NS-Massenvernichtung, Antisemitismus und sozialer Antagonismus
Einige Überlegungen und Thesen zu Zygmunt Baumann: Große Gärten, kleine Gärten − Allosemitismus: Vormodern, Modern, Postmodern
(Kursiv gesetzte Zitate sind aus diesem Aufsatz)
Vorbemerkung:
Die sozialrevolutionäre, antileninistische Position, die am Prinzip der Aktion von unten festhält, wird von dem historischen und aktuellen Antisemitismus und verschiedensten Antisemitismus-Theorien am stärksten herausgefordert. Steckt in Antisemitismus ein fehlgeleiteter oder verkürzter Antikapitalismus? Ist Antisemitismus eine Ideologie im Sinne von »notwendig falschem Bewußtsein«, das unmittelbar aus der Basisform der bürgerlich-kapitalistisch vergesellschafteten Strukturen erwachsen muß − wie es bei Postones bekanntem Text »Die Logik des Antisemitismus« anklingt? Muß daher auf Grund des Fetischcharakters der Warengesellschaft jeder 'unbewußte' antikapitalistische Widerstand im verkürzten Antikapitalismus des antisemitischen Denkens enden?
Oder können wir es uns wie Eberhard Jungfer so einfach machen und verkünden: »über antikapitalistischen Inhalt des Antisemitismus nachzudenken hieße nur, selbst einer Propaganda aufzusitzen«?
Im Rahmen einer Freiburger Antisemitismus-Arbeitsgruppe entstand folgender Text, der lediglich dem Zusammenhang von ostjüdischer Migration und Antisemitismus nachgeht, aber auch den Zusammenhang von Produktivismus, kapitalen Bewußtseinsformen, Subjektkonstitution und Antisemitismus anreißen will. Die folgenden Überlegungen entstanden parallel zu der Lektüre von Zygmunt Baumanns Aufsatz »Große Gärten − kleine Gärten« ; es wird weniger auf den Text Baumanns eingegangen, sondern assoziativ vorgegangen. Der Text ist ein erster Beitrag in einer Reihe von »Frag-menten« zur Überprüfung des sozialrevolutionären Paradigmas. Eine Auseinandersetzung mit Postones Text »Die Logik des Antisemitismus« und dessen Rezeption ist in der Mache...
I. Zur soziologischen Sprache Baumanns Was ist »Vormoderne« und »Moderne«?
Baumann ist polnisch-englischer Soziologe. Er selbst ist der postmodernen Soziologie zuzurechnen. In seinem neusten Buch »Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit« will Zygmunt Baumann in der Postmoderne die Chance zur Überwindung der »Eindeutigkeit« die für moderne Herrschaftsformen konstitutiv ist (war?), entdecken. Ausschlußmechanismen, wie sie nur für die Moderne prägend gewesen sein sollen, seien der Postmoderne fremd. Ein merkwürdiger Optimismus, der jedoch Baumanns Verdienst, der ihm mit seinen Holocaust-Analysen zukommt, nicht schmälert.
Es ist wichtig, Baumanns soziologische Betrachtungsweise historisch zu unterfüttern. Auch verschleiern und irritieren Begrifflichkeiten wie »Moderne« oder »Postmoderne« mehr, als daß sie Erhellendes zur geschichtlichen Entwicklung und zur geschichtlichen Genese des Antisemitismus beitragen könnten.
»Moderne« bezeichnet die Durchsetzung und Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise. Die Gesellschaft(en) wurden funktional, der kapitalistischen Arbeitsteilung dienlich differenziert. Die ArbeiterInnen sollten − so sagte es die Ideologie − als »Freie und Gleiche« auf dem Markt ihre Ware Arbeitskraft verkaufen, dazu mußten die »vormodernen«, feudalen Abhängigkeitsverhältnisse zertrümmert werden. Agrarische Subsistenzwirtschaften wurden aufgelöst, um ArbeiterInnen freizusetzten und für die Arbeit in den Manufakturen und Fabriken zu gewinnen.
Der Kapitalismus als sämtliche Lebensbereiche durchziehende und prägende Vergesellschaftungsform fand allerdings seinen Durchbruch erst Anfang des 20. Jahrhunderts im Fordismus. Hier hat Auschwitz auch seinen historischen Ort; von hier aus sollte sich dem Phänomen Antisemitismus genähert werden. Das Zusammenrühren der antisemitischen Hep-Hep-Krawalle von 1819, der Judenverfolgung in Baden 1848 mit dem Holocaust unter dem Stichwort »Antisemitismus in der Moderne« macht daher wenig Sinn.
Der Kapitalismus mit seinem Zwang zur eigenen Reproduktion über den Verkauf der Ware Arbeitskraft produziert Ideologie als »notwendig falsches Bewußtsein« (Marx). Doch die oftmals daraus abgeleitete Totalität der kapitalistischen Vergesellschaftung ist ihrerseits zu totalitär und systemtheoretisch gedacht, denn die Ideologie der (Fabrik)arbeit mußte erst durchgesetzt werden. Erst mit neuen Organisationsformen der Arbeit, die in den ersten 20 Jahren des 20.Jahrhunders sich entwickelten, konnte die Widerständigkeit des »Nicht-Werts« (Tronti) der Arbeiter-BäuerInnen eingehegt werden. Die Auseinandersetzung mit dem »Ludditentum«, der Maschinenstürmerei, bereits im 18. und 19. Jahrhundert steht paradigmatisch für den Kampf zwischen Arbeiterautonomie und Maschinendiktatur der kapitalistischen Arbeit. Eine weitgehend außerhalb des Kapitalverhältnisses sich befindende und über den Zusammenstoß mit den Verwertungsimperativen des Kapitals sich in ihrem konservativen Gehalt auflösende »moral economy«, die zu einem revolutionären Moment wurde, sollte im Krieg der Stechuhren, Fließbänder und Werkpolizei endgültig erst Anfang des 20. Jahrhunderts besiegt werden.
Daß Vergesellschaftung nur als kapitalistische Vergesellschaftung gedacht wurde, mußte also erst mit der Zerschlagung proletarischer, aber auch radikalisierter bäuerlicher Zusammenhänge, die sich dem kapitalistischen Arbeitsdiktat verweigerten, freigekämpft werden. Im Zuge der fortsetzenden Kapitaldurchdringung und Festsetzung der Verwertungslogik in den Köpfen lösten so disparate Gesellschaftungsformen nicht nur Xenophobie aus, sondern auch missionarischen Eifer oder glühenden Hass auf diese (Re)produktions- und Lebensweisen. Daher machen auch Kategorien wie »Rationalität« und »Irrationalität« wenig Sinn, um sich antisemitische Handlungen erklären zu wollen. Sie sind in ihrem Hass völlig irrational, folgen allerdings sehr rational den kapitalistischen Verwertungsimperativen. Selbst in ihrer »antikapitalistischen« Rhetorik folgen sie der aus den kapitalen Verhältnissen resultierenden Hypostasierung der 'konkreten Arbeit'. (vgl. Postone − Logik des Antisemitismus)
Wo die Kategorie »Wert« die einzige bestimmende Größe der Vergesellschaftung werden sollte, mußte definiert werden, was »un-wert« ist: »Die Produktion von Ordnung hat ihren Sondermüll, alle Klassifikation läßt etwas übrig, was sich der sakrosankten Trennung zwischen den Klassen entzieht, kein Füllmaterial ist fein und komplex genug, um ohne Querverweise und eine umfangreiche Abteilung 'Diverses' auszukommen, die dem Ordnungssystem spottet.« Neben der Arbeiterklasse des Kapitals, deren Internationalität auf Grund kolonialistischer und imperialistischer Gefälle die Grundlage entzogen wurde, und 'deren' »Arbeitgeber«, der im gleichen nationalen Boot sitzen sollte, stand das »Unproduktive«: Der »raffende«, und eben nicht »schaffende« Spekulant und Wucherer, der im antisemitischen Denken des NS als »jüdisches Finanzkapital« wieder auftauchte. Auf der anderen Seite wurden der leistungsverweigernde »Asoziale« und der ostjüdische »Luftmensch« zum Gegenentwurf der völkischen Konzeption der produktivistischen NS-Gesellschaft.
II. Die »gärtnerische Logik« im Kampf gegen die Un-Ordnung
Zygmunt Baumann spricht von Allosemitismus, er findet den Begriff des Antisemitismus zu eng gefasst. Der Haß auf das Andersartige, die »Ambivalenz gegenüber dem Anderen, dem Fremden − und konsequenterweise dem Juden als der radikalsten Verkörperung, der Essenz des letzteren« sieht er in Zusammenhang mit dem Projekt der Moderne. Die Moderne wiederum ist für Baumann geprägt von dem »gärtnerischen Blick« auf die Gesellschaft, dem ordnenden und strukturierenden Blick auf die Gesellschaft, bei dem das »Nicht-Passende« wie Unkraut beseitigt gehört:
»Das Zeitalter der Moderne ist (...) als ein ›Zeitalter des Gartens‹ interpretierbar − eine Zeit in der die Gesellschaft wie ein Garten behandelt wird, der Design und Kultivation benötigt; und wie jeder Gärtner weiß, ist unverzichtbarer Teil der Kultivation das Unkrautjäten; der Schutz von Pflanzen, die in die Gestaltung hineinpassen vor solchen, bei denen das nicht der Fall ist. Wenn Gesellschaft zu einem Garten wird, dann nimmt die Idee vom unwerten Leben in jedem Gesellschaftsentwurf zwangsläufig so viel Platz ein, wie die Notwendigkeit der Bekämpfung von Unkraut und Parasiten in jedem guten Gartenhandbuch ausmacht.«
Leider verzichtet Zygmunt Baumann darauf, diese biotopischen und landschaftsgärtnerischen Analogien auf die Geschichte des Kapitalismus, also auf die Geschichte der Mehrwertabpressung, zu beziehen:
Am Anfang der Welt stand angeblich der Biß Adams in den Apfel − schenken wir der Bibel Glauben, am Anfang des Kapitalismus stand die ursprüngliche Akkumulation (von Kapital) - schenken wir Marx, Bd. 23, Das Kapital I. S. 741ff., Glauben. Dieser gewalttätige Aneignungsprozeß von Boden und Arbeit, um ersteinmal Kapital zur Verfügung zu haben, war nur der Auftakt einer Gewalt und Gewaltförmigkeit, die seither den Kapitalismus begleitet und für die Profite der Herren der kapitalistischen Akkumulation sorgen sollte.1 Entgegen der liberalistischen Ideologie, eine »invisible hand« würde den Markt ganz von alleine regulieren (Adam Smith), fanden die Herren der kapitalistische Akkumulation sehr schnell heraus, daß der Markt allein kein Quäntchen an Rendite bringt. Die offensichtlich falsche Vorstellung von Kapitalismus als »Marktwirtschaft« zeigte sich am deutlichsten im Fordismus-Taylorismus:
Anfang des 20. Jahrhunders setzte sich in den USA, Deutschland aber auch Rußland dieses Denken des Planens und Formierens der kapitalistischen Gesellschaft soweit durch, perfektionierte und modernisierte sich, daß die Zurichtung von Gesellschaft nach Anforderungen des Kapitals nicht nur zur wissenschaftlichen Aufgabe wurde, sondern eine regelrechte Effizienz- und Planungshysterie um sich griff. Die wissenschaftliche Betriebsführung, das sogenannte Taylor-Prinzip sollte das »Humankapital«, also die ArbeiterInnen, zum effizienten und profitablen Arbeiten bringen. Nicht nur die Fabriken wurden mit Fließbändern ausgestattet, an denen mathematisch genau berechnete Greif- und Drehbewegungen der ArbeiterInnen die Entfremdung in der Produktion auf ihre Spitze trieben, sondern die Durchrationalisierung ging bis zur Gestaltung kontrollierter Wohngegenden. Psychatrisierung »abweichenden Verhaltens« und soziale Hygiene und Kontrolle des Sexualverhaltens sollte die Gesellschaft nach Verwertungsinteressen durchrationalisieren. Auffallend ist der sprunghafte Anstieg rassistischen und antisemitischen Denkens und »zivilisatorisch« legitimierten imperialistischen Zugriffsversuchen auf die »rückständigen« und »barbarischen« Elemente, der diese Entwicklung begleitete.
An dem System der totalen (Arbeits- und Gesellschafts)Kontrolle fanden natürlich gerade auch die Bolschewisten großen Gefallen. Der Zusammenhang des Antisemitismus unter Stalin und dem Fabrik- und Effizienzterror in der SU müßte einer genaueren Bearbeitung vorbehalten sein. Die »gärtnerische Logik« erfuhr im Kasernensozialismus des Stalinismus eine Radikalisierung, die ja in der Tat große Ähnlichkeit mit dem Nationalsozialismus aufweist.2
III. nationale Arbeiterklasse, »Luftmenschen«, Intergration und Klassenkampf
Nach 1870 waren die Grenzen westeuropäischer Staaten für alle Proletarier offen, gerade die osteuropäische jüdische Massenarmut drängt in die Staaten Westeuropas. Capitalistic business as usual: sie sollten mit den einheimischen ArbeiterInnen konkurieren − und damit auch deren erkämpfte Standards unterhöhlen. Doch der kapitalistischen Handhabung der Einwanderung stand die Furcht der Kapitalisten entgegen, die die nationale Arbeiterklasse revolutionär »aufgemischt« sahen durch die oftmals politischen MigrantInnen. Die mit der Migration verbundene technische Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse brachte auch immer eine politisch-kämpferische Neuzusammensetzung der Klasse mit sich. Mit den massenverelendeten jüdischen Wander-Proletariern zirkulierten auch Kampferfahrungen. »Die Nationen fühlen gegenüber den Juden die gleiche Animosität, die das Mehl gegenüber der Hefe spürt, die es davon abhält, zur Ruhe zu kommen.« Gerade die jüdischen »Luftmenschen«, die EinwandererInnen, die das Bild eines internationalen, flexiblen und oftmals politisierten Proletariats verkörperten, standen der Integration der ArbeiterInnen in die jeweiligen Nationen entgegen.3
»Allgemein gesprochen war das 19. Jahrhundert das der 'proletarischen Massenmigration' (Ferenczi); Migration war in Zentraleuropa willkommener Export des Pauperismus und die Migranten fanden Nachfrage in neuen Regionen kapitalistischer Entwicklung. Mit dem ersten Weltkrieg und mit der Wende zum national organisierten Kapitalismus und verschärft durch die Freisetzung infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 wurden die Migranten zu Flüchtlingen.« (E.Jungfer − Aktualität des Antisemitismus) Und die Juden galten als die klassischen Flüchtlinge: »In der mobilen Welt waren die Juden noch mobiler als alle anderen, in der Welt der Grenzzerstörungen durchbrachen sie die meisten Grenzen...« Aber auch die integrierte, nationale Arbeiterklasse wehrte sich gegen diese immigrierende Konkurrenz. Die Zeit des Kampfes und der Revolution war für die national eingehegte Klasse zu Ende:
»Nach dem Abflauen der revolutionären Wogen waren alle Bedingungen beisammen für die Entstehung eines massenhaften Antisemitismus in den entwickelten Nationen, polarisiert von einer nationalistischen extremen Rechten, die einen wichtigen Teil der einheimischen Arbeiterklasse mit sich riß. Das Urbild des »Juden« als Wucherer und Ausbeuter wurde wiederbelebt und in allen Tonlagen gesungen. damit wollte man die einheimischen Arbeiter davon überzeugen, daß die Einwanderer, weil sie Juden waren, nichts mit dem (nationalen) Proletariat zu tun hätten, und so die Gefahr der revolutionären Ansteckung neutralisierten. In der Verschärfung der Krise 1929 radikalisierte sich dieser Arbeiter-Antisemitismus. Ein Teil der Arbeiterklasse klammerte sich in seiner bedrohlichen Lage verzweifelt an die Zugehörigkeit zur Nation und wies die Vorstellung von einem internationalen Proletariat immer stärker von sich. Die Verschärfung der Arbeitslosigkeit machte aus den neu gekommenen Proletariern Konkurrenten, die es zu beseitigen galt.« (Le Brice-Glace, Frühjahr 89, aus: TheKla 14)
IV. »Der Jude« als revolutionäre Bedrohung
In persona sind die Juden und Jüdinnen, die sich aktiv als RevolutionärInnen betätigten, heute noch bekannt. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches, der an der Spitze der Berliner Kommune stand, Eugen Levine an der Spitze der bayerischen Räterepublik, Karl Radek, aber auch Namen wie Trotzki, Kamenew, Sinowjew, Litwinow, Isaac Deutscher...
Doch diese personenfixierte Geschichtsschreibung ist so falsch, wie sie auch das Bild vom Juden als revolutionäre Drohung nicht zu fassen vermag.
Die Geschichte geht weit zurück:
»Die frühe und klassische Moderne war die Zeit der classes dangereux, des vagabundierenden Pöbels...«, zu diesem vagabundierenden Pöbel müssen auch die Juden selbst dazugezählt werden. In den deutschen Einzelstaaten gehörten um 1780 fast neuen Zehntel der deutschen Juden den in völliger Armut lebenden Marginal- und Unterschichten an. Hier lebte das alte Stereotyp des »drekigen Juden« wieder auf.
»Die sehr große Zahl der völlig verarmten Juden, die als Hausierer und Trödler von Ort zu Ort zogen, vertiefte alte Vorurteile und brachte neue hervor. Zum einen galt der Wanderhandel als unehrenhaftes Gewerbe, von dem viele Verbindungslinien zum Räuber- und Vegantentum führten. Die Nähe zu diesem sozialen Milieu brachte die jüdische Bevölkerung insgesamt in Verruf.« (Helmut Bering − Moderner Antisemitismus in Deutschland)
Überblickt man allerdings die Gesamtentwicklung in Deutschland von 1780 bis 1870 so ist festzustellen, daß die breite jüdische Unterschicht fast vollständig verschwand.
»Die Juden waren die sozial Schwachen, die aufstiegen und mobilisierten darum bei den Oberen die Furcht des Abstiegs, versinnbildlichten, daß die Welt sich nicht nur drehte, sondern sich weiterhin auf den Kopf stellte − eine Welt, in der nichts Bestand hat und in welcher auf nichts Verlaß ist.« Dies geht zurück auf die Ergebnisse der Judenemanzipation und diese Haltung lebte im Zuge der Krisenerscheinungen um 1929 wieder auf. Hinzu kam dabei noch die Einwanderung von verarmten Ostjuden, die allerdings in keinster Weise dem Bild des Aufsteigers gerecht wurden: Die Ostjuden aus Polen, Rumänien und Rußland waren − völlig verarmt und im Gegensatz zu den meisten Juden in Deutschland subproletarisiert − zur Migration gezwungen. »Man schätzt, daß zwischen 1880 und 1914 nahezu 3.500.000 (Juden) aus diesem Teil Europas (Rußland, Rumänien und Galizien) geflohen sind. (...) Die Zahl der Juden verringerte sich deshalb aber nicht, sondern das Gegenteil war der Fall.« (Eli Löbel − Juden und Palästina) Gerade während der Weimarer Republik »strömte« (um rassistisch zu sprechen) eine riesige Zahl osteuropäischer subproletarischer Juden nach Deutschland. Sie setzen sich »zu einem großen Teil aus zweifelhaften und verzweifelten Elementen zusammen« (So die Wahrnehmung eines führenden Nazis: H.Schacht, Präsident der Reichsbank unter Hitler, in seinen Memoiren). Diese schläfenlockentragenden und kaftanbehangenen Fremden, die beispielsweisen auch in Wien strandeten, hatten sicherlich in Hitlers Wiener Zeit eine nicht unwesentliche Bedeutung für seine Entwicklung zum leidenschaftlichen Antisemiten.
V. Antisemitismus als konformistische Rebellion und unterwerfende Subjektkonsitution
So richtig es ist, dem Zusammenhang von Migration und Rassismus bzw. Antisemitismus nachzugehen, so wenig darf aber ignoriert werden, daß Antisemitismus oft eben nicht aufgrund realer Erfahrungen mit Juden entsteht. Ebenso ist ein Antisemitismus ohne Juden denkbar, denn der Antisemit schafft »den Juden«.
Die Juden waren historisch überall in Europa die Vermittler zwischen oben und unten, die Sündenbockfunktion der Juden war Jahrhunderte alt. Sie anzugreifen war eine konformistische Revolte, die nicht die Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen als solche in Frage stellte, sondern eine Form des Dialogs zwischen ganz unten und ganz oben darstellte. »Etwas gegen die Juden zu unternehmen, war nicht nur ein Versuch die Welt wieder angenehm einheitlich zu machen, sondern ein Versuch, die Ungewißheit, Undurchsichtigkeit und Unkontrollierbarkeit der Welt zu bekämpfen.«
Wenn diese Unkontrollierbarkeit bekämpft wird, so wird wegen der »Angst vor den Frösten der Freiheit«, die kontrollierte Ausbeutungsordung, die Geborgenheit in der Unterwerfung gesucht.
Das als abstrakt empfundene Kapitalverhältnis hat die Suche nach Identität zur Folge. Eindeutigkeiten lassen sich nur mittels Ab- und Ausgrenzung erlangen. »Es ist schwierig, Ambivalenz zu bekämpfen und fast unmöglich, den Krieg gegen sie zu gewinnen; man sieht sich schwer auszurechnenden und gerissenen Guerilla-Einheiten gegenüber, statt einer Frontlinie, entlang der man die eigenen Kräfte einsetzt oder den Feind ausmachen kann, um ihn auszubomben.« Der soldatische Mann fürchtet das Chaos, die ungeordnete Masse und die 'rote Frau' − er versucht sich einzureihen in Formationen (Truppen, geregelte Aufmärsche, die gleichgeschaltete Masse), in der Manneszucht herrscht. Auf diesem Hintergrund ermordeten und mißhandelten die Freikorpstruppen Rosa Luxemburg nicht nur weil sie Kommunistin war, sondern sie wurde als Kommunistin, Jüdin und Frau ermordet.
Ezra Pounds − von Baumann angeführter − Vergleich der Juden mit »Schleim« und »Morast« ruft die Ähnlichkeit zu dem patriarchalen Abgrenzungsmechanismus, den Theweleit in den »Männerphantasien« herausgearbeitet hat, in den Sinn. Ich denke, daß im Rassismus, in patriarchalen Abgrenzungs- und Machtmechanismen und Antisemitismus ähnliche Momente der Subjektkonstitution im krisenhaften Kapitalismus zum tragen kommen.
Die Frage auszuklammern, warum sich auch viele Arbeiter − unter denen der Antisemitismus bei weitem nicht in der Weise Fuß fassen konnte, wie in sämtlichen anderen Schichten − auf den Antisemitismus einschwören ließen, bedeutet die Augen vor der »Vervolksgemeinschaftlichung« der deutschen Klassengesellschaft im NS zu verschließen. Welche Mechanismen und Strategien führten zu dem Wegschauen bis Akzeptieren und Mittragen der Vernichtungspolitik gegen die Juden?
Hier kommt die Subjektkonstitution des deutschen Arbeiters zum »Vorarbeiter der Welt« zum tragen. Mit Subjektkonstitution ist eine Strategie gemeint, sich selbst eine Identität in Abgrenzung zu »dem Anderen« zu verpassen und über die Abwertung des »Anderen« sich selbst aufzuwerten. Nicht nur psychologisch, sondern vor allem auch gesellschaftlich gegenüber dem Souverän. Ohne Staat und Nation ist diese Subjektkonstitution zum »Deutschen« nicht zu denken.
Diese Selbstfindung steht allerdings immer unter einem 'produktiven' Vorzeichen: War der kommunistische Spruch »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« ursprünglich gegen die Bourgeoisie gerichtet, so barg er doch schon in sich die Tendenz zum Produktivismus und Antisemitismus, der sich im Nationalsozialismus gegen das leistungsverweigernde »Lumpenproletariat« richtete und der sich im NS mit der Tradition der Kriminalbiologie und der rassistischen Verfolgungspraxis gegen »Zigeuner« und »Asoziale« verband. Die andere Seite der Ausgrenzungs- und Vernichtungpolitik war die Integration der »arischen« Arbeiterklasse, nachdem die klassenbewußten Arbeiteravangarden und die »Leistungsverweigerer« vernichtet wurden.
Der deutsche Arbeiter wußte (und weiß es nachwievor auf Grund des sekundären Antisemitismus und der gesellschaftlich-sozialpsychologischen Folgen von Auschwitz, weil der Massenmord und die NS-Politik der rassistischen Selektion und Integration nie revolutionär geahndet wurden) seine Arbeitskraft gegenüber dem Staat (als ideellem Gesamtkapitalisten) durch die Konstruktion des »Juden« als »unproduktiv« und »raffend« anzudienen. Ebenso wie er sich durch die gewaltsame Zurückdrängung der Frau in die Hausarbeit und die biologistisch hergeleitete Klassifizierung des »Ausländers« als »faul« aufzuwerten weiß. Das ist der immanente Zusammenhang von Produktivismus und Ausschlußmechanismen wie Antisemitismus/Rassismus/Sexismus im Medium der Staatlichkeit.
h.
[1] Bei Marx selbst ist dies nicht herauszulesen, es scheint so, als stelle für Marx die ursprüngliche Akkumulation eine einmalige Angelegenheit dar. Doch auf dem Hintergrund der feministischen Reproduktionskritik, wonach gewaltsam Werte in der Hausarbeit geschöpft werden, was auch ein Fundament der Reproduktion der kapitalistischen Produktion darstellt, auf dem Hintergrund des direkten Wertraub im Trikont und der new enclosure und der aktuellen Funktion des Bandenwesens und von Mafiastrukturen im Kapitalismus scheint diese gewaltsame Aneignung von Werten keinesfalls abgeschlossen. Der Kapitalismus war in diesem Sinne nie »Marktwirtschaft«. Es müsste auch endlich aufgeräumt werden mit der falschen (leninistischen) Vorstellung, die Anarchie des Marktes müsse durch die Planung der Gesellschaft durch den Staat aufgehoben werden, wodurch auch die rationelle Planung in der Fabrik zum positiven Leitbild der sozialistischen Gesellschaft in der SU wurde.
Die Behauptung einer Marktwirtschaft, in der die doppelt Freien 'frank und frei' aufeinandertreffen, und einer Selbstverwertung des Werts, in der der Staat »Freiheit und Gleichheit« garantieren soll, wie es in den Analysen der »Wertkritiker« (neue bahamas, Initiative Sozialistisches Forum) öfters anklingt, ist ebenfalls Humbug und bloßes Spiegelbild der klassischen und neo-klassischen Vorstellung einer 'unsichtbaren Hand', die den Markt reguliere.
[2] Das hat nichts mit »Totalitarismustheorie« zu tun. Diese ist Ausdruck des neu-deutschen Anspruchs auf Weltgeltung mittels Einreihung & Entsorgung der Vergangenheit und versucht gerade über das rassistische Diktum von »Auschwitz als asiatische Tat« (Nolte) den immanenten Zusammenhang von Staatlichkeit, Nation, »sozialistischer«, »nationalsozialistischer« oder »sozialstaatlicher« Vergesellschaftung im Sinne der Verwertungsansprüche zu leugnen.
[3] Im übrigen wurden auch die jüdischen Massen aus Osteuropa von der jüdischen Bourgeoisie als eine reale Gefahr für ihre Integration angesehen. Die Überschwemmungsszenarien für den westlichen Teil Europas wurde von ihnen nicht minder bedrohlich an die Wand gemalt wie mit konkreten Vorschlägen, die von Auswanderung bis Deportation reichten, verbunden. Auf diesem Hintergrund wäre auch die damit immer lauter werdenden zionistische(n) Idee(n) der Staatsgründung im entfernten Palästina zu diskutieren. Die sozialistisch-zionistischen Vorstellungen wären dagegen auf dem Hintergrund der am Arbeiter-Antisemitismus zerschmetterten Klasseneinheit und der Transformation jüdischer sozialistischer Bestrebungen in ein nationales-kolonialistisches Projekt zu diskutieren. Feststehen sollte allerdings: wer über Antisemitismus und die NS-Vernichtungspolitik nicht reden will, sollte auch über den Zionismus den Mund halten.