Wildcat-Zirkular Nr. 25 - Mai 1996


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Sturmwarnung

Anfang Dezember 1995 konnte man Angst, Resignation und Passivität für die meistver­breiteten Empfindungen und Verhaltensweisen in der französischen Gesellschaft halten. Die repressive Politik der Regierung im Anschluß an die befremdende Kampagne terror­istischer Attentate kann so inter­pretiert wer­den, daß sie darauf gerichtet war, den Konsens um den Staat zu stärken. Die Zeiten sind vorbei, in denen der Kapitalis­mus die Orientierungspunkte setzte für eine Integration des Proletariats − Lebensweise und Set von Verhal­tens­weisen −, die den Kohl für die reformistischen Organisationen fett machten. Seit Jahr­zehnten festigt der Geleitzug von Elend, Ausschluß und Gewalt das Gefühl der Unsi­cherheit in der Welt der Lohnarbeit. Das Handeln von Partei­en und Gewerk­schaften war folgenreich. Delegierung der Verantwort­lichkei­ten, patriotischer Kult und fremdenfeindliche Prakti­ken, Gehorsam gegenüber den Chefs und Glaube an das System schufen schließlich verantwor­tungs­lose und unterworfe­ne Wesen, die wie gelähmt den Verödungen durch die Wirtschafts­krise ins Auge sehen. Und die Summe all dieser Frustratio­nen, Egoismen und Individua­lismen erschien als Rohmate­rial einer autoritären gesell­schaftlichen Mentalität die nach Ordnung und Sicherheit verlangt.

Da stehen wir nun mit unseren sachkundigen Überlegungen, die zwi­schen Militärs im Drillich und Gendarmen an der Lafette mit sonnenverbrannten Gesichtern umherziehen, denn was die Wirklichkeit bringen wird, ist nicht abzusehen. Der Streik im öffentlichen Dienst hat sich wie ein Lauffeuer ausge­breitet und das Land paralysiert. Er macht die explosiven Gasflaschen ver­gessen und die rassistischen Razzien in Bahnhofshallen, Straßen und Metro-Stationen. Innerhalb weniger Tage sollte ein Klassenkonflikt alle ande­ren Konflikte und Probleme der Gesellschaft überlagern.

Hier machen wir eine erste Feststellung. Der Zustand der Machtbezie­hungen zwischen den Klassen kann nie allein von den oberflächli­chen, sicht­baren Formen der sozialen Unterwerfung aus gemessen werden. Sobald es sich um Klassensi­tuationen handelt, ist niemals etwas erstarrt, alles ist möglich, auch das Unvorhersehbare. Ein macht­voller Kampf kann die Mauer der gesellschaftli­chen Resigna­tion aufreißen. Kollektive Fähig­keiten, die man für einge­schlafen und einge­kerkert hielt, werden nun am großen Tag freigesetzt. Aber die von uns festgestellte soziale Unterwer­fung und Passivität waren nicht nur eine theoreti­sche Konstruktion. Sie waren auch Aus­druck dieser Macht­beziehung.

Diese Bewegung hat zahlreiche Fragen aufgeworfen. Welche Macht hat zehn­­tau­sende von Arbeitern mobilisiert, Millionen Menschen, Junge, ArbeiterIn­nen, Arbeitslose und Rentner auf die Straßen der französischen Städte getrieben? Warum sind sie aus der Lethargie und Resignation aufgewacht, auf die sie sich seit Jahren beschränkt hatten? Wie ist ihr Selbsterhaltungstrieb erwacht ange­sichts einer Bourgeoisie, deren Arroganz grenzenlos schien? Die folgenden Kom­mentare stellen einen Versuch dar, die Ereignisse und Erlebnisse zu ver­stehen. Kollekti­ve Aktio­nen bieten die Gele­gen­heit, zu einem wirklichen Ver­ständnis der Gesell­schaft zu kommen. Eine soziale Bewegung dieses Aus­maßes ist die Möglichkeit auszupro­bieren, ob ein Analy­se­schlüssel taugt oder abgelehnt oder gegebenen­falls revi­die­rt wer­den muß. In diesem Text werden wir nicht auf die Chronologie des Streiks und seinen Ablauf zurückkommen. Gleichfalls werden wir nicht auf die Formen und Ziele der studentischen Agitation einge­hen, die dem Streik im öffentlichen Dienst voranging. Uns interessieren ins­besondere bestimmte Aspekte der Bewe­gung: die Rolle der Gewerk­schaften, die Verbin­dung zwischen gesellschaftlicher Krisenstimmung und kollektiver Aktion, die politi­schen Auswirkungen des Streiks und das Auftauchen des Arbeiternatio­nalis­mus als vereinigende Kraft des Kamp­fes.

I.

Das grundlegende Prinzip der Arbeiteraktion ist die Organisation. Gestern wie heute, wie auch immer die Arbeiterklasse zusammengesetzt sein mag, ohne Organisation geht nichts im Kampf gegen den Kapitalismus. Deshalb ist es wichtig, über die Rolle der Gewerkschaften in der Bewegung im Dezember '95 zu diskutieren. Dieser Streik wurde von den gewerkschaftlichen Organisationen angeführt und zwar ohne offenen Konflikt mit der Aktion der Arbeiter. Eine vielleicht störende Fest­stellung angesichts der Tatsache, daß sich alle großen Kämpfe der letzten Jahrzehnte in Opposition zu den Gewerk­schaftsapparaten entwi­kelt und unabhängige gewerkschaftliche Struk­turen neuen Typs hervor­gebracht hatten: die Koordina­tionen.1 Deren Abwesenheit sahen einige sofort als Beweis für die »Rückkehr der Gewerk­schaften«, als »Rehabilita­tion des Syn­dikalismus«, kurz, als Widerlegung der Gewerk­schafts­kritik, bei der es sich um »moder­nistische Theorien, die in den letzten Jahren durch die Pariser Salons geisterten«, gehandelt habe. Auf diese billig Weise wollten sich als erste natür­lich diejenigen beruhi­gen, die ihre Fleisch­töpfe verteidigen mußten.2 Ande­re, die einen oppor­tu­nistischen Stand­punkt ein­nahmen, meinten, das Problem habe sich in der Praxis gar nicht gestellt; daher sei es verfrüht − darüber hinaus unnötig und schäd­lich −, die Frage prinzipiell an­zugehen. In welchem Maß sind die Gewerk­schaf­ten im Takt mit der Bewegung geblieben? Wäre die tradi­tio­nelle Form von Gewerk­schaft in einem von den Arbeitern selbst geführten Kampf nicht unausweichlich überholt worden? Kann man ernsthaft behaup­ten, daß die Erfah­rung von fast einem Jahr­hundert kapitalistischer Inte­gration der gewerk­schaftlichen Organisa­tionen allein durch diesen einen Streik wegge­wischt wor­den ist?

Der Streik vom Dezember 1995 war gleichzeitig vorbereitet und spon­tan. Seit dem Sommer hatten die Gewerkschaftschefs, »mehrmals vom Pre­miermini­ster konsultiert, vor sozialen Spannungen gemahnt, von denen sie Kenntnis erhal­ten hät­ten«.3 Da ihnen klar war, daß die Regierung entschlossen war und ihre Warnun­gen ignorieren würde, hatten die Gewerkschaften ihre Basis (bei den Eisen­bahnen und dem öffentlichen Nahverkehr) auf eine Aktion gegen die Streichung der besonderen Rentenregelungen in diesen Bereichen vorbereitet. Die Verall­gemeine­rung der Bewe­gung, die Überwindung des korporatistischen Rahmens waren jedoch im Pro­gramm nicht vor­gesehen; sie waren das Ergebnis der Entscheidungen und der Aktion der Basis. Deshalb wäre es korrekter, von einer unerwarteten als von einer sponta­nen Bewegung zu sprechen, in dem Sinne, daß diese Explosion in einem Zustand der latenten Revolte stattfand. Vom Beginn bis zum Ende des Streiks sind die Gewerk­schaftsapparate den Aktionen der Streiken­den gefolgt, ja, sie haben sie sogar begleitet. Sie sind auf einer Grund­wel­le gesurft, die sie nicht immer meisterten, aber von der sie niemals wirklich überholt wurden.

Es wurde gesagt, die Gewerkschaften hätten ihre Lektion aus den vor­ange­­gange­nen Jahren und dem Auftauchen der Koordinationen gelernt. Die Ent­wick­lung neuer gewerk­schaftlicher Strukturen (wie SUD), die mehr Basisde­mokratie forderten, die relative, aber unstrittige Erneuerung der anarcho-syn­dikalisti­schen Strömung (die CNT) sind deutliche Zeichen für die tiefe Krise des franzö­sischen Syndikalismus und Ausdruck einer neue Phase von Selbst­organisa­tion. Die Epoche ist zuende, in der man auf die Demokratisierung der großen Gewerk­schaftszentralen setzte. Heute verlassen die aktivsten Militan­ten die alten Ge­werkschaften, um sich in neuen Strukturen neu zu gruppieren oder um solche zu schaffen. Was auch immer einige Bürokraten über den Schrumpfungs­prozeß denken mögen: die Krise der Gewerkschaften ist keine Idee, die in den Pariser Salons entstand, sie ist gelebte Wirklichkeit in den Betrieben. Zu diesem Zeit­punkt von der Krise des Syndikalismus zu sprechen, ist zur Banalität vom Bistrotresen gewor­den. Hellsichtige Politiker sind beunruhigt, die Gewerk­schafts­führer sind erschrocken, vom Staat bezahl­te Forscher machen ihre Stu­dien. Wenn man so wie wir denkt, daß die Funktion der Gewerk­schaften in der moder­nen Welt die eines Regu­lators der kapitalisti­schen Produktion ist, dann hat man da eine Fährte, um die Natur des Übels zu erken­nen. Über seine Kämpfe in der Vergangenheit hat der Syn­dikalis­mus die Bedin­gungen eines »normalen Kapitalismus« aufgezwungen und das Willkürliche und den Mißbrauch des wilden Kapitalismus zerschlagen. Er hat die Arbeiter integriert, indem er ihnen die Verbesserung der Lebens­bedin­gungen versprochen hat und es so dem Kapi­talis­mus ermöglicht, über eine weniger er­schöpfte, zufriedenere und produk­ti­vere Arbeits­kraft zu verfügen. Wie drückte es nach den großen Streiks 1936 ein Führer der französischen refor­mistischen Strömung aus: »Hier beginnt die Ära der direkten Beziehungen zwischen den beiden großen organi­sierten Wirt­schafts­mächten im Land.«4 Heute ist diese wesent­liche Funktion des Syn­dikalis­mus durch die Krise des Systems selbst bedroht. In einem kapitalisti­schen System, das am Ersticken ist, können die Lohn­erhöhungen nicht mehr wie in der Ver­gangenheit durch Produk­tivitäts­zuwächse absorbiert werden. Die Gewerk­schaften sind nicht mehr in der Lage, wie früher den »sozialen Fortschritt« auszuhandeln. Die Produktivi­täts­gewinne werden vor allem über eine Intensivie­rung der Arbeit, Stellen­streichun­gen und steigende Arbeitslosigkeit erreicht; durch einen all­gemeinen Tiefstand der Löhne wird die Ausbeutung intensiviert. Kurz, die Zusammen­arbeit zwi­schen den »beiden großen Wirtschaftsmächten« kann sich nicht mehr auf die wirtschaftli­che Expansion stützen; das unmittelbare Interesse der Ausgebeuteten wird immer weniger gleichgesetzt mit dem all­gemeinen gesell­­schaftlichen Interesse. Und die Ge­werkschaf­ten garantieren den Verfall der Arbeits- und Lebensbedin­gun­gen, verbürgen sich für den Tiefstand der Löhne und die Schnit­te in den Sozial­lei­stungen, die lange Zeit einer der Stützpfeiler für die Bindung der Arbei­ter ans System waren; die berühmten »sozia­len Errungen­schaften«, von denen man am Ende glaubte, sie würden ewig währen.

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist heute in Frankreich einer der niedrigsten in den Indu­strieländern. Die Ge­werkschaftsbeitritte gehen sogar noch schneller zurück als in den Leitländern der neolibe­ralen Politik.5 Diese Prozent­zahlen sind natürlich kein exakter Maßstab für die Glaub­würdig­keit der Gewerk­schaf­ten bei den Lohnabhängigen. Ihre tatsächliche Glaubwürdigkeit beruht auch auf einem individuellen Gebrauch der Gewerkschaft, sie werden als soziale Einrichtungen oder Rechtsbeistände betrachtet. Auch wenn die massen­hafte Ablehnung der Gewerkschaft offen­sichtlich nicht auf einer radikalen Kritik an ihrer Funktion beruht, so enthält sie doch einige Ele­mente einer solchen Kri­tik. Der durch die Krise vorangetriebene Indivi­dualismus und die neuen Arbeits­bedingungen können diese Ver­änderung in Frank­reich nicht ausreichend er­klären. Denn dieselben Bedin­gungen existieren auch in anderen Gesell­schaften, in denen es nicht zu einer derart rasanten Ent­wertung der Gewerk­schaf­ten gekommen ist. Woran es auch liegen mag, die Folgen für die Funktion dieser Apparate und für ihre Funktion innerhalb des Sy­stems sind enorm. Der Zusam­menbruch der sozialistischen Ideolo­gien hat die Gewerk­schafts­arbeit deutlich ge­schwächt. Die militante Basis der Gewerkschaf­ten ist auf ein Häuflein Gläubiger zusammengeschrumpft, unter denen sich außer den letzten Über­leben­den der Kom­munisti­schen Partei militante Trotzkisten und Libertäre befinden. Zum ersten Mal in der Geschichte der französischen Gewerk­schafts­bewegung haben letztere eine Bedeutung bekommen, die weit über ihre soziale Ver­ankerung hinausgeht. Viele ehemalige Aktivisten der Koor­dinationen sind zu Militanten eben der Gewerk­schaf­ten geworden, gegen die sie noch vor zehn Jahren ge­kämpft haben. Diejenigen, die vorher eine gewerkschaftliche [syndikalisti­sche] Kritik an den »inte­grierten« Gewerkschaften ge­äußert haben, sind in dieselben Gewerk­schaften integriert worden. Dies wirft ein neues Licht auf die Natur der Koor­dinationen. Was diese Militanten kritisierten, war nicht die Funktion der Ge­werkschaft innerhalb des Systems, sie stellten auch nicht die Notwen­digkeit von Verhandlungen und Kompromis­sen in Frage. Ihre Proteste richte­ten sich gegen die bürokrati­schen Methoden dieser Verhandlungen und die ungün­stigen Bedin­gungen für Kom­promisse. So wäre also das große Mysteri­um der gewerk­schaft­li­chen Erneuerung in Frankreich aufgedeckt! Wir haben in den letzten Jahren mehr als die Transformation der Gewerkschaften erlebt, nämlich die Trans­formation ihrer gewerkschaftlichen Basis. Eine neue Schicht von Aktivi­sten hat gerade die alten Strukturen dynamisiert und ihnen ein demokrati­scheres Funk­tionieren bei­ge­bracht. Paradoxerweise wird der Syndikalismus um so mehr von der kommuni­sti­schen und anarchistischen extremen Linken ver­teidigt, je wir­kungsloser er in den Augen der Arbeiter erscheint. Die gewerk­schaftliche Praxis an der Basis ist zum militanten Rückzugsgebiet dieser Milieus geworden, und das Wort »Linker« heute fast zum Synonym für Gewerk­schaf­ter. Es ist leicht nachvollziebar, warum die Gewerk­schaftsbürokratie be­stimm­ter Dachver­bände (ins­besonde­re der CGT, aber auch der FO) so viel Toleranz gegen­über diesen Aktivi­sten übt, die sie jahrelang beharrlich mit aller Gewalt verfolgt hatten. Es geht um das Über­leben ihrer Institutionen, die von der großen Masse der Arbei­ter ver­lassen werden, also um ihr eigenes Überleben. Als sich die Bonzen vor­sichtig zur Abwesenheit der Koordinationen beglück­wünschten, wollten sie damit ihr Image aufpolieren und ihre Kontrolle über die Bewegung beweisen. Dabei haben sie sorgsam verschwiegen, daß die Ex-Mitglieder der Koordinatio­nen zu ihrem eigenen Fußvolk geworden sind. Das Fehlen von Koordinatio­nen beweist nicht, daß die Gewerk­schafts­apparate heute stärker sind, sondern ganz im Ge­genteil ihre größer gewordene Schwäche. Die Koor­dinatio­nen waren eine zeitlang der organisier­te Ausdruck der Krise der französi­schen Gewerk­schaften; denn die Apparate hatten geglaubt, sie könnten sich dem Druck der Basis und den Bestrebungen nach mehr innerge­werkschaftli­cher Demokratie widerset­zen. Heute können sich die Gewerkschaft­schefs nicht einmal mehr wider­setzen. Sie sind zur Tolerierung dieser Strömungen ge­zwungen, weil nur noch sie die gewerkschaft­li­che Basisarbeit aufrechterhalten können.

Im Zusammenhang mit einer solchen Abwesenheit des Konflikts zwischen den Apparaten und den Arbei­tern wurde vom »Arbeitergebrauch der Gewerk­schaft« gesprochen. Die Formel wurde unter anderem von den Strö­mungen der italieni­schen Autono­mie in den 70er und 80er Jahre benutzt. Sie bezieht sich auf eine durchaus diskussionswürdige Konzeption der Gewerkschaftsfrage. Dieser Kon­zeption zufolge könne eine Arbei­ter­organisation an­tagoni­sti­sche Inhalte anneh­men, wenn entsprechende politische Macht­bezie­hungen im Klassen­kampf existieren. Von diesem Ver­ständnis her wären die Organi­sa­tions­formen quasi neutral. Die Arbeiteraktion »verläßt« die Gewerk­schaft und das Kapital geht in die »Offensive«, um einen »Anti-Arbeiter-Ge­brauch« von derselben Gewerk­schaft zu machen. Nun ist es aber gerade die Glaub­wür­digkeit der Gewerk­schaft bei den Arbeitern, die einen kapitali­sti­schen Ge­brauch der Ge­werkschaft erlaubt. Die Gewerkschaft kann innerhalb des Systems nur funktio­nieren, wenn sie tatsächlich unter den Arbeitern ver­ankert ist. Die Macht der Gewerk­schaft als eine (vom Kapitalismus anerkannte) Institution zur Regulierung des Arbeits­markts ist selbst das Resultat des Klassen­kampfes und der Arbeiter­aktion. Mit den Worten eines unerbittlichen Antikapitalisten aus der ersten Hälfte des Jahrhun­derts und eines scharfen Kritikers der integrieren­den Funktion der Gewerk­schaft: »All das, was die Arbeiter an die Gewerk­schaften bindet (diese Orga­nismen, die sie selbst geschaffen, für die sie so viele Opfer gebracht, soviele Kämpfe geführt und soviel Enthusiasmus aufgebracht haben), kurz, all das, was die Gewerk­schaften ihrem Herz teuer macht, macht die Arbeiter gerade auch gehor­sam gegenüber dem Willen ihrer Meister.«6 Anders ge­sagt: der »Arbeiter­gebrauch der Gewerk­schaft« ist nicht zwangsläufig an­tagoni­stisch zum kapitalistischen Inter­esse. Im übrigen, und um wieder auf den Streik vom Dezember '95 zurück­zukom­men, schiene es korrek­ter, im Gegenzug von einem »Gebrauch der Gewerkschaft durch die Gewerkschafts­militanten« zu sprechen. Hinter der Formel vom »Arbeitergebrauch der Gewerk­schaft« steckt allerdings auch eine bestimmte Vorstellung von Politik und von Autonomie. Es würde ausreichen, daß sich die Lohn­abhängigen »antizipie­rende« oder gegen den »kapitalistischen Willen« gerichtete Ziele setzen, um die gewerkschaftliche Organisa­tion zum Ort des autonomen Handelns zu machen. Die Autonomie wird demnach durch die Existenz eines politischen Projektes herbeigeführt, das die Arbeiterinitiative gegen die »Kon­trolle durch das Kapital« mobilisieren kann. In diesem Schema bilden die ökonomi­schen Zyklen des Kapitals nur die andauern­den Versuche des Kapitals, die Arbeiterini­tiative zu schlagen, und umgekehrt [treibt die Arbeiterinitiative das Kapital immer wieder in die Krise]. »Die einzig mögliche Ge­schichte des Kapitals ist die Arbeiterge­schichte des Kapi­tals«, schrieb der bekannteste Theoretiker der italienischen Autonomie.7 Demnach besteht die Aufgabe der Militanten der Auto­nomie darin, diese politische Strate­gie8 aufzubau­en und voranzutreiben, die als notwendige Bedingung für die Neuzu­sam­mensetzung der Klasse auf dem Terrain des Lohns gesehen wird. Über die End­ergebnisse dieser dirigisti­schen Konzeptionen von Politik und die erstickende Rolle dieser Strate­gie-Spezialisten hat die Geschichte dieses Jahr­hun­derts bereits ihr Urteil gefällt. Bestehen die Qualitä­ten einer Bewe­gung nicht in ihrer Fähigkeit, mit der Logik der Politik und der Ökonomie zu brechen? Wenn in den Gedanken und in den kollektiven Aktionen das Imaginäre fehlt, kann es auch keine emanzi­patori­schen Per­spektiven geben. Genau dort befindet sich die Autonomie einer Bewe­gung. Von diesem Stand­punkt aus besteht der einzige »Arbeiterge­brauch der Ge­werk­schaft« in ihrer Über­windung als Organi­sations­form und in der Zurück­weisung ihrer Funktion, den Preis der Arbeitskraft zu regulieren.

II.

Der Dezember '95 war vor allem die Wiederentdeckung des kollektiven Wider­stands gegenüber den Diktaten der herrschenden Klassen und der arroganten Logik der Kapitalisten. Die Lust zum Kampf, der Stolz und die Würde haben sich über die Unter­werfung und die Angst gelegt. Die große Schwä­che des Streiks wurde jedoch gerade dort sichtbar, wo seine Stärke zu liegen schien. Denn diese Schwäche bestand nicht nur darin, daß eine Ausweitung des Streiks auf den Privatsektor der Wirtschaft mißlang, sondern daß bei den Streikenden selbst das Engagement gering blieb. Sicher, überall bezog man sich ein wenig auf die Vollver­sammlungen von Gewerkschaftsmitgliedern und Nichtmit­gliedern, die häufig für die Teilnahme von Externen offen waren. Von Anfang an haben die Strei­kenden auf eine Aus­weitung der Bewegung gesetzt, übernahmen Auf­gaben der Agitation und Solidarität, reisten herum und führten überall dort Kam­pagnen durch, wo sie glaubten, andere Arbeiter zur Teilnahme an der Aktion bewegen zu können. Diese Entschlossenheit war ein Anzeichen für eine gewalti­ge Bewe­gung und drückte einen qualitativen Sprung im Vergleich zu den korpo­ratistischen Streiks der letzten Jahre aus. Sogar nach Meinung zahlreicher Beteiligter wurden die Vollver­samm­lungen häufig von Gewerk­schaftsaktivisten mit Ver­bindungen zu politischen Gruppen organisiert und geleitet. Sie hatten als erste die Notwendigkeit betont, horizonta­le Kontakte herzustellen und die Aufspaltung in Kate­gorien [Berufe, Branchen usw.] zu überwinden. Bekanntlich verhindert der Bezug auf Versamm­lungen nicht die Anwendung mani­pulatori­scher Praktiken und Manöver. Es ist immer wieder zu beobachten, wie sich im Rahmen einer scheinba­ren Basisdemokratie der Diri­gismus von aktiven Min­derheiten breitmacht. Dieser Streik war ein Streik der Delegierten und politi­schen Aktivisten − die unver­meidliche Folge des blutleeren Zustands, in dem sich der französische Syn­dikalismus befindet. Die schlaffe Beteiligung der Arbeiten­den am eigentlichen Streik ist der Hauptgrund für den Mangel an Phanta­sie [imagination] und die Abwesen­heit von Gewerkschafts­kritik. Die Unorganisier­ten − die bei den Streiks 1986 in den Koor­dinatio­nen einen Ort gefunden hatten, wo sie sich äußern konn­ten − fehlten ebenso wie die Koor­dinatio­nen. Sie konn­ten sich zwar in den berufsübergreifenden Stadtteil­ver­samm­lungen oder auf den Demonstrationen äußern, doch es gab kaum Transparente, die auf ihre Anwe­senheit aufmerksam machten. Der Streik im Dezember 1995 war eine Bewe­gung, in der das Phänomen der Delegation auf verschiede­nen Ebenen voll ausge­spielt wurde. Die Masse der Arbeitenden, die nicht streikte, hat in die Aktion der Streikenden ihre eigenen Wünsche nach Revolte projiziert. Die Streikenden wiederum haben die Leitung und Durchführung des Streiks an die Aktivisten und die [gewerkschaftlichen] Delegier­ten delegiert. Über­haupt war der Streik sehr wenig »prak­tisch«, er wurde von den Arbeiten­den »kon­sumiert«. Sogar bei der SNCF war die Beteiligung niedriger als 1986, auch wenn parado­xerweise die Bewegung diesmal weniger korporati­stisch war. Die Beteiligung der Streiken­den an den Aktionen beschränkte sich auf ihre Anwe­sen­heit bei den Versamm­lungen und ein paar Streikposten. Im Gegensatz dazu wurden greifbare Siege dort errungen, wo es eine starke Beteiligung der Basis gab: beim Solida­ritäts­streik der Straßen­bahner von Marseille (für die Gleich­stel­lung im Status) und beim Streik in einigen Postver­teilzentren (für die Festein­stellung der prekär Beschäf­tigten). Die soziale Eman­zi­pation erfordert mehr als die mehr oder weniger passive Zustimmung zu einem Kampf. Um die Autono­mie der Aktion, Vertrauen auf die eigene Kraft und Selbst­bestim­mung zu erreichen, bedarf es mehr als der Delega­tion des Kamp­fes an die Kämpfe­risch­sten. Immer wieder gerät die Dele­gation in Wider­spruch zur Entwick­lung der Solidarität und zum Reifen der Aktion. Im Streik vom Dezem­ber '95 hat ein Delegierten­syndikalis­mus den Syndikalis­mus der Apparate ersetzt. Dies erklärt, warum die Bewegung immer wieder mit den Entscheidungen der Apparate gleichzog, obwohl diese in den Augen der Arbeitenden ihre Bedeutung verloren haben. Es fehlte der kollek­tive Schwung, und der defensive Streik mündete nicht in einen offensi­ven Kampf. Da dieser Delegiertensyndikalismus nicht auf einer Bewegung beruht, die ihm eine wirkliche Basis geben könnte, bleibt er ohne Zukunft − ein Mo­ment in der langsamen Agonie der alten Arbeiterbe­wegung.

III.

Die Stärke der Gewerkschaft dient zur Regulierung und Normalisierung der Aus­beu­tung. Ohne diese Kraft ist die Macht des modernen Kapitalismus nicht vollständig. Aufgrund ihrer besonderen Geschichte hat die französische Bour­geoisie die Gewerkschaften immer nur sehr zögerlich als Partner anerkan­nt. Obwohl im öffentlichen Sektor seit dem Zweiten Welt­krieg solche Mitbestim­mungsfunktionen existieren, sind die Gewerkschaften im Privatsektor erst nach dem General­streik vom Mai 1968 anerkannt worden. Allerdings fand diese Anerken­nung gerade in dem Moment statt, in dem die kapitalistische Dynamik außer Atem kam, und damit auch der Verhandlungsspiel­raum eingeschränkt wurde. Die Weigerung der französischen Kapitalisten, die Gewerk­schaften als regulie­rende Struktur anzuerkennen, macht die Bedeutung der büro­kratischen Beförde­rungs­strukturen verständlich. Im Gegen­satz zu Gesell­schaften mit einem sozial­demo­krati­schen Modell, wo die paritäti­sche Verwaltung überwiegt, wird die Arbeitskraft in Frank­reich mit autori­tären Methoden verwaltet.9 Mit der kapitali­stischen Krise haben diese veralteten Strukturen eine neue Bedeutung bekom­men. In dem Maße, wie sich Arbeits­losigkeit, Prekarität und eine gren­zen­lose Steige­rung der Ausbeutung als die neuen Spielregeln erwiesen, wurde den französischen Gewerkschaften immer zögerlicher die vorrangige gewerk­schaftli­che Funktion zuerkannt − die Rechte der Arbeiter als variables Kapital zu erobern und zu verteidigen. Die jüngste Geschich­te der französischen Ge­werk­schaften umfaßt auch die Jahre des An­wachsens der Ungleich­heit und des Ausschlus­ses. Im Verlauf von zwanzig Jahren haben die Gewerkschaften alle großen Kämpfe gegen die Umstrukturie­rung verloren. Sie haben sich der Logik untergeordnet, das System zu retten. Schließlich haben sie den (mit einem großen General­streik) erreichten Platz bei der Verwaltung der Lohnpo­litik im Unterneh­men verloren. Nachdem sie noch nie eine Rolle bei der Mitver­waltung der Arbeitskraft gespielt hatten, und verlassen von einer Basis, die sie selbst der kapitalistischen Willkür über­lassen hatten, steht es sehr schlecht um die französi­schen Gewerk­schaf­ten. Ihre letzten Verteidigungslinien (und Finanzie­rungs­quellen) befinden sich gerade­ im Öffentli­chen Dienst und in ihrer Rolle als Verwalter der Sozialversicherung.10 In den öffentlichen Unter­nehmen leiten die Gewerk­schaf­ten noch immer mächtige Betriebsräte [comités d'entre­prises], die selbst regelrechte Unternehmen mit tausenden Lohnabhängigen sind. Und schließ­lich stammt ein nicht zu ver­nachlässigender Teil der Gewerk­schafts­finanzen nunmehr aus staatlichen Hilfen und aus Zuschüssen der Sozialversiche­rungsinstitutionen. Wie die Kenner sagen: »Dieses finanzielle Manna (...) soll ihre Rolle als Ver­walter ver­süßen.«11

Die Krise und die Schwächung der gewerkschaftlichen Institutionen hat die Ver­achtung und die Arroganz der französischen Kapitalisten nur verstärkt. Der Aufstieg der Linken auf die Kommandohöhen des Staates hat diesen langen Prozeß der Schwächung der Institutionen der alten Arbeiterbewegung vollendet. Denn die Arbeiter hatten erwartet, daß die Linke das für sie tun könne, was die Gewerk­schaften nicht mehr tun konnten: nämlich die Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingun­gen aufhalten. In der Vergangenheit (1936 und in der Nachkriegszeit) waren Wahlsiege der Linken mit einer gestiegenen ge­werk­schaftlichen Kampfkraft einhergegangen. Nach 1981 war ein Rückgang zu beobachten. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ist in diesen Jahren (1981-1985) weiter zurückgegangen, auch als die Kom­munisten in der Regierung saßen (1981-1983).12

IV.

Der Streik im Dezember '95 hat vor allem deshalb eine politische Dimension bekommen, weil − jenseits der spezifischen und korporatisti­schen Forde­rungen − Inhalte zur Sprache kamen, die sich der Logik des Systems wider­setzten: die Zurückweisung der liberalen ökonomischen Rationalität, das Problem der Zu­kunft und der Jugend, sowie die wachsende gesellschaftli­che Verarmung. In einer Bewegung der am meisten geschützten und am wenig­sten prekären Berufs­gruppen wurde die Figur des Arbeits­losen und des prekären Arbeiters als die der Zukunft anerkannt. Als in Marseille Tau­sende von Arbeitslosen an der Spitze der Demo gingen, konnte man spüren, daß etwas Bedeutendes geschah: daß nämlich der Kampf im Begriff war, die Arbeiter zu ver­einigen, die durch die Krise getrennt worden waren. Sehr schnell hat sich dem ein Bedürfnis nach Klassenrache hinzugesellt. Die direkten, illegalen Aktio­nen haben begon­nen sich auszubreiten. Die Arroganz und der Reichtum der bürgerlichen Klasse wurden ganz besonders aufs Korn genommen: Entführung von Patrons, Chefs und Politikern, gewalttätige Einbrüche in den reichen Vierteln. In der Kritik an den Privilegien witterte man einen Anflug von »französischer Revolution«.13 Hier und da wurden öffentliche Dienst­leistungen wieder aufgenommen und dabei die benach­teiligten Schichten der Bevölkerung bevor­zugt: Postanweisun­gen an Arbeitslose wurden verteilt, in bestimmten Stadt­vierteln wurde Gas und Strom zu billigeren Tarifen abgege­ben, es wurden wilde Stromabzweigungen vor­genommen, Busse wurden eingesetzt, um Demoteil­nehmer zu befördern oder um Obdachlose in soziale Zentren zu trans­portie­ren. Zuweilen konnten die Gewerk­schaftskader die Kontrolle über diese Aktio­nen behalten14, aber öfter kam die Initiative von der Basis. Mit all ihren Beschrän­kungen waren diese Aktionen Träger der Zukunft und zeigten das Erwachen einer neuen Radikalität. Es gibt offensicht­lich immer einen Zu­sam­menhang zwischen den Formen und den Inhalten eines Kampfes. Alle Inhalte können sich nicht in einer gegebenen Organisationsform ausdrücken und das Auftauchen bestimmter Inhalte drängt auf das Entstehen neuer Organisationsformen. Im Dezember '95 konnten sich die radikalsten Initiativen nicht wirklich verall­gemei­nern und eine Massenform annehmen, weil sie ihre organisatori­schen Schranken nicht überwunden haben. Die direkte Aktion und die Praktiken, bei denen Arbeitsmittel in den Dienst der anderen Arbeiter gestellt wurden, blieben durch die Gewerk­schaften begrenzt. Es ist aber anzunehmen, daß die Art, in der die Gewerkschaften die Ein­richtung horizontaler Verbindun­gen, die Überwin­dung von Korporatismen und die Öff­nung der Versammlungen nach außen begleitet bzw. sogar vor­geschla­gen haben, sowohl einer Taktik des Appa­rats entsprach, als auch aufgrund des Drucks von der Basis zustande kam.15 Die schwa­che Betei­ligung der Arbeiter am Streik wurde somit durch einen Rück­griff auf Hilfe von außen kompensiert, die leicht zu handha­ben war, insofern sie das Verhal­ten der Apparate nicht in Frage stellte. Genauso lief es mit der Organisation der De­mos. Diese »Taktik der immer wiederkehren­den Demon­strationen hat zweifel­los dazu beigetragen, eine wirkli­che Veranke­rung des Streiks auf lokaler Ebene zu verhindern. Die Strei­kenden, die sich gerade daran gewöhnten, sich über die Branchen hinweg zu treffen und gemein­sam weitere Dienststellen und andere Unternehmen stillzulegen, wurden vor allem für die zentralen Demos mobilisiert. Nach und nach wurde die Zahl der Demonst­ranten wichtiger als die der Streikenden.«16 Auf der ande­ren Seite bewiesen die Breite der Demonstrationen auf der Straße und die Solidari­tät, die die Bewegung hervorrief, daß diese politische Dimen­sion einen Wi­derhall in der Gesellschaft fand. Der Leser einer offiziellen Abend­zeitung faßt das in starke Worte, wenn er sich auf »neue Bestrebungen [Aspirationen]« bezieht, »welche in diesem Mo­ment der tiefen Krise entstehen: Wenn der wirtschaftliche Fort­schritt nicht nur den gesell­schaftlichen Fortschritt, sondern gleichermaßen alle Hoff­nung auf gesell­schaftli­ches Fortkommen im Keim er­stickt, und wenn die Ant­­wort auf diese Verzweif­lung (die unsrige, am extremsten angehäuft bei den Ausgestoßenen auf der Straße, in den Vorstädten und anders­wo) die Verachtung ist, so könnte die Antwort auf die Verachtung blutig wer­den!«17 Die herr­schen­de Klasse und die französische Bourgeoi­sie haben den Hauch dieser Revolte gespürt und Angst bekommen. Nicht so sehr vor dem Streik, bei dem der Ver­handlungs­rahmen mit den Gewerkschaftsbossen von Anfang an abgesteckt war, sondern vor einem politischen Überschwappen, in das sich die gesamte Unzu­friedenheit ergießen könnte. »Neue Aspirationen«, die nicht verhan­delbar sind, gibt es etwas Beun­ruhigenderes für die Herren der Welt?

V.

Für die von der Krise niedergedrückten Arbeiter besteht die einzige Si­cherheit in dem Wissen, daß die Zukunft schlechter sein wird als die Vergan­gen­heit! Der gegenwärtige Stand des Klassenbe­wußtseins läßt sich in der ängst­lichen Frage zu­sammenfassen: »Wie werden wir da rauskom­men?« Man darf sich nichts vor­machen. Die Antwort auf diese Frage sucht die Mehr­heit der Arbeiter weiter­hin im Rahmen dieses Systems. Die Perspekti­ven einer emanzipa­torischen Alternati­ve sind in den gegenwärtigen Konflikten grausam abwesend. Der offene Gully, zu dem die Politik geworden ist, mit ihrer Abfolge von Korruption, Privilegien, Skandalen, Ungestraf­theiten, spielt sicher­lich eine Rolle beim Zurückdrängen jedes Erfolgs politischer Reflexion. Dies fügt sich nahtlos an den Zusammen­bruch der sozialistischen Modelle und an die Krise der alten Arbeiter­bewe­gung an.

Waren die Unsicherheit und die Angst nicht auch in der Bewegung des Dezem­ber '95 zu spüren? Die ausgebliebene Ausweitung des Streiks auf den Privat­sek­tor war der sichtbarste Beweis dafür. Stellenweise, vor allem in der Provinz, gab es Solida­ritätsaktionen. Aber in der Gesamtheit der großen Unter­nehmen gelang es selbst den militante­sten Gewerkschaftern nicht, die Arbei­ter zu mobilisieren. Auch ihre Beteiligung an den Demon­stratio­nen auf der Straße blieb sehr be­schränkt. Wer behauptet, die Gewerk­schaften hätten die Gene­ralisie­rung der Bewegung gebremst, weigert sich, den Stand der Spal­tung und der Schwäche der Arbeiter­klasse im Privatsektor zu sehen. Die Erklärung liegt vielmehr in der neuen Klassenzu­sam­mensetzung (charak­terisiert durch die Prekarität) und im Zer­bröckeln der Gemeinschaft der Arbeiter, die von der Angst vor der Arbeitslosigkeit angesteckt ist. Diesbezüglich müssen auch die verschiedenen Formen einer indirekten Unterstützung der Streikenden betrachtet werden. Es wurde viel von der Solidari­tät (»mit Vollmacht«) derjenigen geredet, die weitergear­bei­tet haben, sowie von den Netzen der gegen­seitigen Hilfe, die die Nichtstreikenden auf die Beine gestellt haben. Die Existenz einer wirkli­chen Solidarität und einer »Zunahme an Gemeinschaftssinn« soll nicht bezweifelt werden, aber die triumphalisti­schen Diskurse müssen etwas relativiert werden. Zuallererst: wer nicht gegen einen Streik demon­striert, ist ihm nicht notwendi­gerweise wohlgesonnen! Hier hat die soziale Passivität ihr ganzes Gewicht ausgespielt. Es stimmt zwar, daß die Versuche zum Aufbau einer Anti-Streik-Front geschei­tert sind, aber außer den Demonstrationen gab es keine kon­kreten Schritte zur Unterstützung des Streiks, z.B. Unterstüt­zungs­komitees in der Art, wie sie 1986 geschaf­fen wurden. Andererseits waren die, die sich in den offenen Ver­samm­lungen der Streikenden einfanden, in den meisten Fällen Militante oder Personen mit politischen Positio­nen. Zu den informellen Netzen gegenseitiger Hilfe drän­gen sich einige Bemer­kungen auf. Abgesehen von den Ver­bindun­gen, die sie zwi­schen den Individuen schaffen konnten, nützten diese Netze eher dem Unter­nehmer­lager als der Gemein­schaft der Streikenden; ihr vor­rangiges Ziel war es, den Leuten zu ermöglichen zu arbeiten. In dieser Hinsicht konnten die Medien es sich nicht verkneifen, den »Geist der Verant­wort­lich­keit« der Lohn­abhän­gigen in diesem »schwierigen Moment« zu unter­strei­chen. In zahlrei­chen Unter­nehmen über­nahmen die Geschäftsleitung und die leitenden Angestellten die Führung der »Bewe­gung«. »Die sozialen Hier­archien glätten sich, die ver­schmitzten Initiati­ven der Basis werden günstig aufgenom­men. (...) In der Notsituation sind die sozialen Barrieren gefallen. Die Direktoren fahren die Sekretä­rinnen umher, die Meister beherbergen die Be­schäftig­ten. Die Funktion und die Hautfarbe spielen kaum eine Rolle, sofern man solidarisch ist!«18 Diese Art, die sozialen Barrieren fallen zu lassen, ähnelt offensichtlich eher einer Stärkung des Unternehmensgeistes als einer Entwicklung von Zusammenhängen des Widerstands! Auch hier hat sich der allgemeine Druck ausgewirkt. Diese Formen gegenseitiger Hilfe waren mehr durch die Angst hervor­gerufen, als durch ein wirkliches Solidaritäts­gefühl gegenüber den Strei­kenden. Angesichts des Kräfteverhältnisses in den Unternehmen, werden viele Unternehmer die Verkehrsprobleme dazu benutzt haben, um Beschäftig­te zu bestra­fen oder sogar zu entlassen. Ein Beweis, sofern man ihn nötig hat, daß der Streik das Kräfte­ver­hältnis wenig oder gar nicht verändert hat. Viele Strei­kende waren sich über die in vielen Privatbetrieben herrschende Atmosphäre der Angst voll­kommen im klaren, aber es wurde sehr wenig über praktische Mög­lichkeiten diskutiert, die diese Situation hätten kippen können.

Von seinen eigentlichen Wesenszügen her ist der Streik vom Dezember '95 ein Streik französi­scher Lohnabhängiger geblieben, die allein Zugang zu einer Stellung im öffentlichen Dienstes haben. Die eingewander­ten Arbeiter, die einen bedeu­ten­den Sektor der Arbeiterklasse ausmachen, blieben abseits und standen außerhalb der Bewegung, wie übrigens auch die Mitglieder der neuen »gefähr­lichen Klasse«, die unglücklichen Bewoh­ner der Vorstadt-Ghettos. Infolgedessen wurden alle Fragen, die mit der Ein­wande­rung verknüpft sind, unterschlagen; genauso wie die der neuen Ausbeutungsformen oder die der Sicher­heitspolitik. Dabei ist bekannt, daß die Benutzung der illegalen oder halblegalen Arbeit ein Element der neuen Klassenzu­sammen­setzung bildet. Das Schweigen der Bewe­gung zu diesen Fragen ist be­zeichnend, zumal alle wissen, daß Privat­unter­nehmen und Subunternehmer, die Einwande­rer ausbeuten, für die großen öffent­li­chen Verwaltun­gen arbeiten (SNCF, Post, RATP, EDF/­GDF). Das Funktio­nie­ren des öffentlichen Dienstes beruht schon heute auf dieser Aus­beutung, und es wäre wichtig, endlich hervorzuheben, daß nur eine formelle Trennung zwischen Privatsek­tor und öffentlichem Sektor besteht. Die Streikenden des öffentli­chen Sek­tors haben dieser Entwick­lung kaum Rechnung getragen, faktisch wurde der Bruch zwischen privatem und öffentli­chem Sektor nicht einmal in­nerhalb der großen bestreik­ten öffentlichen Unter­nehmen aufgehoben. Stellen­weise (bei den Niederlassun­gen der SNCF und auch bei einigen Postverteilzentren) haben sich die Strei­kenden an die Arbeiter der Subunternehmen gewandt, wo oft eine große Unzufrie­denheit herrscht. Aber in den meisten Fällen haben sie sie igno­riert.19 Die passive und distanzierte Art, in der die virtuell-prole­tari­schen Jugend­lichen der Vorstädte den Streik erlebten, läßt sich ebenfalls leicht er­klären. Zum einen paßte die Lahmlegung des öffentli­chen Nahverkehrs gut zu den Erfordernissen der »öffentlichen Ordnung«, da die Innenstädte dadurch von den Vorstädten isoliert wurden. Was aber noch wichtiger war und was wir nicht vergessen dürfen: für die Jugend­lichen ist das Bild des Arbei­ters im öffentli­chen Sektor vor allem mit staatlicher Repression verknüpft. Lehrer, Sozial­arbeiter, Kon­trolleu­re, Busfaher, Lokführer und Steuer­beamte sind für sie Hilfs­kräfte der Polizei.

VI.

Zur Rolle des Nationalismus in dieser Bewegung ist wenig gesagt worden. Dennoch wurde sehr beharrlich über die Verteidigung eines öffent­lichen Dien­stes »der französischen Art« [service public à la française] und die Verantwor­tung der europäi­schen Maa­stricht-Politik für die Zerstörung des Soziallohns und das Vorantreiben einer neoliberalen Politik diskutiert. Es kann jedenfalls kaum bestritten werden, daß der Natio­nalismus − als Ideolo­gie − eine der verein­heitli­chen­den Kräfte dieser Bewegung gewesen ist. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Welt­krieg berufen sich Gewerk­schaften auf Werte der extremen Rechten, die der Front Natio­nal nahesteht und die beim Streik Seite an Seite mit den Mehr­heits­gewerk­schaften auftraten.20 Daß sich innerhalb von Arbeiter­kämp­fen organi­sier­te nationalisti­sche Tendenzen äußern, scheint von nun an unver­meid­lich und unumgänglich. Dazu zwei Anmerkungen: Zum einen ist es an der Zeit, sich von der sehr verein­fachen­den Vorstellung zu verabschieden, Nationalismus und Frem­den­feindlich­keit würden den Arbeitern vom bösen Wolf der Front National einge­trichtert. Zum anderen davon, daß diese Werte wie Pilze aus dem Boden der Krise schie­ßen, denn man muß sich in Erinnerung rufen, daß sie lange Zeit von genau denjenigen ver­teidigt wurden, die sich heute darüber beklagen. War der franzö­sische Patriotis­mus nicht eines der einigen­den Momente der Arbeiter­kultur in den glanzvollen Zeiten der Linken und der Kommunistischen Partei? Unter­scheidet sich eigent­lich der Arbeiter, den man heute dafür verachtet, wenn er »Frank­reich« im Sinne der Front National skandiert, von dem Arbeiter, der neulich noch hinter den Fahnen des kommunistischen Frankreich marschierte? Sicher, die Zeiten haben sich geändert, aber es ist un­möglich, diese Übergänge und Verbindungen zu ignorie­ren. Es zeugt von einem merkwürdigen Gedächt­nis­ver­lust zu glauben, die »traditionellen Ideale von univer­seller Solida­rität, Gleich­heit und sozialer Gerechtigkeit« seien von den Organisationen der alten Arbei­terbe­wegung getragen wurden.21 Besteht da nicht irgendein Zusammenhang zwischen dem kommunistischen »Französisch produzie­ren!«, dem »In der Hei­mat leben und arbei­ten« der CFDT und dem »Französisch produ­zieren mit den Franzo­sen« der Front National?

Paradoxerweise scheint sich die Position der institutionalisierten − oder wie sie sich selber gerne definiert: repu­blika­nischen − extremen Rechten in dieser Bewegung in einer Schieflage gegenüber den Bestrebungen des populä­ren Nationalismus zu befinden. Trotz ihrer Verankerung in der Gesellschaft war die Unterstützung der Front National für die Streikenden schlapp und zweideutig, weil sie weder den Gewerkschaften noch der Regierung Recht gab. Ihre beson­deren Bindungen an die Bourgeoisie und die reaktionä­re Kleinbour­geoisie (freie Berufe, Kleinkapitalisten, Handwerker und Händler), die jeder Arbeiteraktion grundsätz­lich feindlich gegenüberstehen, erklären die neoliberale Orien­tierung der Partei und auch ihre zweideutige Haltung gegenüber dem Streik. So gesehen hat die Streikbewegung den mehrheitlich reak­tionären (und nicht-faschisti­schen) Charakter der Front National gezeigt. Auch dort muß die Ent­wicklung der sozialen Situation die Dinge klären. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß die reaktionäre Tendenz in dieser Partei mit anderen Tendenzen zusammenkommt, die eine größere Nähe zu einer national-sozialisti­schen Ideolo­gie haben. Diese Tendenzen sprechen von der Bewegung des Dezember 1995 als dem Ausdruck einer »vorrevolutionären Situation, aufgrund des Bruchs zwi­schen Volk und in­stitutionalisierten Eliten«; für sie »ist die Welt der Arbeit in Erscheinung getre­ten, um ihre Unruhe angesichts der Destabilisierung unserer Gesell­schaft und unserer Wirtschaft auszudrücken, die mit der Globalisierung und mit Maa­stricht verbunden ist.«22 Diese Strö­mung bewegt sich also sichtlich auf demselben nationali­stischen Terrain wie Partei­en der Linken und der ex­tremen Linken, mit denen sie zunehmend in Konkurrenz tritt. Daher weigert sich diese Strömung, die soziale Bewegung »als einen Konflikt alten Typs zwischen Regierung und Gewerk­schaften mit Unterstützung der Linksparteien« zu betrachten.23 Im Gegenteil, wenn es darum geht, die notwendigen Bedingungen für den »großen Umsturz« zu präzisieren, benutzen diese Antiso­zialisten eine quasi bolschewisti­sche Logik. Die »Existenz einer Machtalternati­ve« wird als die entscheidende Bedingung angesehen. Mit Sicherheit sind die Tendenzen der extremen Rechten von nun an in der Arbeiterwelt verwurzelt. Möglicherweise wird genau dort eine wirkli­che Kraft mit faschistischen Konturen Gestalt annehmen. Mit faschisti­schen Kon­turen in dem Sinne, daß diese Strömung gleichzeitig proletarisch und antibürger­lich sein wird, indem sie staatliche Interventio­nen in die Ökonomie einfordert. Es sollte einen nicht wundern, wenn sich eine neue Sammlungs­bewegung viel eher zusammen mit den linken patrioti­schen und antieu­ropäischen Strömun­gen, sozialistischen wie kommunistischen, vollziehen würde, als mit den als mit den honorigen Reaktio­nären der Front National.

VII.

Im Januar 1996 beendeten die Arbeiter der Staley-Fabrik in Decatur (südlich von Chicago) einen langen Streik gegen einen multinatio­na­len Konzern der Landwirtschaftsindustrie, der zweieinhalb Jahre gedauert hatte. In der letzten Nummer ihrer Streik­zei­tung, War Zone (Kriegszone), hieß es: »Wie unsere französischen Genossen müssen wir bereit sein, uns gegen diejenigen zu stellen, die unser Leben zerstören wollen.« Einige tausend Kilometer davon entfernt, im luxuriösen Schweizer Wintersport­gebiet von Davos, diskutierten renommierte Wirtschaftsexperten und angesehe­ne Politiker die Zukunft des Kapitalis­mus und machten sich über die internatio­nale Tragweite der französischen sozialen Bewegung vom Dezember 1995 Sorgen.24 Wie lassen sich diese Sorgen, dieser Einfluß erklären, wo doch der Streik in Frankreich selbst als nationale Angele­genheit betrachtet wurde? Welchen Sinn konnte dieser Kampf für die Arbeiter in Gegenden bekommen, wo kaum jemand etwas über Frankreich weiß? Es scheint von nun an selbstver­ständlich zu sein, daß die Bewegung vom Dezember '95 ein Gefühl ausgedrückt hat, das auch außerhalb der Grenzen vorhanden ist. Es handelt sich um einen Widerstand gegen die ständige Verschlechterung der Lebens­bedingun­gen der Arbeiter, die seit Jahren damit ge­recht­fertigt wird, daß man sich den heiligen und unerbittlichen Gesetzen des Kapitalis­mus zu unter­werfen habe. Dieser Widerstand ist ein Hoffnungsschimmer, der Beweis dafür, daß noch nicht alles verloren ist, daß wir gemein­sam »nein« sagen können.

Ein Mittel zur Erhöhung der Kapitalrentabilität besteht in der Reduzie­rung der Produk­tionskosten. Seit Jahren werden die direkten Produktions­kosten durch Lohnsenkungen und die Aus­weitung prekärer Arbeit gesenkt. Mit der Reduzie­rung der Sozialhilfe und der Kürzung der vom Staat verwalteten Soziallöhne (Pensionen, Beihilfen) wollen die Kapitalisten jetzt die indirek­ten Kosten sen­ken. Den herrschenden Klassen ist bewußt, daß diese staatlichen Lei­stungen die Garan­tie für eine normalisier­te Ausbeutung sind und den sozialen Frieden gewähr­leisten. Trotzdem setzen sie diese Revisionen der Sozialpo­litik durch. In der Funktions­weise der gemischten Ökonomie wird die durch die Staatsaus­gaben angescho­bene Produktion als Ausgleich für das Versagen der privaten Profitpro­duktion be­trachtet. Dieser Eingriff hat neue Widersprüche zur Folge, denn er bedeutet einen zusätzlichen Abzug von den privatkapitali­stischen Profiten, die gerade gerettet werden sollen. Daher kommt der aktuelle Druck, die Belastungen durch staatliche Eingriffe zu senken, was von allen gefordert wird... Andern­falls würde die gesamte Ökonomie zu­sammenbrechen. Die Pläne zur Zerstörung des Wohl­fahrtsstaats sind überall in den reichen Län­dern die Kon­sequenz aus der Krise der gemischten Wirt­schaft und das Resul­tat dieses politi­schen Kom­promis­ses innerhalb der herrschenden Klas­sen.

Der Streik vom Dezember '95 kann als Kampf zur Verteidi­gung des Wohl­fahrts­staats angesehen werden. Ganz zu Recht. Die Arbeiterklasse sieht in diesem Geflecht von Institutionen und Regelungen natürlicherweise das Boll­werk, das sie vor der kapitalistischen Barbarei schützt. Jahrelang haben die Gewerk­schaften und die Linksparteien den Aus­ge­beuteten die Idee vermittelt, daß der Staat per Vertrag an die Fortsetzung dieser berühmten »sozialen Errun­genschaf­ten« gebunden sei. Nun war damit also nichts! Die Ausgebeuteten fühlen sich heute wehrlos gegen­über der Zerstörung des Wohlfahrtsstaats. Sie entdecken, daß man für das eigene Überleben kämpfen muß. Die französischen Arbeiter kämpften auch für die Aufrechterhal­tung dieses staatlichen Bollwerks und verbürgten sich für das reformisti­sche Credo, das sie in die aktuelle Situa­tion gebracht hat. Daß sie einen Staat mit Schutzfunktion, den öffentli­chen Dienst, verteidigen, ist Aus­druck ihres Glau­bens an eine Gesellschaft der formel­len Gleichheit der Bürger, jenseits der wider­sprüchlichen Interessen der Klassen. Zweifellos liegt hierin eine Schwäche derjenigen, die zum Kampf bereit sind. Auch wenn die Bewe­gung innerhalb des Systems geblieben ist, führten die Initiativen dennoch in Richtung auf die Wiederherstellung eines öffentlichen Sektors mit einer solidari­schen Logik, die eine mögliche Neudefinition der Idee der öffentli­chen Dienste nach einer Logik der Befriedigung sozialer Bedürfnisse ankündigt.

Heutzutage wird die Deregulierungspolitik für die soziale Verarmung verant­wort­lich gemacht. In den Augen der Arbeiter ist der Neoliberalismus die Rein­form des Kapitalis­mus, ein Schritt zurück, und es ist logisch, daß diese Politik den Widerstand vereint und Energien mobilisiert. Aber im Schatten dieses Kampfes mobilisieren sich auch Sektoren der nationalen Bourgeoisie, um ihre Interessen geltend zu machen. Das wichtigste Wort der neuen anti-neolibera­len Ideologie ist Globalisie­rung. Aber was ist Globalisierung wenn nicht die Ge­schichte des Kapitalismus selbst? Was als eine neue und gefährliche Entwick­lung präsentiert wird, ist nichts als die moderne Phase dieses langen Prozes­ses, der durch das Verschwinden bzw. die Umwandlung des staatskapitali­sti­schen Blocks markiert wird. Der Anti-Globalisierungs-Diskurs wertet auch den Protek­tionismus von einst wieder auf und fordert eine Rückkehr zum früheren inter­ventionisti­schen Staat: »Die Globalisierung ist das Verschwin­den der Regulie­rungsfähigkeit.«25 Der Neoliberalismus wird wie eine Ab­weichung von der kapitalistischen Politik disku­tiert, und nicht als das Resultat des Scheiterns inter­ventionistischer Regulierungen zur Sicherung der priva­ten Kapitalrentabilität. Die Finanz­märkte werden als finstere Mächte dargestellt, während ihre Bedeu­tung im Ausmaß der Spekulations­aktivitäten der Kapitalisten zum Aus­druck kommt. Das Ziel des mystifizierenden Manö­vers ist es, kurz gesagt, den wirk­lich Verant­wortli­chen, den Kapitalismus, nicht beim Namen zu nennen, und zu suggerieren, daß eine Lösung im nationalen Rahmen ge­fun­den werden kann. Deshalb holt man die alte antiimperialistische Argumen­tation wieder heraus: »Die Vereinigten Staaten sind die wichtigste deregulierende Macht des Plane­ten.«26 Diese neuen Schutzengel stellen der vereinheitlichenden Globalisie­rung (»Ameri­kani­sierung«) natio­nalistische Werte mit unheilvoller Vergangen­heit gegenüber, die nationale Verein­heitlichung. Auf diese Weise werden die sozialen Wider­stands­bewegun­gen gegen die Krise auf diese eingeschränkte nationalisti­sche Vision zurückge­stutzt. Dementsprechend sei der Streik vom Dezember '95 auch »ein Zeichen für die zunehmenden Spannungen zwischen dem Staats­appa­rat und der Nation als Lebensgemeinschaft« gewesen.27 »Nation als Le­bens­gemeinschaft«, das Programm für ein Volksfest! So als ob diese Bewegung der Überbringer eines patrioti­schen Grußes gewesen sei, ange­sichts der Monster Finanz­märkte und Globalisie­rung!?

Mehr als je zuvor ist der kapitalistische Raum der Raum des gesamten Plane­ten. Allein in Frankreich haben die multinationalen Konzerne einen Anteil von über 30 Prozent am Bruttoin­landsprodukt und ebenso­viel bei den Expor­ten. Und die größten Unternehmen mit französischem Kapital sind selbst mächti­ge Multis. Wie ist also diese Forderung nach einer Rückkehr zum Protek­tionis­mus zu verstehen? Das Projekt müßte von neuen totalitären Formen der Kon­trolle von Wirtschaft und Gesellschaft begleitet werden. Wenn wir vom Irrea­lismus dieses Diskur­ses einmal absehen, so liegt seine Bedeutung einstweilen darin, daß er beharrlich die nationalistische Botschaft in die Ziele der ausgebeuteten Klas­sen und der Ausgeschlossenen hineinschreibt. Von nun an ist es unverzichtbar, daß wir uns diesem mystifi­zieren­den, patriotischen und staatsgläubigen Diskurs ent­gegen­stellen und tatsächlich inter­nationalistische Per­spektiven voran­bringen. Ob in der Form des Wohlfahrtsstaats oder in der Form des liberalen Staates, der Kapitalis­mus ist ein System von Un­gleichheit, Ungerechtigkeit und Barbarei. Wenn man sich dem Neolibera­lismus entgegenstellen will, indem man für den Inter­ventio­nismus stimmt, dann entscheidet man sich dafür, den Warengesetzen unter­worfen zu bleiben. Mehr und mehr wird diese Frage in den kommenden Kämp­fen im Zentrum der politi­schen Debatte und der kollekti­ven Aktion ste­hen. ■

Februar 1996

Charles Reeve

[1] Es ist eine symbolträchtige Tatsache, daß der Streik vom De­zember '95 bei den Eisenbahnern des Gare du Nord in Paris begann, dort wo 1986 eine der ersten Koor­dina­tionen gebildet worden war.

[2] »Die Rückkehr der Gewerkschaften«, Jean-Louis Mourgue, Sekretär der FO-PTT, in: Maintenant, 20. Dezember 1995.

[3] Le Monde, Paris, 21. Dezember 1995.

[4] Jouhaus, Rede, 6. Juni 1936.

[5] In Frankreich liegt der gewerkschaftliche Organisa­tionsgrad bei neun Prozent (Privat­sek­tor und öffentlicher Sektor zusammenge­nommen). Innerhalb von zwanzig Jahren ist er um zwanzig Pro­zentpunkte gefallen, während er in Groß­britannien um sechs Pro­zent­punkte und in den USA um sieben Prozentpunkte zurückge­gangen ist.

[6] A. Pannekoek, »Arbeiterräte«, Ed. Spartacus.

[7] Tronti, Arbeiter und Kapital (dtsch. Ausgabe, Frankfurt 1974; neu aufgelegt als Thekla 9, Sisina, Berlin o.J.).

[8] »Les Ouvriers contre l'Etat − Matériaux pour une intervention«, Paris 1973.

[9] Zwichen dem Kriegsende und den 80er Jahren hat sich in Frankreich die Zahl der Vorgesetzen [cadres] verdoppelt und die der Vorarbeiter [contremaître] verdreifacht. Von 100 Beschäftigten in der Industrie sind die Hälfte nicht-gewerblich, während es in Deutschland 40 Prozent und in Italien 25 Prozent sind.

[10] Über 4000 Verwaltungsangestellte der Sozialversicherung sind gewählte Gewerk­schaftsfunktionäre. Tausende von hinzugewählten Gewerkschaftern arbeiten im Mittelbau dieser Institutionen.

[11] »La CNAM a versé 180 millions de Francs aux syndicats de 1991 à 1994« [Die CNAM hat den Gewerkschaften zwischen 1991 und 1994 180 Millionen Francs gezahlt], Le Monde, Paris, 21. Februar 1996.

[12] »L'arrivée de la gauche au pouvoir accélère, en particulier, le désyndicalisation chez les ouvriers.« [Die Ankunft der Linken könn­te insbesondere die Entgewerkschaftlichung bei den Arbeitern beschleunigen.] Le Monde, Paris, 19. November 1985.

[13] So in Bordeaux, wo die Müllarbeiter die Mülltonnen aus den Armenvierteln vor der Villa des Premierministers ausgeleert und ihm vorgeschlagen haben, darin rumzu­wühlen, um »zu sehen, was die Armen essen«.

[14] »De l'électricité dans l'air«, Le Monde libertaire, Paris, 14. Dezember 1995.

[15] Eine bekannte Ausnahme: die wichtige Rolle, die eine informel­le Struktur von Lehrern der nördlichen Viertel von Paris beim Aus­bruch des Streiks der Pariser Lehrer gespielt hat.

[16] »Scènes de gréve général en hiver«, Le Combat syndicaliste [CNT], Paris, Januar 1996.

[17] Leserbrief, Le Monde, Paris, 7. und 8. Januar 1996.

[18] »L'inéfinissable légèreté des Parisiens solidaires par temps de grève« [Die unendliche Leichtigkeit der solidarischen Pariser in den Zeiten des Streiks], Le Monde, Paris, 21. Dezember 1995.

[19] So ist beispielsweise kaum zwei Wochen nach dem Ende der Bewegung bei einer Putzfirma, die für die RATP arbeitet, ein harter Streik ausgebro­chen. Mei­nes Wis­sens haben die Gewerk­schafter der RATP den kämp­fen­den Immigranten-Arbeitern keinerlei Solida­rität ent­gegengebracht. Le Combat Syndicaliste, Paris, Februar 1996.

[20] So geschehen in Marseille, wo bei den Straßenbahnern die rechtsextre­me Gewerk­schaft CSL im Streikkomitee saß. Bei der RATP (Paris) riefen die der Front National naheste­henden unab­hängigen Ge­werkschaften zum Streik auf.

[21] Siehe zum Beispiel: »En France, désespérance populaire et démagogie politique« [In Frank­reich: Ver­zweiflung des Vol­kes und politi­sche Dem­ago­gie«], Alain Bihr, Le Monde Diplomatique, De­zember 1995.

[22] Bruno Mégret, Funktionär der Front National, »Le FN entend soutenir les mouve­ments sociaux dans une démarche rénové« [Die Front National ver­steht es, die sozialen Bewe­gungen auf neue Weise zu unter­stützen«], Le Monde, Paris, 13. Februar 1996.

[23] Ebd.

[24] Marc Blondel, der quasi-trotzkistische Führer der Force Ouvriè­re (FO) war auch dorthin eingeladen, um diese Kreise zu beruhi­gen.

[25] Edgard Pisani, »Tout ensemble contre la mondialisation« [Alle gemein­sam gegen die Globalisie­rung], Le Monde Diplomatique, Paris, Januar 1996. [In der deutschsprachigen Ausgabe: »Die Politik neu erfinden«, Seite 2].

[26] Ebd.

[27] ebd. [Fußnote 2].


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