ist so falsch, wie sie auch das Bild vom Juden als revolutionäre Drohung nicht zu fassen vermag.

Die Geschichte geht weit zurück:

»Die frühe und klassische Moderne war die Zeit der classes dan­gereux, des vagabundierenden Pöbels...«, zu diesem vagabundie­renden Pöbel müssen auch die Juden selbst dazugezählt werden. In den deutschen Einzelstaa­ten gehörten um 1780 fast neuen Zehn­tel der deutschen Juden den in völliger Armut lebenden Marginal- und Unterschichten an. Hier lebte das alte Stereotyp des »dre­ki­gen Juden« wieder auf.

»Die sehr große Zahl der völlig verarmten Juden, die als Hau­sierer und Trödler von Ort zu Ort zogen, vertiefte alte Vorur­teile und brachte neue hervor. Zum einen galt der Wanderhandel als unehrenhaftes Gewerbe, von dem viele Ver­bindungslinien zum Räuber- und Vegantentum führten. Die Nähe zu diesem sozialen Milieu brachte die jüdische Bevöl­kerung insgesamt in Ver­ruf.« (Helmut Bering − Moderner Anti­semi­tismus in Deutschland)

Überblickt man allerdings die Gesamtentwicklung in Deutschland von 1780 bis 1870 so ist festzustellen, daß die breite jüdische Unterschicht fast vollständig verschwand.

»Die Juden waren die sozial Schwachen, die aufstiegen und mobi­lisierten darum bei den Oberen die Furcht des Abstiegs, versinn­bildlichten, daß die Welt sich nicht nur drehte, sondern sich weiterhin auf den Kopf stellte − eine Welt, in der nichts Be­stand hat und in welcher auf nichts Verlaß ist.« Dies geht zu­rück auf die Ergebnisse der Judenemanzipation und diese Haltung lebte im Zuge der Krisenerscheinungen um 1929 wieder auf. Hinzu kam dabei noch die Ein­wande­rung von verarmten Ostjuden, die allerdings in keinster Weise dem Bild des Aufsteigers gerecht wurden: Die Ost­juden aus Po­len, Rumänien und Ruß­land waren − völ­lig verarmt und im Gegen­satz zu den meisten Juden in Deutsch­land subproletari­siert − zur Migra­tion ge­zwungen. »Man schätzt, daß zwischen 1880 und 1914 nahezu 3.500.000 (Ju­den) aus diesem Teil Europas (Ruß­land, Rumä­nien und Galizien) geflohen sind. (...) Die Zahl der Juden verringerte sich deshalb aber nicht, sondern das Gegenteil war der Fall.« (Eli Löbel − Juden und Palästina) Gerade während der Weima­rer Republik »strömte« (um rassistisch zu spre­chen) eine riesige Zahl ost­europäischer sub­proletarischer Juden nach Deutsch­land. Sie set­zen sich »zu einem großen Teil aus zweifel­haften und verzwei­felten Elementen zu­sammen« (So die Wahr­neh­mung eines führenden Nazis: H.Schacht, Präsi­dent der Reichsbank unter Hitler, in seinen Memoiren). Diese schläfen­locken­tra­genden und kaf­tanbehan­ge­nen Frem­den, die bei­spiels­wei­sen auch in Wien strande­ten, hatten sicher­lich in Hit­lers Wiener Zeit eine nicht unwe­sentli­che Be­deutung für seine Entwicklung zum leiden­schaft­lichen Anti­se­miten.

V. Antisemitismus als konformistische Rebellion und unterwer­fende Sub­jektkonsitution

So richtig es ist, dem Zusammenhang von Migration und Rassismus bzw. Antisemitismus nachzugehen, so wenig darf aber ignoriert werden, daß Antise­mi­tismus oft eben nicht aufgrund realer Erfah­rungen mit Juden entsteht. Ebenso ist ein Antisemi­tismus ohne Juden denkbar, denn der Anti­semit schafft »den Ju­den«.

Die Juden waren historisch überall in Europa die Vermittler zwischen oben und unten, die Sündenbock­funktion der Juden war Jahrhunder­te alt. Sie anzu­greifen war eine konformistische Re­vol­te, die nicht die Herr­schafts- und Aus­beu­tungs­mechanismen als solche in Frage stellte, sondern eine Form des Dialogs zwi­schen ganz unten und ganz oben darstellte. »Etwas gegen die Juden zu unter­nehmen, war nicht nur ein Versuch die Welt wieder angenehm einheitlich zu machen, sondern ein Versuch, die Unge­wißheit, Undurchsichtig­keit und Unkon­trollier­barkeit der Welt zu bekämp­fen.«

Wenn diese Unkontrollierbarkeit bekämpft wird, so wird wegen der »Angst vor den Frösten der Freiheit«, die kontrollierte Aus­beu­tungsordung, die Gebor­gen­heit in der Unterwerfung gesucht.

Das als abstrakt empfundene Kapitalverhältnis hat die Suche nach Identität zur Folge. Eindeutigkeiten lassen sich nur mittels Ab- und Ausgren­zung erlan­gen. »Es ist schwierig, Ambivalenz zu be­kämpfen und fast unmöglich, den Krieg gegen sie zu gewinnen; man sieht sich schwer auszurechnenden und gerissenen Guerilla-Ein­heiten gegen­über, statt einer Frontlinie, entlang der man die eige­nen Kräfte einsetzt oder den Feind ausmachen kann, um ihn auszubomben.« Der soldatische Mann fürchtet das Chaos, die unge­ordnete Masse und die 'rote Frau' − er versucht sich einzureihen in Formationen (Truppen, geregelte Aufmärsche, die gleichge­schaltete Masse), in der Manneszucht herrscht. Auf diesem Hin­tergrund ermordeten und mißhandelten die Freikorpstruppen Rosa Luxemburg nicht nur weil sie Kommunistin war, sondern sie wurde als Kommunistin, Jüdin und Frau ermordet.

Ezra Pounds − von Baumann angeführter − Vergleich der Juden mit »Schleim« und »Morast« ruft die Ähnlichkeit zu dem patriarchalen Abgren­zungsmechanis­mus, den Theweleit in den »Män­nerp­hantasien« herausge­arbei­tet hat, in den Sinn. Ich denke, daß im Rassismus, in patriar­chalen Abgrenzungs- und Machtmechanismen und Antisemi­tismus ähnliche Momente der Sub­jektkon­stitution im krisenhaften Kapita­lismus zum tragen kommen.

Die Frage auszuklammern, warum sich auch viele Arbeiter − unter denen der Antisemitismus bei weitem nicht in der Weise Fuß fas­sen konnte, wie in sämtli­chen anderen Schichten − auf den Anti­semitismus ein­schwören ließen, bedeutet die Augen vor der »Ver­volksgemein­schaft­lichung« der deutschen Klas­sengesell­schaft im NS zu ver­schlie­ßen. Wel­che Mechanismen und Strategien führ­ten zu dem Weg­schauen bis Akzep­tieren und Mit­tragen der Vernich­tungs­politik gegen die Juden?

Hier kommt die Subjektkonstitution des deutschen Arbeiters zum »Vor­arbeiter der Welt« zum tragen. Mit Subjektkonstitution ist eine Stra­te­gie ge­meint, sich selbst eine Identität in Ab­grenzung zu »dem Ande­ren« zu verpassen und über die Abwer­tung des »Ande­ren« sich selbst aufzuwerten. Nicht nur psycholo­gisch, sondern vor allem auch gesellschaftlich ge­genüber dem Souve­rän. Ohne Staat und Nation ist diese Sub­jekt­konsti­tution zum »Deut­schen« nicht zu denken.

Diese Selbstfindung steht allerdings immer unter einem 'produk­tiven' Vor­zeichen: War der kommunistische Spruch »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht es­sen« ursprünglich gegen die Bour­geoi­sie gerichtet, so barg er doch schon in sich die Tendenz zum Produktivismus und Antisemitismus, der sich im Natio­nalsozia­lismus gegen das leistungsver­weigernde »Lumpenprole­tariat« rich­tete und der sich im NS mit der Tra­dition der Krimi­nalbiologie und der rassistischen Verfol­gungspraxis gegen »Zi­geuner« und »Asoziale« verband. Die andere Seite der Ausgren­zungs- und Ver­nichtungpolitik war die Integra­tion der »arischen« Arbei­terklas­se, nachdem die klassen­bewußten Arbeite­ravangarden und die »Lei­stungsverweige­rer« vernichtet wurden.

Der deut­sche Arbeiter wußte (und weiß es nachwievor auf Grund des sekun­dä­ren Antisemitismus und der gesellschaftlich-sozial­psychologischen Folgen von Auschwitz, weil der Massenmord und die NS-Politik der rassisti­schen Selektion und Inte­gration nie revolu­tionär geahn­det wur­den) seine Ar­beitskraft gegen­über dem Staat (als ideellem Ge­samt­kapi­tali­sten) durch die Konstruktion des »Juden« als »unpro­duk­tiv« und »raffend« anzu­dienen. Ebenso wie er sich durch die ge­walt­same Zurück­drängung der Frau in die Haus­arbeit und die bio­logistisch herge­leitete Klassifi­zie­rung des »Aus­län­ders« als »faul« aufzuwerten weiß. Das ist der imma­nente Zu­sam­men­hang von Pro­duktivis­mus und Aus­schlußmechanis­men wie Anti­semitis­mus/­Rassis­mus/­Se­xismus im Medi­um der Staat­lich­keit.

h.

[1] Bei Marx selbst ist dies nicht herauszulesen, es scheint so, als stelle für Marx die ursprüngliche Akkumulation eine einmali­ge Angelegenheit dar. Doch auf dem Hinter­grund der femi­nisti­schen Reproduktionskritik, wonach gewaltsam Werte in der Haus­arbeit geschöpft werden, was auch ein Fundament der Repro­duktion der kapitalisti­schen Produktion darstellt, auf dem Hin­ter­grund des direkten Wertraub im Tri­kont und der new enclosure und der aktuel­len Funktion des Banden­wesens und von Mafia­struk­turen im Kapitalis­mus scheint diese gewaltsame Aneignung von Werten keinesfalls abgeschlossen. Der Kapita­lismus war in diesem Sinne nie »Markt­wirtschaft«. Es müsste auch endlich aufge­räumt werden mit der falschen (leninisti­schen) Vorstellung, die An­archie des Marktes müsse durch die Planung der Gesellschaft durch den Staat aufgeho­ben werden, wodurch auch die rationelle Planung in der Fabrik zum positiven Leitbild der sozialisti­schen Gesell­schaft in der SU wurde.

Die Behauptung einer Marktwirtschaft, in der die doppelt Freien 'frank und frei' aufein­ander­treffen, und einer Selbstverwertung des Werts, in der der Staat »Freiheit und Gleichheit« garantie­ren soll, wie es in den Analy­sen der »Wert­kritiker« (neue baha­mas, Initiative Sozialistisches Forum) öfters anklingt, ist eben­falls Humbug und bloßes Spiegel­bild der klassi­schen und neo-klassi­schen Vor­stellung einer 'unsicht­baren Hand', die den Markt regulie­re.

[2] Das hat nichts mit »Totalitarismustheorie« zu tun. Diese ist Ausdruck des neu-deut­schen Anspruchs auf Weltgel­tung mittels Einreihung & Entsorgung der Vergangen­heit und ver­sucht gerade über das rassi­stische Diktum von »Auschwitz als asiati­sche Tat« (Nolte) den immanenten Zusammenhang von Staat­lichkeit, Nation, »sozialisti­scher«, »nationalso­zialisti­scher« oder »sozialstaat­li­cher« Vergesellschaftung im Sinne der Verwertungsansprüche zu leugnen.

[3] Im übrigen wurden auch die jüdischen Massen aus Osteuropa von der jüdi­schen Bourgeoisie als eine reale Gefahr für ihre Integration angesehen. Die Überschwemmungs­szenarien für den west­lichen Teil Europas wurde von ihnen nicht minder bedrohlich an die Wand gemalt wie mit konkreten Vorschlägen, die von Aus­wanderung bis Deporta­tion reichten, verbunden. Auf diesem Hin­tergrund wäre auch die damit immer lauter werden­den zionis­ti­sche(n) Idee(n) der Staats­gründung im entfernten Palä­stina zu disku­tieren. Die sozialistisch-zionistischen Vorstellungen wären dagegen auf dem Hintergrund der am Arbei­ter-Antisemitismus zer­schmetterten Klasseneinheit und der Trans­formation jüdi­scher sozialistischer Bestrebungen in ein nationa­les-koloniali­stisches Projekt zu diskutieren. Feststehen sollte allerdings: wer über Antisemitismus und die NS-Vernichtungspolitik nicht reden will, sollte auch über den Zionis­mus den Mund halten.


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