Sturmwarnung
Anfang Dezember 1995 konnte man Angst, Resignation und Passivität für die meistverbreiteten Empfindungen und Verhaltensweisen in der französischen Gesellschaft halten. Die repressive Politik der Regierung im Anschluß an die befremdende Kampagne terroristischer Attentate kann so interpretiert werden, daß sie darauf gerichtet war, den Konsens um den Staat zu stärken. Die Zeiten sind vorbei, in denen der Kapitalismus die Orientierungspunkte setzte für eine Integration des Proletariats − Lebensweise und Set von Verhaltensweisen −, die den Kohl für die reformistischen Organisationen fett machten. Seit Jahrzehnten festigt der Geleitzug von Elend, Ausschluß und Gewalt das Gefühl der Unsicherheit in der Welt der Lohnarbeit. Das Handeln von Parteien und Gewerkschaften war folgenreich. Delegierung der Verantwortlichkeiten, patriotischer Kult und fremdenfeindliche Praktiken, Gehorsam gegenüber den Chefs und Glaube an das System schufen schließlich verantwortungslose und unterworfene Wesen, die wie gelähmt den Verödungen durch die Wirtschaftskrise ins Auge sehen. Und die Summe all dieser Frustrationen, Egoismen und Individualismen erschien als Rohmaterial einer autoritären gesellschaftlichen Mentalität die nach Ordnung und Sicherheit verlangt.
Da stehen wir nun mit unseren sachkundigen Überlegungen, die zwischen Militärs im Drillich und Gendarmen an der Lafette mit sonnenverbrannten Gesichtern umherziehen, denn was die Wirklichkeit bringen wird, ist nicht abzusehen. Der Streik im öffentlichen Dienst hat sich wie ein Lauffeuer ausgebreitet und das Land paralysiert. Er macht die explosiven Gasflaschen vergessen und die rassistischen Razzien in Bahnhofshallen, Straßen und Metro-Stationen. Innerhalb weniger Tage sollte ein Klassenkonflikt alle anderen Konflikte und Probleme der Gesellschaft überlagern.
Hier machen wir eine erste Feststellung. Der Zustand der Machtbeziehungen zwischen den Klassen kann nie allein von den oberflächlichen, sichtbaren Formen der sozialen Unterwerfung aus gemessen werden. Sobald es sich um Klassensituationen handelt, ist niemals etwas erstarrt, alles ist möglich, auch das Unvorhersehbare. Ein machtvoller Kampf kann die Mauer der gesellschaftlichen Resignation aufreißen. Kollektive Fähigkeiten, die man für eingeschlafen und eingekerkert hielt, werden nun am großen Tag freigesetzt. Aber die von uns festgestellte soziale Unterwerfung und Passivität waren nicht nur eine theoretische Konstruktion. Sie waren auch Ausdruck dieser Machtbeziehung.
Diese Bewegung hat zahlreiche Fragen aufgeworfen. Welche Macht hat zehntausende von Arbeitern mobilisiert, Millionen Menschen, Junge, ArbeiterInnen, Arbeitslose und Rentner auf die Straßen der französischen Städte getrieben? Warum sind sie aus der Lethargie und Resignation aufgewacht, auf die sie sich seit Jahren beschränkt hatten? Wie ist ihr Selbsterhaltungstrieb erwacht angesichts einer Bourgeoisie, deren Arroganz grenzenlos schien? Die folgenden Kommentare stellen einen Versuch dar, die Ereignisse und Erlebnisse zu verstehen. Kollektive Aktionen bieten die Gelegenheit, zu einem wirklichen Verständnis der Gesellschaft zu kommen. Eine soziale Bewegung dieses Ausmaßes ist die Möglichkeit auszuprobieren, ob ein Analyseschlüssel taugt oder abgelehnt oder gegebenenfalls revidiert werden muß. In diesem Text werden wir nicht auf die Chronologie des Streiks und seinen Ablauf zurückkommen. Gleichfalls werden wir nicht auf die Formen und Ziele der studentischen Agitation eingehen, die dem Streik im öffentlichen Dienst voranging. Uns interessieren insbesondere bestimmte Aspekte der Bewegung: die Rolle der Gewerkschaften, die Verbindung zwischen gesellschaftlicher Krisenstimmung und kollektiver Aktion, die politischen Auswirkungen des Streiks und das Auftauchen des Arbeiternationalismus als vereinigende Kraft des Kampfes.
I.
Das grundlegende Prinzip der Arbeiteraktion ist die Organisation. Gestern wie heute, wie auch immer die Arbeiterklasse zusammengesetzt sein mag, ohne Organisation geht nichts im Kampf gegen den Kapitalismus. Deshalb ist es wichtig, über die Rolle der Gewerkschaften in der Bewegung im Dezember '95 zu diskutieren. Dieser Streik wurde von den gewerkschaftlichen Organisationen angeführt und zwar ohne offenen Konflikt mit der Aktion der Arbeiter. Eine vielleicht störende Feststellung angesichts der Tatsache, daß sich alle großen Kämpfe der letzten Jahrzehnte in Opposition zu den Gewerkschaftsapparaten entwikelt und unabhängige gewerkschaftliche Strukturen neuen Typs hervorgebracht hatten: die Koordinationen.1 Deren Abwesenheit sahen einige sofort als Beweis für die »Rückkehr der Gewerkschaften«, als »Rehabilitation des Syndikalismus«, kurz, als Widerlegung der Gewerkschaftskritik, bei der es sich um »modernistische Theorien, die in den letzten Jahren durch die Pariser Salons geisterten«, gehandelt habe. Auf diese billig Weise wollten sich als erste natürlich diejenigen beruhigen, die ihre Fleischtöpfe verteidigen mußten.2 Andere, die einen opportunistischen Standpunkt einnahmen, meinten, das Problem habe sich in der Praxis gar nicht gestellt; daher sei es verfrüht − darüber hinaus unnötig und schädlich −, die Frage prinzipiell anzugehen. In welchem Maß sind die Gewerkschaften im Takt mit der Bewegung geblieben? Wäre die traditionelle Form von Gewerkschaft in einem von den Arbeitern selbst geführten Kampf nicht unausweichlich überholt worden? Kann man ernsthaft behaupten, daß die Erfahrung von fast einem Jahrhundert kapitalistischer Integration der gewerkschaftlichen Organisationen allein durch diesen einen Streik weggewischt worden ist?
Der Streik vom Dezember 1995 war gleichzeitig vorbereitet und spontan. Seit dem Sommer hatten die Gewerkschaftschefs, »mehrmals vom Premierminister konsultiert, vor sozialen Spannungen gemahnt, von denen sie Kenntnis erhalten hätten«.3 Da ihnen klar war, daß die Regierung entschlossen war und ihre Warnungen ignorieren würde, hatten die Gewerkschaften ihre Basis (bei den Eisenbahnen und dem öffentlichen Nahverkehr) auf eine Aktion gegen die Streichung der besonderen Rentenregelungen in diesen Bereichen vorbereitet. Die Verallgemeinerung der Bewegung, die Überwindung des korporatistischen Rahmens waren jedoch im Programm nicht vorgesehen; sie waren das Ergebnis der Entscheidungen und der Aktion der Basis. Deshalb wäre es korrekter, von einer unerwarteten als von einer spontanen Bewegung zu sprechen, in dem Sinne, daß diese Explosion in einem Zustand der latenten Revolte stattfand. Vom Beginn bis zum Ende des Streiks sind die Gewerkschaftsapparate den Aktionen der Streikenden gefolgt, ja, sie haben sie sogar begleitet. Sie sind auf einer Grundwelle gesurft, die sie nicht immer meisterten, aber von der sie niemals wirklich überholt wurden.
Es wurde gesagt, die Gewerkschaften hätten ihre Lektion aus den vorangegangenen Jahren und dem Auftauchen der Koordinationen gelernt. Die Entwicklung neuer gewerkschaftlicher Strukturen (wie SUD), die mehr Basisdemokratie forderten, die relative, aber unstrittige Erneuerung der anarcho-syndikalistischen Strömung (die CNT) sind deutliche Zeichen für die tiefe Krise des französischen Syndikalismus und Ausdruck einer neue Phase von Selbstorganisation. Die Epoche ist zuende, in der man auf die Demokratisierung der großen Gewerkschaftszentralen setzte. Heute verlassen die aktivsten Militanten die alten Gewerkschaften, um sich in neuen Strukturen neu zu gruppieren oder um solche zu schaffen. Was auch immer einige Bürokraten über den Schrumpfungsprozeß denken mögen: die Krise der Gewerkschaften ist keine Idee, die in den Pariser Salons entstand, sie ist gelebte Wirklichkeit in den Betrieben. Zu diesem Zeitpunkt von der Krise des Syndikalismus zu sprechen, ist zur Banalität vom Bistrotresen geworden. Hellsichtige Politiker sind beunruhigt, die Gewerkschaftsführer sind erschrocken, vom Staat bezahlte Forscher machen ihre Studien. Wenn man so wie wir denkt, daß die Funktion der Gewerkschaften in der modernen Welt die eines Regulators der kapitalistischen Produktion ist, dann hat man da eine Fährte, um die Natur des Übels zu erkennen. Über seine Kämpfe in der Vergangenheit hat der Syndikalismus die Bedingungen eines »normalen Kapitalismus« aufgezwungen und das Willkürliche und den Mißbrauch des wilden Kapitalismus zerschlagen. Er hat die Arbeiter integriert, indem er ihnen die Verbesserung der Lebensbedingungen versprochen hat und es so dem Kapitalismus ermöglicht, über eine weniger erschöpfte, zufriedenere und produktivere Arbeitskraft zu verfügen. Wie drückte es nach den großen Streiks 1936 ein Führer der französischen reformistischen Strömung aus: »Hier beginnt die Ära der direkten Beziehungen zwischen den beiden großen organisierten Wirtschaftsmächten im Land.«4 Heute ist diese wesentliche Funktion des Syndikalismus durch die Krise des Systems selbst bedroht. In einem kapitalistischen System, das am Ersticken ist, können die Lohnerhöhungen nicht mehr wie in der Vergangenheit durch Produktivitätszuwächse absorbiert werden. Die Gewerkschaften sind nicht mehr in der Lage, wie früher den »sozialen Fortschritt« auszuhandeln. Die Produktivitätsgewinne werden vor allem über eine Intensivierung der Arbeit, Stellenstreichungen und steigende Arbeitslosigkeit erreicht; durch einen allgemeinen Tiefstand der Löhne wird die Ausbeutung intensiviert. Kurz, die Zusammenarbeit zwischen den »beiden großen Wirtschaftsmächten« kann sich nicht mehr auf die wirtschaftliche Expansion stützen; das unmittelbare Interesse der Ausgebeuteten wird immer weniger gleichgesetzt mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Interesse. Und die Gewerkschaften garantieren den Verfall der Arbeits- und Lebensbedingungen, verbürgen sich für den Tiefstand der Löhne und die Schnitte in den Sozialleistungen, die lange Zeit einer der Stützpfeiler für die Bindung der Arbeiter ans System waren; die berühmten »sozialen Errungenschaften«, von denen man am Ende glaubte, sie würden ewig währen.
Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist heute in Frankreich einer der niedrigsten in den Industrieländern. Die Gewerkschaftsbeitritte gehen sogar noch schneller zurück als in den Leitländern der neoliberalen Politik.5 Diese Prozentzahlen sind natürlich kein exakter Maßstab für die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften bei den Lohnabhängigen. Ihre tatsächliche Glaubwürdigkeit beruht auch auf einem individuellen Gebrauch der Gewerkschaft, sie werden als soziale Einrichtungen oder Rechtsbeistände betrachtet. Auch wenn die massenhafte Ablehnung der Gewerkschaft offensichtlich nicht auf einer radikalen Kritik an ihrer Funktion beruht, so enthält sie doch einige Elemente einer solchen Kritik. Der durch die Krise vorangetriebene Individualismus und die neuen Arbeitsbedingungen können diese Veränderung in Frankreich nicht ausreichend erklären. Denn dieselben Bedingungen existieren auch in anderen Gesellschaften, in denen es nicht zu einer derart rasanten Entwertung der Gewerkschaften gekommen ist. Woran es auch liegen mag, die Folgen für die Funktion dieser Apparate und für ihre Funktion innerhalb des Systems sind enorm. Der Zusammenbruch der sozialistischen Ideologien hat die Gewerkschaftsarbeit deutlich geschwächt. Die militante Basis der Gewerkschaften ist auf ein Häuflein Gläubiger zusammengeschrumpft, unter denen sich außer den letzten Überlebenden der Kommunistischen Partei militante Trotzkisten und Libertäre befinden. Zum ersten Mal in der Geschichte der französischen Gewerkschaftsbewegung haben letztere eine Bedeutung bekommen, die weit über ihre soziale Verankerung hinausgeht. Viele ehemalige Aktivisten der Koordinationen sind zu Militanten eben der Gewerkschaften geworden, gegen die sie noch vor zehn Jahren gekämpft haben. Diejenigen, die vorher eine gewerkschaftliche [syndikalistische] Kritik an den »integrierten« Gewerkschaften geäußert haben, sind in dieselben Gewerkschaften integriert worden. Dies wirft ein neues Licht auf die Natur der Koordinationen. Was diese Militanten kritisierten, war nicht die Funktion der Gewerkschaft innerhalb des Systems, sie stellten auch nicht die Notwendigkeit von Verhandlungen und Kompromissen in Frage. Ihre Proteste richteten sich gegen die bürokratischen Methoden dieser Verhandlungen und die ungünstigen Bedingungen für Kompromisse. So wäre also das große Mysterium der gewerkschaftlichen Erneuerung in Frankreich aufgedeckt! Wir haben in den letzten Jahren mehr als die Transformation der Gewerkschaften erlebt, nämlich die Transformation ihrer gewerkschaftlichen Basis. Eine neue Schicht von Aktivisten hat gerade die alten Strukturen dynamisiert und ihnen ein demokratischeres Funktionieren beigebracht. Paradoxerweise wird der Syndikalismus um so mehr von der kommunistischen und anarchistischen extremen Linken verteidigt, je wirkungsloser er in den Augen der Arbeiter erscheint. Die gewerkschaftliche Praxis an der Basis ist zum militanten Rückzugsgebiet dieser Milieus geworden, und das Wort »Linker« heute fast zum Synonym für Gewerkschafter. Es ist leicht nachvollziebar, warum die Gewerkschaftsbürokratie bestimmter Dachverbände (insbesondere der CGT, aber auch der FO) so viel Toleranz gegenüber diesen Aktivisten übt, die sie jahrelang beharrlich mit aller Gewalt verfolgt hatten. Es geht um das Überleben ihrer Institutionen, die von der großen Masse der Arbeiter verlassen werden, also um ihr eigenes Überleben. Als sich die Bonzen vorsichtig zur Abwesenheit der Koordinationen beglückwünschten, wollten sie damit ihr Image aufpolieren und ihre Kontrolle über die Bewegung beweisen. Dabei haben sie sorgsam verschwiegen, daß die Ex-Mitglieder der Koordinationen zu ihrem eigenen Fußvolk geworden sind. Das Fehlen von Koordinationen beweist nicht, daß die Gewerkschaftsapparate heute stärker sind, sondern ganz im Gegenteil ihre größer gewordene Schwäche. Die Koordinationen waren eine zeitlang der organisierte Ausdruck der Krise der französischen Gewerkschaften; denn die Apparate hatten geglaubt, sie könnten sich dem Druck der Basis und den Bestrebungen nach mehr innergewerkschaftlicher Demokratie widersetzen. Heute können sich die Gewerkschaftschefs nicht einmal mehr widersetzen. Sie sind zur Tolerierung dieser Strömungen gezwungen, weil nur noch sie die gewerkschaftliche Basisarbeit aufrechterhalten können.
Im Zusammenhang mit einer solchen Abwesenheit des Konflikts zwischen den Apparaten und den Arbeitern wurde vom »Arbeitergebrauch der Gewerkschaft« gesprochen. Die Formel wurde unter anderem von den Strömungen der italienischen Autonomie in den 70er und 80er Jahre benutzt. Sie bezieht sich auf eine durchaus diskussionswürdige Konzeption der Gewerkschaftsfrage. Dieser Konzeption zufolge könne eine Arbeiterorganisation antagonistische Inhalte annehmen, wenn entsprechende politische Machtbeziehungen im Klassenkampf existieren. Von diesem Verständnis her wären die Organisationsformen quasi neutral. Die Arbeiteraktion »verläßt« die Gewerkschaft und das Kapital geht in die »Offensive«, um einen »Anti-Arbeiter-Gebrauch« von derselben Gewerkschaft zu machen. Nun ist es aber gerade die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaft bei den Arbeitern, die einen kapitalistischen Gebrauch der Gewerkschaft erlaubt. Die Gewerkschaft kann innerhalb des Systems nur funktionieren, wenn sie tatsächlich unter den Arbeitern verankert ist. Die Macht der Gewerkschaft als eine (vom Kapitalismus anerkannte) Institution zur Regulierung des Arbeitsmarkts ist selbst das Resultat des Klassenkampfes und der Arbeiteraktion. Mit den Worten eines unerbittlichen Antikapitalisten aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts und eines scharfen Kritikers der integrierenden Funktion der Gewerkschaft: »All das, was die Arbeiter an die Gewerkschaften bindet (diese Organismen, die sie selbst geschaffen, für die sie so viele Opfer gebracht, soviele Kämpfe geführt und soviel Enthusiasmus aufgebracht haben), kurz, all das, was die Gewerkschaften ihrem Herz teuer macht, macht die Arbeiter gerade auch gehorsam gegenüber dem Willen ihrer Meister.«6 Anders gesagt: der »Arbeitergebrauch der Gewerkschaft« ist nicht zwangsläufig antagonistisch zum kapitalistischen Interesse. Im übrigen, und um wieder auf den Streik vom Dezember '95 zurückzukommen, schiene es korrekter, im Gegenzug von einem »Gebrauch der Gewerkschaft durch die Gewerkschaftsmilitanten« zu sprechen. Hinter der Formel vom »Arbeitergebrauch der Gewerkschaft« steckt allerdings auch eine bestimmte Vorstellung von Politik und von Autonomie. Es würde ausreichen, daß sich die Lohnabhängigen »antizipierende« oder gegen den »kapitalistischen Willen« gerichtete Ziele setzen, um die gewerkschaftliche Organisation zum Ort des autonomen Handelns zu machen. Die Autonomie wird demnach durch die Existenz eines politischen Projektes herbeigeführt, das die Arbeiterinitiative gegen die »Kontrolle durch das Kapital« mobilisieren kann. In diesem Schema bilden die ökonomischen Zyklen des Kapitals nur die andauernden Versuche des Kapitals, die Arbeiterinitiative zu schlagen, und umgekehrt [treibt die Arbeiterinitiative das Kapital immer wieder in die Krise]. »Die einzig mögliche Geschichte des Kapitals ist die Arbeitergeschichte des Kapitals«, schrieb der bekannteste Theoretiker der italienischen Autonomie.7 Demnach besteht die Aufgabe der Militanten der Autonomie darin, diese politische Strategie8 aufzubauen und voranzutreiben, die als notwendige Bedingung für die Neuzusammensetzung der Klasse auf dem Terrain des Lohns gesehen wird. Über die Endergebnisse dieser dirigistischen Konzeptionen von Politik und die erstickende Rolle dieser Strategie-Spezialisten hat die Geschichte dieses Jahrhunderts bereits ihr Urteil gefällt. Bestehen die Qualitäten einer Bewegung nicht in ihrer Fähigkeit, mit der Logik der Politik und der Ökonomie zu brechen? Wenn in den Gedanken und in den kollektiven Aktionen das Imaginäre fehlt, kann es auch keine emanzipatorischen Perspektiven geben. Genau dort befindet sich die Autonomie einer Bewegung. Von diesem Standpunkt aus besteht der einzige »Arbeitergebrauch der Gewerkschaft« in ihrer Überwindung als Organisationsform und in der Zurückweisung ihrer Funktion, den Preis der Arbeitskraft zu regulieren.
II.
Der Dezember '95 war vor allem die Wiederentdeckung des kollektiven Widerstands gegenüber den Diktaten der herrschenden Klassen und der arroganten Logik der Kapitalisten. Die Lust zum Kampf, der Stolz und die Würde haben sich über die Unterwerfung und die Angst gelegt. Die große Schwäche des Streiks wurde jedoch gerade dort sichtbar, wo seine Stärke zu liegen schien. Denn diese Schwäche bestand nicht nur darin, daß eine Ausweitung des Streiks auf den Privatsektor der Wirtschaft mißlang, sondern daß bei den Streikenden selbst das Engagement gering blieb. Sicher, überall bezog man sich ein wenig auf die Vollversammlungen von Gewerkschaftsmitgliedern und Nichtmitgliedern, die häufig für die Teilnahme von Externen offen waren. Von Anfang an haben die Streikenden auf eine Ausweitung der Bewegung gesetzt, übernahmen Aufgaben der Agitation und Solidarität, reisten herum und führten überall dort Kampagnen durch, wo sie glaubten, andere Arbeiter zur Teilnahme an der Aktion bewegen zu können. Diese Entschlossenheit war ein Anzeichen für eine gewaltige Bewegung und drückte einen qualitativen Sprung im Vergleich zu den korporatistischen Streiks der letzten Jahre aus. Sogar nach Meinung zahlreicher Beteiligter wurden die Vollversammlungen häufig von Gewerkschaftsaktivisten mit Verbindungen zu politischen Gruppen organisiert und geleitet. Sie hatten als erste die Notwendigkeit betont, horizontale Kontakte herzustellen und die Aufspaltung in Kategorien [Berufe, Branchen usw.] zu überwinden. Bekanntlich verhindert der Bezug auf Versammlungen nicht die Anwendung manipulatorischer Praktiken und Manöver. Es ist immer wieder zu beobachten, wie sich im Rahmen einer scheinbaren Basisdemokratie der Dirigismus von aktiven Minderheiten breitmacht. Dieser Streik war ein Streik der Delegierten und politischen Aktivisten − die unvermeidliche Folge des blutleeren Zustands, in dem sich der französische Syndikalismus befindet. Die schlaffe Beteiligung der Arbeitenden am eigentlichen Streik ist der Hauptgrund für den Mangel an Phantasie [imagination] und die Abwesenheit von Gewerkschaftskritik. Die Unorganisierten − die bei den Streiks 1986 in den Koordinationen einen Ort gefunden hatten, wo sie sich äußern konnten − fehlten ebenso wie die Koordinationen. Sie konnten sich zwar in den berufsübergreifenden Stadtteilversammlungen oder auf den Demonstrationen äußern, doch es gab kaum Transparente, die auf ihre Anwesenheit aufmerksam machten. Der Streik im Dezember 1995 war eine Bewegung, in der das Phänomen der Delegation auf verschiedenen Ebenen voll ausgespielt wurde. Die Masse der Arbeitenden, die nicht streikte, hat in die Aktion der Streikenden ihre eigenen Wünsche nach Revolte projiziert. Die Streikenden wiederum haben die Leitung und Durchführung des Streiks an die Aktivisten und die [gewerkschaftlichen] Delegierten delegiert. Überhaupt war der Streik sehr wenig »praktisch«, er wurde von den Arbeitenden »konsumiert«. Sogar bei der SNCF war die Beteiligung niedriger als 1986, auch wenn paradoxerweise die Bewegung diesmal weniger korporatistisch war. Die Beteiligung der Streikenden an den Aktionen beschränkte sich auf ihre Anwesenheit bei den Versammlungen und ein paar Streikposten. Im Gegensatz dazu wurden greifbare Siege dort errungen, wo es eine starke Beteiligung der Basis gab: beim Solidaritätsstreik der Straßenbahner von Marseille (für die Gleichstellung im Status) und beim Streik in einigen Postverteilzentren (für die Festeinstellung der prekär Beschäftigten). Die soziale Emanzipation erfordert mehr als die mehr oder weniger passive Zustimmung zu einem Kampf. Um die Autonomie der Aktion, Vertrauen auf die eigene Kraft und Selbstbestimmung zu erreichen, bedarf es mehr als der Delegation des Kampfes an die Kämpferischsten. Immer wieder gerät die Delegation in Widerspruch zur Entwicklung der Solidarität und zum Reifen der Aktion. Im Streik vom Dezember '95 hat ein Delegiertensyndikalismus den Syndikalismus der Apparate ersetzt. Dies erklärt, warum die Bewegung immer wieder mit den Entscheidungen der Apparate gleichzog, obwohl diese in den Augen der Arbeitenden ihre Bedeutung verloren haben. Es fehlte der kollektive Schwung, und der defensive Streik mündete nicht in einen offensiven Kampf. Da dieser Delegiertensyndikalismus nicht auf einer Bewegung beruht, die ihm eine wirkliche Basis geben könnte, bleibt er ohne Zukunft − ein Moment in der langsamen Agonie der alten Arbeiterbewegung.
III.
Die Stärke der Gewerkschaft dient zur Regulierung und Normalisierung der Ausbeutung. Ohne diese Kraft ist die Macht des modernen Kapitalismus nicht vollständig. Aufgrund ihrer besonderen Geschichte hat die französische Bourgeoisie die Gewerkschaften immer nur sehr zögerlich als Partner anerkannt. Obwohl im öffentlichen Sektor seit dem Zweiten Weltkrieg solche Mitbestimmungsfunktionen existieren, sind die Gewerkschaften im Privatsektor erst nach dem Generalstreik vom Mai 1968 anerkannt worden. Allerdings fand diese Anerkennung gerade in dem Moment statt, in dem die kapitalistische Dynamik außer Atem kam, und damit auch der Verhandlungsspielraum eingeschränkt wurde. Die Weigerung der französischen Kapitalisten, die Gewerkschaften als regulierende Struktur anzuerkennen, macht die Bedeutung der bürokratischen Beförderungsstrukturen verständlich. Im Gegensatz zu Gesellschaften mit einem sozialdemokratischen Modell, wo die paritätische Verwaltung überwiegt, wird die Arbeitskraft in Frankreich mit autoritären Methoden verwaltet.9 Mit der kapitalistischen Krise haben diese veralteten Strukturen eine neue Bedeutung bekommen. In dem Maße, wie sich Arbeitslosigkeit, Prekarität und eine grenzenlose Steigerung der Ausbeutung als die neuen Spielregeln erwiesen, wurde den französischen Gewerkschaften immer zögerlicher die vorrangige gewerkschaftliche Funktion zuerkannt − die Rechte der Arbeiter als variables Kapital zu erobern und zu verteidigen. Die jüngste Geschichte der französischen Gewerkschaften umfaßt auch die Jahre des Anwachsens der Ungleichheit und des Ausschlusses. Im Verlauf von zwanzig Jahren haben die Gewerkschaften alle großen Kämpfe gegen die Umstrukturierung verloren. Sie haben sich der Logik untergeordnet, das System zu retten. Schließlich haben sie den (mit einem großen Generalstreik) erreichten Platz bei der Verwaltung der Lohnpolitik im Unternehmen verloren. Nachdem sie noch nie eine Rolle bei der Mitverwaltung der Arbeitskraft gespielt hatten, und verlassen von einer Basis, die sie selbst der kapitalistischen Willkür überlassen hatten, steht es sehr schlecht um die französischen Gewerkschaften. Ihre letzten Verteidigungslinien (und Finanzierungsquellen) befinden sich gerade im Öffentlichen Dienst und in ihrer Rolle als Verwalter der Sozialversicherung.10 In den öffentlichen Unternehmen leiten die Gewerkschaften noch immer mächtige Betriebsräte [comités d'entreprises], die selbst regelrechte Unternehmen mit tausenden Lohnabhängigen sind. Und schließlich stammt ein nicht zu vernachlässigender Teil der Gewerkschaftsfinanzen nunmehr aus staatlichen Hilfen und aus Zuschüssen der Sozialversicherungsinstitutionen. Wie die Kenner sagen: »Dieses finanzielle Manna (...) soll ihre Rolle als Verwalter versüßen.«11
Die Krise und die Schwächung der gewerkschaftlichen Institutionen hat die Verachtung und die Arroganz der französischen Kapitalisten nur verstärkt. Der Aufstieg der Linken auf die Kommandohöhen des Staates hat diesen langen Prozeß der Schwächung der Institutionen der alten Arbeiterbewegung vollendet. Denn die Arbeiter hatten erwartet, daß die Linke das für sie tun könne, was die Gewerkschaften nicht mehr tun konnten: nämlich die Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen aufhalten. In der Vergangenheit (1936 und in der Nachkriegszeit) waren Wahlsiege der Linken mit einer gestiegenen gewerkschaftlichen Kampfkraft einhergegangen. Nach 1981 war ein Rückgang zu beobachten. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ist in diesen Jahren (1981-1985) weiter zurückgegangen, auch als die Kommunisten in der Regierung saßen (1981-1983).12
IV.
Der Streik im Dezember '95 hat vor allem deshalb eine politische Dimension bekommen, weil − jenseits der spezifischen und korporatistischen Forderungen − Inhalte zur Sprache kamen, die sich der Logik des Systems widersetzten: die Zurückweisung der liberalen ökonomischen Rationalität, das Problem der Zukunft und der Jugend, sowie die wachsende gesellschaftliche Verarmung. In einer Bewegung der am meisten geschützten und am wenigsten prekären Berufsgruppen wurde die Figur des Arbeitslosen und des prekären Arbeiters als die der Zukunft anerkannt. Als in Marseille Tausende von Arbeitslosen an der Spitze der Demo gingen, konnte man spüren, daß etwas Bedeutendes geschah: daß nämlich der Kampf im Begriff war, die Arbeiter zu vereinigen, die durch die Krise getrennt worden waren. Sehr schnell hat sich dem ein Bedürfnis nach Klassenrache hinzugesellt. Die direkten, illegalen Aktionen haben begonnen sich auszubreiten. Die Arroganz und der Reichtum der bürgerlichen Klasse wurden ganz besonders aufs Korn genommen: Entführung von Patrons, Chefs und Politikern, gewalttätige Einbrüche in den reichen Vierteln. In der Kritik an den Privilegien witterte man einen Anflug von »französischer Revolution«.13 Hier und da wurden öffentliche Dienstleistungen wieder aufgenommen und dabei die benachteiligten Schichten der Bevölkerung bevorzugt: Postanweisungen an Arbeitslose wurden verteilt, in bestimmten Stadtvierteln wurde Gas und Strom zu billigeren Tarifen abgegeben, es wurden wilde Stromabzweigungen vorgenommen, Busse wurden eingesetzt, um Demoteilnehmer zu befördern oder um Obdachlose in soziale Zentren zu transportieren. Zuweilen konnten die Gewerkschaftskader die Kontrolle über diese Aktionen behalten14, aber öfter kam die Initiative von der Basis. Mit all ihren Beschränkungen waren diese Aktionen Träger der Zukunft und zeigten das Erwachen einer neuen Radikalität. Es gibt offensichtlich immer einen Zusammenhang zwischen den Formen und den Inhalten eines Kampfes. Alle Inhalte können sich nicht in einer gegebenen Organisationsform ausdrücken und das Auftauchen bestimmter Inhalte drängt auf das Entstehen neuer Organisationsformen. Im Dezember '95 konnten sich die radikalsten Initiativen nicht wirklich verallgemeinern und eine Massenform annehmen, weil sie ihre organisatorischen Schranken nicht überwunden haben. Die direkte Aktion und die Praktiken, bei denen Arbeitsmittel in den Dienst der anderen Arbeiter gestellt wurden, blieben durch die Gewerkschaften begrenzt. Es ist aber anzunehmen, daß die Art, in der die Gewerkschaften die Einrichtung horizontaler Verbindungen, die Überwindung von Korporatismen und die Öffnung der Versammlungen nach außen begleitet bzw. sogar vorgeschlagen haben, sowohl einer Taktik des Apparats entsprach, als auch aufgrund des Drucks von der Basis zustande kam.15 Die schwache Beteiligung der Arbeiter am Streik wurde somit durch einen Rückgriff auf Hilfe von außen kompensiert, die leicht zu handhaben war, insofern sie das Verhalten der Apparate nicht in Frage stellte. Genauso lief es mit der Organisation der Demos. Diese »Taktik der immer wiederkehrenden Demonstrationen hat zweifellos dazu beigetragen, eine wirkliche Verankerung des Streiks auf lokaler Ebene zu verhindern. Die Streikenden, die sich gerade daran gewöhnten, sich über die Branchen hinweg zu treffen und gemeinsam weitere Dienststellen und andere Unternehmen stillzulegen, wurden vor allem für die zentralen Demos mobilisiert. Nach und nach wurde die Zahl der Demonstranten wichtiger als die der Streikenden.«16 Auf der anderen Seite bewiesen die Breite der Demonstrationen auf der Straße und die Solidarität, die die Bewegung hervorrief, daß diese politische Dimension einen Widerhall in der Gesellschaft fand. Der Leser einer offiziellen Abendzeitung faßt das in starke Worte, wenn er sich auf »neue Bestrebungen [Aspirationen]« bezieht, »welche in diesem Moment der tiefen Krise entstehen: Wenn der wirtschaftliche Fortschritt nicht nur den gesellschaftlichen Fortschritt, sondern gleichermaßen alle Hoffnung auf gesellschaftliches Fortkommen im Keim erstickt, und wenn die Antwort auf diese Verzweiflung (die unsrige, am extremsten angehäuft bei den Ausgestoßenen auf der Straße, in den Vorstädten und anderswo) die Verachtung ist, so könnte die Antwort auf die Verachtung blutig werden!«17 Die herrschende Klasse und die französische Bourgeoisie haben den Hauch dieser Revolte gespürt und Angst bekommen. Nicht so sehr vor dem Streik, bei dem der Verhandlungsrahmen mit den Gewerkschaftsbossen von Anfang an abgesteckt war, sondern vor einem politischen Überschwappen, in das sich die gesamte Unzufriedenheit ergießen könnte. »Neue Aspirationen«, die nicht verhandelbar sind, gibt es etwas Beunruhigenderes für die Herren der Welt?
V.
Für die von der Krise niedergedrückten Arbeiter besteht die einzige Sicherheit in dem Wissen, daß die Zukunft schlechter sein wird als die Vergangenheit! Der gegenwärtige Stand des Klassenbewußtseins läßt sich in der ängstlichen Frage zusammenfassen: »Wie werden wir da rauskommen?« Man darf sich nichts vormachen. Die Antwort auf diese Frage sucht die Mehrheit der Arbeiter weiterhin im Rahmen dieses Systems. Die Perspektiven einer emanzipatorischen Alternative sind in den gegenwärtigen Konflikten grausam abwesend. Der offene Gully, zu dem die Politik geworden ist, mit ihrer Abfolge von Korruption, Privilegien, Skandalen, Ungestraftheiten, spielt sicherlich eine Rolle beim Zurückdrängen jedes Erfolgs politischer Reflexion. Dies fügt sich nahtlos an den Zusammenbruch der sozialistischen Modelle und an die Krise der alten Arbeiterbewegung an.
Waren die Unsicherheit und die Angst nicht auch in der Bewegung des Dezember '95 zu spüren? Die ausgebliebene Ausweitung des Streiks auf den Privatsektor war der sichtbarste Beweis dafür. Stellenweise, vor allem in der Provinz, gab es Solidaritätsaktionen. Aber in der Gesamtheit der großen Unternehmen gelang es selbst den militantesten Gewerkschaftern nicht, die Arbeiter zu mobilisieren. Auch ihre Beteiligung an den Demonstrationen auf der Straße blieb sehr beschränkt. Wer behauptet, die Gewerkschaften hätten die Generalisierung der Bewegung gebremst, weigert sich, den Stand der Spaltung und der Schwäche der Arbeiterklasse im Privatsektor zu sehen. Die Erklärung liegt vielmehr in der neuen Klassenzusammensetzung (charakterisiert durch die Prekarität) und im Zerbröckeln der Gemeinschaft der Arbeiter, die von der Angst vor der Arbeitslosigkeit angesteckt ist. Diesbezüglich müssen auch die verschiedenen Formen einer indirekten Unterstützung der Streikenden betrachtet werden. Es wurde viel von der Solidarität (»mit Vollmacht«) derjenigen geredet, die weitergearbeitet haben, sowie von den Netzen der gegenseitigen Hilfe, die die Nichtstreikenden auf die Beine gestellt haben. Die Existenz einer wirklichen Solidarität und einer »Zunahme an Gemeinschaftssinn« soll nicht bezweifelt werden, aber die triumphalistischen Diskurse müssen etwas relativiert werden. Zuallererst: wer nicht gegen einen Streik demonstriert, ist ihm nicht notwendigerweise wohlgesonnen! Hier hat die soziale Passivität ihr ganzes Gewicht ausgespielt. Es stimmt zwar, daß die Versuche zum Aufbau einer Anti-Streik-Front gescheitert sind, aber außer den Demonstrationen gab es keine konkreten Schritte zur Unterstützung des Streiks, z.B. Unterstützungskomitees in der Art, wie sie 1986 geschaffen wurden. Andererseits waren die, die sich in den offenen Versammlungen der Streikenden einfanden, in den meisten Fällen Militante oder Personen mit politischen Positionen. Zu den informellen Netzen gegenseitiger Hilfe drängen sich einige Bemerkungen auf. Abgesehen von den Verbindungen, die sie zwischen den Individuen schaffen konnten, nützten diese Netze eher dem Unternehmerlager als der Gemeinschaft der Streikenden; ihr vorrangiges Ziel war es, den Leuten zu ermöglichen zu arbeiten. In dieser Hinsicht konnten die Medien es sich nicht verkneifen, den »Geist der Verantwortlichkeit« der Lohnabhängigen in diesem »schwierigen Moment« zu unterstreichen. In zahlreichen Unternehmen übernahmen die Geschäftsleitung und die leitenden Angestellten die Führung der »Bewegung«. »Die sozialen Hierarchien glätten sich, die verschmitzten Initiativen der Basis werden günstig aufgenommen. (...) In der Notsituation sind die sozialen Barrieren gefallen. Die Direktoren fahren die Sekretärinnen umher, die Meister beherbergen die Beschäftigten. Die Funktion und die Hautfarbe spielen kaum eine Rolle, sofern man solidarisch ist!«18 Diese Art, die sozialen Barrieren fallen zu lassen, ähnelt offensichtlich eher einer Stärkung des Unternehmensgeistes als einer Entwicklung von Zusammenhängen des Widerstands! Auch hier hat sich der allgemeine Druck ausgewirkt. Diese Formen gegenseitiger Hilfe waren mehr durch die Angst hervorgerufen, als durch ein wirkliches Solidaritätsgefühl gegenüber den Streikenden. Angesichts des Kräfteverhältnisses in den Unternehmen, werden viele Unternehmer die Verkehrsprobleme dazu benutzt haben, um Beschäftigte zu bestrafen oder sogar zu entlassen. Ein Beweis, sofern man ihn nötig hat, daß der Streik das Kräfteverhältnis wenig oder gar nicht verändert hat. Viele Streikende waren sich über die in vielen Privatbetrieben herrschende Atmosphäre der Angst vollkommen im klaren, aber es wurde sehr wenig über praktische Möglichkeiten diskutiert, die diese Situation hätten kippen können.
Von seinen eigentlichen Wesenszügen her ist der Streik vom Dezember '95 ein Streik französischer Lohnabhängiger geblieben, die allein Zugang zu einer Stellung im öffentlichen Dienstes haben. Die eingewanderten Arbeiter, die einen bedeutenden Sektor der Arbeiterklasse ausmachen, blieben abseits und standen außerhalb der Bewegung, wie übrigens auch die Mitglieder der neuen »gefährlichen Klasse«, die unglücklichen Bewohner der Vorstadt-Ghettos. Infolgedessen wurden alle Fragen, die mit der Einwanderung verknüpft sind, unterschlagen; genauso wie die der neuen Ausbeutungsformen oder die der Sicherheitspolitik. Dabei ist bekannt, daß die Benutzung der illegalen oder halblegalen Arbeit ein Element der neuen Klassenzusammensetzung bildet. Das Schweigen der Bewegung zu diesen Fragen ist bezeichnend, zumal alle wissen, daß Privatunternehmen und Subunternehmer, die Einwanderer ausbeuten, für die großen öffentlichen Verwaltungen arbeiten (SNCF, Post, RATP, EDF/GDF). Das Funktionieren des öffentlichen Dienstes beruht schon heute auf dieser Ausbeutung, und es wäre wichtig, endlich hervorzuheben, daß nur eine formelle Trennung zwischen Privatsektor und öffentlichem Sektor besteht. Die Streikenden des öffentlichen Sektors haben dieser Entwicklung kaum Rechnung getragen, faktisch wurde der Bruch zwischen privatem und öffentlichem Sektor nicht einmal innerhalb der großen bestreikten öffentlichen Unternehmen aufgehoben. Stellenweise (bei den Niederlassungen der SNCF und auch bei einigen Postverteilzentren) haben sich die Streikenden an die Arbeiter der Subunternehmen gewandt, wo oft eine große Unzufriedenheit herrscht. Aber in den meisten Fällen haben sie sie ignoriert.19 Die passive und distanzierte Art, in der die virtuell-proletarischen Jugendlichen der Vorstädte den Streik erlebten, läßt sich ebenfalls leicht erklären. Zum einen paßte die Lahmlegung des öffentlichen Nahverkehrs gut zu den Erfordernissen der »öffentlichen Ordnung«, da die Innenstädte dadurch von den Vorstädten isoliert wurden. Was aber noch wichtiger war und was wir nicht vergessen dürfen: für die Jugendlichen ist das Bild des Arbeiters im öffentlichen Sektor vor allem mit staatlicher Repression verknüpft. Lehrer, Sozialarbeiter, Kontrolleure, Busfaher, Lokführer und Steuerbeamte sind für sie Hilfskräfte der Polizei.
VI.
Zur Rolle des Nationalismus in dieser Bewegung ist wenig gesagt worden. Dennoch wurde sehr beharrlich über die Verteidigung eines öffentlichen Dienstes »der französischen Art« [service public à la française] und die Verantwortung der europäischen Maastricht-Politik für die Zerstörung des Soziallohns und das Vorantreiben einer neoliberalen Politik diskutiert. Es kann jedenfalls kaum bestritten werden, daß der Nationalismus − als Ideologie − eine der vereinheitlichenden Kräfte dieser Bewegung gewesen ist. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg berufen sich Gewerkschaften auf Werte der extremen Rechten, die der Front National nahesteht und die beim Streik Seite an Seite mit den Mehrheitsgewerkschaften auftraten.20 Daß sich innerhalb von Arbeiterkämpfen organisierte nationalistische Tendenzen äußern, scheint von nun an unvermeidlich und unumgänglich. Dazu zwei Anmerkungen: Zum einen ist es an der Zeit, sich von der sehr vereinfachenden Vorstellung zu verabschieden, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit würden den Arbeitern vom bösen Wolf der Front National eingetrichtert. Zum anderen davon, daß diese Werte wie Pilze aus dem Boden der Krise schießen, denn man muß sich in Erinnerung rufen, daß sie lange Zeit von genau denjenigen verteidigt wurden, die sich heute darüber beklagen. War der französische Patriotismus nicht eines der einigenden Momente der Arbeiterkultur in den glanzvollen Zeiten der Linken und der Kommunistischen Partei? Unterscheidet sich eigentlich der Arbeiter, den man heute dafür verachtet, wenn er »Frankreich« im Sinne der Front National skandiert, von dem Arbeiter, der neulich noch hinter den Fahnen des kommunistischen Frankreich marschierte? Sicher, die Zeiten haben sich geändert, aber es ist unmöglich, diese Übergänge und Verbindungen zu ignorieren. Es zeugt von einem merkwürdigen Gedächtnisverlust zu glauben, die »traditionellen Ideale von universeller Solidarität, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit« seien von den Organisationen der alten Arbeiterbewegung getragen wurden.21 Besteht da nicht irgendein Zusammenhang zwischen dem kommunistischen »Französisch produzieren!«, dem »In der Heimat leben und arbeiten« der CFDT und dem »Französisch produzieren mit den Franzosen« der Front National?
Paradoxerweise scheint sich die Position der institutionalisierten − oder wie sie sich selber gerne definiert: republikanischen − extremen Rechten in dieser Bewegung in einer Schieflage gegenüber den Bestrebungen des populären Nationalismus zu befinden. Trotz ihrer Verankerung in der Gesellschaft war die Unterstützung der Front National für die Streikenden schlapp und zweideutig, weil sie weder den Gewerkschaften noch der Regierung Recht gab. Ihre besonderen Bindungen an die Bourgeoisie und die reaktionäre Kleinbourgeoisie (freie Berufe, Kleinkapitalisten, Handwerker und Händler), die jeder Arbeiteraktion grundsätzlich feindlich gegenüberstehen, erklären die neoliberale Orientierung der Partei und auch ihre zweideutige Haltung gegenüber dem Streik. So gesehen hat die Streikbewegung den mehrheitlich reaktionären (und nicht-faschistischen) Charakter der Front National gezeigt. Auch dort muß die Entwicklung der sozialen Situation die Dinge klären. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß die reaktionäre Tendenz in dieser Partei mit anderen Tendenzen zusammenkommt, die eine größere Nähe zu einer national-sozialistischen Ideologie haben. Diese Tendenzen sprechen von der Bewegung des Dezember 1995 als dem Ausdruck einer »vorrevolutionären Situation, aufgrund des Bruchs zwischen Volk und institutionalisierten Eliten«; für sie »ist die Welt der Arbeit in Erscheinung getreten, um ihre Unruhe angesichts der Destabilisierung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft auszudrücken, die mit der Globalisierung und mit Maastricht verbunden ist.«22 Diese Strömung bewegt sich also sichtlich auf demselben nationalistischen Terrain wie Parteien der Linken und der extremen Linken, mit denen sie zunehmend in Konkurrenz tritt. Daher weigert sich diese Strömung, die soziale Bewegung »als einen Konflikt alten Typs zwischen Regierung und Gewerkschaften mit Unterstützung der Linksparteien« zu betrachten.23 Im Gegenteil, wenn es darum geht, die notwendigen Bedingungen für den »großen Umsturz« zu präzisieren, benutzen diese Antisozialisten eine quasi bolschewistische Logik. Die »Existenz einer Machtalternative« wird als die entscheidende Bedingung angesehen. Mit Sicherheit sind die Tendenzen der extremen Rechten von nun an in der Arbeiterwelt verwurzelt. Möglicherweise wird genau dort eine wirkliche Kraft mit faschistischen Konturen Gestalt annehmen. Mit faschistischen Konturen in dem Sinne, daß diese Strömung gleichzeitig proletarisch und antibürgerlich sein wird, indem sie staatliche Interventionen in die Ökonomie einfordert. Es sollte einen nicht wundern, wenn sich eine neue Sammlungsbewegung viel eher zusammen mit den linken patriotischen und antieuropäischen Strömungen, sozialistischen wie kommunistischen, vollziehen würde, als mit den als mit den honorigen Reaktionären der Front National.
VII.
Im Januar 1996 beendeten die Arbeiter der Staley-Fabrik in Decatur (südlich von Chicago) einen langen Streik gegen einen multinationalen Konzern der Landwirtschaftsindustrie, der zweieinhalb Jahre gedauert hatte. In der letzten Nummer ihrer Streikzeitung, War Zone (Kriegszone), hieß es: »Wie unsere französischen Genossen müssen wir bereit sein, uns gegen diejenigen zu stellen, die unser Leben zerstören wollen.« Einige tausend Kilometer davon entfernt, im luxuriösen Schweizer Wintersportgebiet von Davos, diskutierten renommierte Wirtschaftsexperten und angesehene Politiker die Zukunft des Kapitalismus und machten sich über die internationale Tragweite der französischen sozialen Bewegung vom Dezember 1995 Sorgen.24 Wie lassen sich diese Sorgen, dieser Einfluß erklären, wo doch der Streik in Frankreich selbst als nationale Angelegenheit betrachtet wurde? Welchen Sinn konnte dieser Kampf für die Arbeiter in Gegenden bekommen, wo kaum jemand etwas über Frankreich weiß? Es scheint von nun an selbstverständlich zu sein, daß die Bewegung vom Dezember '95 ein Gefühl ausgedrückt hat, das auch außerhalb der Grenzen vorhanden ist. Es handelt sich um einen Widerstand gegen die ständige Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter, die seit Jahren damit gerechtfertigt wird, daß man sich den heiligen und unerbittlichen Gesetzen des Kapitalismus zu unterwerfen habe. Dieser Widerstand ist ein Hoffnungsschimmer, der Beweis dafür, daß noch nicht alles verloren ist, daß wir gemeinsam »nein« sagen können.
Ein Mittel zur Erhöhung der Kapitalrentabilität besteht in der Reduzierung der Produktionskosten. Seit Jahren werden die direkten Produktionskosten durch Lohnsenkungen und die Ausweitung prekärer Arbeit gesenkt. Mit der Reduzierung der Sozialhilfe und der Kürzung der vom Staat verwalteten Soziallöhne (Pensionen, Beihilfen) wollen die Kapitalisten jetzt die indirekten Kosten senken. Den herrschenden Klassen ist bewußt, daß diese staatlichen Leistungen die Garantie für eine normalisierte Ausbeutung sind und den sozialen Frieden gewährleisten. Trotzdem setzen sie diese Revisionen der Sozialpolitik durch. In der Funktionsweise der gemischten Ökonomie wird die durch die Staatsausgaben angeschobene Produktion als Ausgleich für das Versagen der privaten Profitproduktion betrachtet. Dieser Eingriff hat neue Widersprüche zur Folge, denn er bedeutet einen zusätzlichen Abzug von den privatkapitalistischen Profiten, die gerade gerettet werden sollen. Daher kommt der aktuelle Druck, die Belastungen durch staatliche Eingriffe zu senken, was von allen gefordert wird... Andernfalls würde die gesamte Ökonomie zusammenbrechen. Die Pläne zur Zerstörung des Wohlfahrtsstaats sind überall in den reichen Ländern die Konsequenz aus der Krise der gemischten Wirtschaft und das Resultat dieses politischen Kompromisses innerhalb der herrschenden Klassen.
Der Streik vom Dezember '95 kann als Kampf zur Verteidigung des Wohlfahrtsstaats angesehen werden. Ganz zu Recht. Die Arbeiterklasse sieht in diesem Geflecht von Institutionen und Regelungen natürlicherweise das Bollwerk, das sie vor der kapitalistischen Barbarei schützt. Jahrelang haben die Gewerkschaften und die Linksparteien den Ausgebeuteten die Idee vermittelt, daß der Staat per Vertrag an die Fortsetzung dieser berühmten »sozialen Errungenschaften« gebunden sei. Nun war damit also nichts! Die Ausgebeuteten fühlen sich heute wehrlos gegenüber der Zerstörung des Wohlfahrtsstaats. Sie entdecken, daß man für das eigene Überleben kämpfen muß. Die französischen Arbeiter kämpften auch für die Aufrechterhaltung dieses staatlichen Bollwerks und verbürgten sich für das reformistische Credo, das sie in die aktuelle Situation gebracht hat. Daß sie einen Staat mit Schutzfunktion, den öffentlichen Dienst, verteidigen, ist Ausdruck ihres Glaubens an eine Gesellschaft der formellen Gleichheit der Bürger, jenseits der widersprüchlichen Interessen der Klassen. Zweifellos liegt hierin eine Schwäche derjenigen, die zum Kampf bereit sind. Auch wenn die Bewegung innerhalb des Systems geblieben ist, führten die Initiativen dennoch in Richtung auf die Wiederherstellung eines öffentlichen Sektors mit einer solidarischen Logik, die eine mögliche Neudefinition der Idee der öffentlichen Dienste nach einer Logik der Befriedigung sozialer Bedürfnisse ankündigt.
Heutzutage wird die Deregulierungspolitik für die soziale Verarmung verantwortlich gemacht. In den Augen der Arbeiter ist der Neoliberalismus die Reinform des Kapitalismus, ein Schritt zurück, und es ist logisch, daß diese Politik den Widerstand vereint und Energien mobilisiert. Aber im Schatten dieses Kampfes mobilisieren sich auch Sektoren der nationalen Bourgeoisie, um ihre Interessen geltend zu machen. Das wichtigste Wort der neuen anti-neoliberalen Ideologie ist Globalisierung. Aber was ist Globalisierung wenn nicht die Geschichte des Kapitalismus selbst? Was als eine neue und gefährliche Entwicklung präsentiert wird, ist nichts als die moderne Phase dieses langen Prozesses, der durch das Verschwinden bzw. die Umwandlung des staatskapitalistischen Blocks markiert wird. Der Anti-Globalisierungs-Diskurs wertet auch den Protektionismus von einst wieder auf und fordert eine Rückkehr zum früheren interventionistischen Staat: »Die Globalisierung ist das Verschwinden der Regulierungsfähigkeit.«25 Der Neoliberalismus wird wie eine Abweichung von der kapitalistischen Politik diskutiert, und nicht als das Resultat des Scheiterns interventionistischer Regulierungen zur Sicherung der privaten Kapitalrentabilität. Die Finanzmärkte werden als finstere Mächte dargestellt, während ihre Bedeutung im Ausmaß der Spekulationsaktivitäten der Kapitalisten zum Ausdruck kommt. Das Ziel des mystifizierenden Manövers ist es, kurz gesagt, den wirklich Verantwortlichen, den Kapitalismus, nicht beim Namen zu nennen, und zu suggerieren, daß eine Lösung im nationalen Rahmen gefunden werden kann. Deshalb holt man die alte antiimperialistische Argumentation wieder heraus: »Die Vereinigten Staaten sind die wichtigste deregulierende Macht des Planeten.«26 Diese neuen Schutzengel stellen der vereinheitlichenden Globalisierung (»Amerikanisierung«) nationalistische Werte mit unheilvoller Vergangenheit gegenüber, die nationale Vereinheitlichung. Auf diese Weise werden die sozialen Widerstandsbewegungen gegen die Krise auf diese eingeschränkte nationalistische Vision zurückgestutzt. Dementsprechend sei der Streik vom Dezember '95 auch »ein Zeichen für die zunehmenden Spannungen zwischen dem Staatsapparat und der Nation als Lebensgemeinschaft« gewesen.27 »Nation als Lebensgemeinschaft«, das Programm für ein Volksfest! So als ob diese Bewegung der Überbringer eines patriotischen Grußes gewesen sei, angesichts der Monster Finanzmärkte und Globalisierung!?
Mehr als je zuvor ist der kapitalistische Raum der Raum des gesamten Planeten. Allein in Frankreich haben die multinationalen Konzerne einen Anteil von über 30 Prozent am Bruttoinlandsprodukt und ebensoviel bei den Exporten. Und die größten Unternehmen mit französischem Kapital sind selbst mächtige Multis. Wie ist also diese Forderung nach einer Rückkehr zum Protektionismus zu verstehen? Das Projekt müßte von neuen totalitären Formen der Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft begleitet werden. Wenn wir vom Irrealismus dieses Diskurses einmal absehen, so liegt seine Bedeutung einstweilen darin, daß er beharrlich die nationalistische Botschaft in die Ziele der ausgebeuteten Klassen und der Ausgeschlossenen hineinschreibt. Von nun an ist es unverzichtbar, daß wir uns diesem mystifizierenden, patriotischen und staatsgläubigen Diskurs entgegenstellen und tatsächlich internationalistische Perspektiven voranbringen. Ob in der Form des Wohlfahrtsstaats oder in der Form des liberalen Staates, der Kapitalismus ist ein System von Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Barbarei. Wenn man sich dem Neoliberalismus entgegenstellen will, indem man für den Interventionismus stimmt, dann entscheidet man sich dafür, den Warengesetzen unterworfen zu bleiben. Mehr und mehr wird diese Frage in den kommenden Kämpfen im Zentrum der politischen Debatte und der kollektiven Aktion stehen. ■
Februar 1996
Charles Reeve
[1] Es ist eine symbolträchtige Tatsache, daß der Streik vom Dezember '95 bei den Eisenbahnern des Gare du Nord in Paris begann, dort wo 1986 eine der ersten Koordinationen gebildet worden war.
[2] »Die Rückkehr der Gewerkschaften«, Jean-Louis Mourgue, Sekretär der FO-PTT, in: Maintenant, 20. Dezember 1995.
[3] Le Monde, Paris, 21. Dezember 1995.
[4] Jouhaus, Rede, 6. Juni 1936.
[5] In Frankreich liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei neun Prozent (Privatsektor und öffentlicher Sektor zusammengenommen). Innerhalb von zwanzig Jahren ist er um zwanzig Prozentpunkte gefallen, während er in Großbritannien um sechs Prozentpunkte und in den USA um sieben Prozentpunkte zurückgegangen ist.
[6] A. Pannekoek, »Arbeiterräte«, Ed. Spartacus.
[7] Tronti, Arbeiter und Kapital (dtsch. Ausgabe, Frankfurt 1974; neu aufgelegt als Thekla 9, Sisina, Berlin o.J.).
[8] »Les Ouvriers contre l'Etat − Matériaux pour une intervention«, Paris 1973.
[9] Zwichen dem Kriegsende und den 80er Jahren hat sich in Frankreich die Zahl der Vorgesetzen [cadres] verdoppelt und die der Vorarbeiter [contremaître] verdreifacht. Von 100 Beschäftigten in der Industrie sind die Hälfte nicht-gewerblich, während es in Deutschland 40 Prozent und in Italien 25 Prozent sind.
[10] Über 4000 Verwaltungsangestellte der Sozialversicherung sind gewählte Gewerkschaftsfunktionäre. Tausende von hinzugewählten Gewerkschaftern arbeiten im Mittelbau dieser Institutionen.
[11] »La CNAM a versé 180 millions de Francs aux syndicats de 1991 à 1994« [Die CNAM hat den Gewerkschaften zwischen 1991 und 1994 180 Millionen Francs gezahlt], Le Monde, Paris, 21. Februar 1996.
[12] »L'arrivée de la gauche au pouvoir accélère, en particulier, le désyndicalisation chez les ouvriers.« [Die Ankunft der Linken könnte insbesondere die Entgewerkschaftlichung bei den Arbeitern beschleunigen.] Le Monde, Paris, 19. November 1985.
[13] So in Bordeaux, wo die Müllarbeiter die Mülltonnen aus den Armenvierteln vor der Villa des Premierministers ausgeleert und ihm vorgeschlagen haben, darin rumzuwühlen, um »zu sehen, was die Armen essen«.
[14] »De l'électricité dans l'air«, Le Monde libertaire, Paris, 14. Dezember 1995.
[15] Eine bekannte Ausnahme: die wichtige Rolle, die eine informelle Struktur von Lehrern der nördlichen Viertel von Paris beim Ausbruch des Streiks der Pariser Lehrer gespielt hat.
[16] »Scènes de gréve général en hiver«, Le Combat syndicaliste [CNT], Paris, Januar 1996.
[17] Leserbrief, Le Monde, Paris, 7. und 8. Januar 1996.
[18] »L'inéfinissable légèreté des Parisiens solidaires par temps de grève« [Die unendliche Leichtigkeit der solidarischen Pariser in den Zeiten des Streiks], Le Monde, Paris, 21. Dezember 1995.
[19] So ist beispielsweise kaum zwei Wochen nach dem Ende der Bewegung bei einer Putzfirma, die für die RATP arbeitet, ein harter Streik ausgebrochen. Meines Wissens haben die Gewerkschafter der RATP den kämpfenden Immigranten-Arbeitern keinerlei Solidarität entgegengebracht. Le Combat Syndicaliste, Paris, Februar 1996.
[20] So geschehen in Marseille, wo bei den Straßenbahnern die rechtsextreme Gewerkschaft CSL im Streikkomitee saß. Bei der RATP (Paris) riefen die der Front National nahestehenden unabhängigen Gewerkschaften zum Streik auf.
[21] Siehe zum Beispiel: »En France, désespérance populaire et démagogie politique« [In Frankreich: Verzweiflung des Volkes und politische Demagogie«], Alain Bihr, Le Monde Diplomatique, Dezember 1995.
[22] Bruno Mégret, Funktionär der Front National, »Le FN entend soutenir les mouvements sociaux dans une démarche rénové« [Die Front National versteht es, die sozialen Bewegungen auf neue Weise zu unterstützen«], Le Monde, Paris, 13. Februar 1996.
[23] Ebd.
[24] Marc Blondel, der quasi-trotzkistische Führer der Force Ouvrière (FO) war auch dorthin eingeladen, um diese Kreise zu beruhigen.
[25] Edgard Pisani, »Tout ensemble contre la mondialisation« [Alle gemeinsam gegen die Globalisierung], Le Monde Diplomatique, Paris, Januar 1996. [In der deutschsprachigen Ausgabe: »Die Politik neu erfinden«, Seite 2].
[26] Ebd.
[27] ebd. [Fußnote 2].