Im Jahr III des zapatistischen Aufstands
Bilanz und Perspektiven
Redaktion »Land und Freiheit«
»Wir werden tun, was getan werden muß, Madre de Dios de Madre de Dios! und unsere sakrosanten Prinzipien werden verdammt nicht schlechter davon!« Victor Serge, Geburt unserer Macht
Vorbemerkung
Zwei Jahre nach dem Beginn des zapatistischen Aufstandes im Januar 1994 in Chiapas und ein Jahr nach dem Aufruf der Aktion zur Unterstützung der zapatistischen Bewegung halten wir es für notwendig, zum einen die Entwicklung der sozialen und politischen Kämpfe in Mexiko zu bilanzieren; zum anderen ist dies für uns auch die Gelegenheit, eine vorläufige Bilanz unserer eigenen Erwartungen und Anstrengungen in der Solidaritätsarbeit zu ziehen.
Wir haben zu überprüfen, inwieweit unsere Einschätzungen der sozialen Bewegungen in Chiapas, Mexiko und über die Grenzen des Landes hinweg tragfähig waren und inwieweit unsere eigenen Aktivitäten mit der Entwicklung in Mexiko Schritt hielten − wobei wir unter diesen Aktivitäten etwas anderes verstehen als nur die Unterstützungsarbeit für die Bewegungen in Chiapas und Mexiko. Denn von Anfang an haben wir versucht, die Solidaritätsarbeit im internationalen Zusammenhang zu begreifen, d.h. den für uns wesentlichen Inhalt der Botschaften aus dem lakandonischen Urwald aufzugreifen und ihm eine den hiesigen Verhältnissen entsprechende Form zu geben: daß es uns vorrangig darum geht, die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in dieser Metropole des internationalen Kapitalismus umzuwälzen. Entsprechend muß auch eine Bilanz der Solidaritätsarbeit diesen internationalen Zusammenhang herausarbeiten, damit daraus ein Beitrag für die internationale Verständigung und Diskussion werden kann.
I. Elemente einer neuen revolutionären Praxis
Wie für viele andere auch, hatte der zapatistische Aufstand für uns von Anbeginn eine internationale Dimension, und zwar nicht nur aufgrund seiner objektiven Auswirkungen und Entstehungsbedingungen, sondern ausdrücklich in der Art und Weise, in der die Zapatistas alle bisherigen Modelle revolutionärer Praxis modifizierten: durch ihr Verhalten innerhalb und gegenüber den sozialen Basisbewegungen Chiapas, aber auch gegenüber den sozialen Bewegungen Mexikos und aller Länder der Welt. Erkennbar wurden Elemente einer neuen revolutionären Praxis, die für alle emanzipatorischen Tendenzen exemplarischen Charakter haben.
Das sind u.a.:
- Die Absage an ein Konzept politischer Machteroberung, von dem mit der Staatswerdung einer politischen Elite letztlich nicht mehr zu erwarten ist als ein administratives Regime staatskapitalistischer Modernisierung, also nur eine weitere Variante nationaler Befreiung.
- Zu diesem libertären Element einer praktischen Staatskritik gehört der Vorrang, der den verschiedenen Formen sozialer Selbstorganisation gegenüber den getrennten politischen Organisationen eingeräumt wird − einschließlich einer Unterordnung der militärischen Organisation unter das zivile Kommando der zapatistischen Gemeinschaften.
- Im Aufgreifen der gemeinschaftlichen Traditionen der Indígenas gehen die Zapatistas zum einen von den alten Strukturen der widerständigen Dorfgemeinschaften aus, entwickeln und verstärken darin aber im organisierten Kampf Kräfte und Tendenzen, die reaktionär-patriarchalischen Beschränktheiten der indigenen Gemeinden zu durchbrechen. Der Aufstand selber ist der Prozeß einer inneren Revolutionierung der traditionellen Lebensweisen und herrschaftlichen Verhältnisse.
- In ihren programmatischen Erklärungen wie in jedem Schritt der teils aufgezwungenen, teils selbst entwickelten Taktik und Strategie hat die zapatistische Bewegung ihre eigenen, besonderen Ziele in den Zusammenhang von sozialer Befreiung als universeller Emanzipation gestellt. Ausdrücklich gestützt auf die konkreten Lebensbedürfnisse der Indígenas, enthält die Aufstandsbewegung nicht nur objektiv, sondern bewußt einen solch universellen Entwurf, der in allen Sprachen der Welt verstanden wird und werden kann und jeweils nur der konkreten Übersetzung bedarf. Die Glaubwürdigkeit und internationale Resonanz der zapatistischen Aufrufe ist einer der stärksten Belege gegen die angeblich unendliche Fragmentierung und Spaltung der weltweiten Klassen- und Kampfverhältnisse und damit gegen die ideologische Stillegung jeder befreienden Subjektivität.
- Zu den bedeutendsten Elementen der zapatistischen Aufstandsbewegung gehört die Entschiedenheit, mit der auf allen Ebenen des gemeinschaftlichen und politischen Lebens die Idee der Autonomie ins Zentrum aller Entscheidungen und Diskussionen gerückt wird. Wobei sich hier Autonomie ausdrücklich nicht auf die Abstraktionen liberaler Weltbilder reduzieren läßt, sondern Freiheit positiv als gemeinschaftliche Selbstbestimmung und -verwirklichung meint: als Assoziation, worin die freie Entwicklung des einzelnen die Bedingung der freien Entwicklung aller ist (Marx). Dies ist der Ausgangspunkt, und die eigenartigen Interpretationen der Demokratie durch die Zapatistas leiten sich daraus ab. Ein solches Denken stellt damit heute die größte Herausforderung für die neoliberale Entmenschlichung dar.
Zusammengefaßt und allgemein formuliert, stellen diese − wie einige andere, hier nicht genannten − Elemente einer neuen revolutionären Praxis den konkreten Zusammenhang von Klassenkampf und Emanzipation wieder her, der durch die staatlich-kapitalistische Integration und Unterwerfung sozialer Befreiungsbewegungen auseinandergerissen wurde. Das Neue, das die zapatistische Bewegung im internationalen Zusammenhang von scheinbar erdrückender Hegemonie des Weltkapitalismus und tiefgreifender Krise aller Befreiungsbewegungen darstellt, verdankt sich aber keinem theoretischen Konzept oder Modell, sondern einem konkreten Erfahrungs- und Lernprozeß. Dieser begann mit dem Scheitern einer kleinen Guerilla, deren übriggebliebener Kern sich mit den indigenen Gemeinschaften auseinandersetzen mußte und sich in dieser Auseinandersetzung die historischen und kollektiven Kampferfahrungen der Gemeinschaften aneignete. Die nach außen hin herausragende Person Marcos repräsentiert diesen Vermittlungsprozeß und erfüllt damit die Rolle eines Kommunikators zwischen zwei Welten unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Die ganze Kraft der zapatistischen Bewegung entspringt dem gemeinschaftlichen Willen der Indígenas − womit auch ein so altes wie zentrales Thema lateinamerikanischer Befreiungstheorien wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde −, ihre Entwicklungsfähigkeit und ihr möglicher Erfolg aber liegt in der Vermittlung des eigenen Kampfes mit anderen sozialen Bewegungen Mexikos wie anderer Länder.
Tatsächlich hat sich auf den verschiedenen Ebenen der Selbstorganisation und Entscheidungsfindung innerhalb der zapatistischen Bewegung eine Fähigkeit zu dieser Art Vermittlung herausgebildet, die das Niveau der innermexikanischen sozialen und politischen Bewegungen und Organisationen weit überschreitet. Diese Ungleichzeitigkeit bringt es mit sich, daß die Zapatistas − gegen ihren erklärten Willen − in die Position einer gesamtgesellschaftlichen Avantgarde hineingedrängt werden. Und im gleichen Maße, wie die Zapatistas darauf angewiesen sind, daß sich die Aufstandsbewegung in den sozialen Kämpfen verallgemeinert, müssen sie immer wieder darauf beharren, daß es nicht ihre Aufgabe sein kann und darf, solche Kämpfe zu initiieren, geschweige denn anzuführen. Gerade die relative politische Reife der zapatistischen Bewegung kann so auf Dauer ein Hindernis sein, ein Gleichgewicht zwischen den sozialen Bewegungen herzustellen, das unabdingbar ist für die Radikalisierung der sozialen Bewegungen und Klassenkämpfe in ganz Mexiko. Das praktische und taktische Verhalten der Zapatistas − zumindest ihrer Führung − zeigt freilich, daß sie sich dieses Dilemmas bewußt sind: das Schicksal der zapatistischen Revolution liegt in den Händen jener Bewegungen und Kräfte, die in der Sprache der Zapatistas die Zivilgesellschaft bilden. Eine zapatistische Revolution in ganz Mexiko wäre ein Prozeß von Kämpfen und Bewegungen, in denen verschiedene einzelne Bewegungen ihre eigene Autonomie durchsetzen und verteidigen und in denen die Zapatistas als eine Bewegung neben anderen aufgehoben wären.
Bereits zu einem früheren Zeitpunkt haben wir hervorgehoben, daß schon der praktische Versuch, diese Elemente einer neuen revolutionären Praxis auch nur in Ansätzen Wirklichkeit werden zu lassen, von geschichtlicher Bedeutung ist. Im geschichtlichen Maßstab und in politisch-revolutionärer Hinsicht liegt die Bedeutung von Kämpfen und Bewegungen nicht in der buchhalterischen Bilanz ihrer Erfolge oder zur Macht gewordenen sogenannten Errungenschaften, sondern in dem Maß an kollektiver Klassenerfahrung, das daraus entsteht und das immer weit über die Grenzen einer einzelnen Bewegung hinausgeht. So gesehen hatte die zapatistische Bewegung schon wenige Monate nach Beginn des Aufstandes viel mehr an Fragen, Einsichten und Perspektiven aufgeworfen, als in der jetzigen Phase im internationalen Maßstab zu verarbeiten ist. Wenn wir das Neue an der zapatistischen Bewegung hervorheben, dann auch um verständlich zu machen, weshalb dieser nur scheinbar lokal begrenzte Aufstand international so viel an Sympathie und zunächst einmal an Überraschung hervorgerufen hat: Es ist eine Bewegung, die exemplarisch Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart der geschichtslosen Neuen Weltordnung verknüpft und ebenso exemplarisch in ihrer eigenen Sprache und Symbolik das Bedürfnis nach Kommunismus artikuliert.
II. Der Zwang zur Taktik und das Gespenst der Bündnispolitik
Die Grenzen der Aufstandsbewegung wurden ihr von außen gezogen. Der Aufstand vom Januar 1994 war als Fanal gedacht, als Funke, der in ganz Mexiko einen Steppenbrand auslösen würde; aber er wurde an den Grenzen von Chiapas gestoppt, auch wenn das plötzliche Auftauchen dieser Bewegung der mexikanischen Innenpolitik eine völlig neue Qualität der sozialen Konfrontation zuführte. Das Dilemma der Zapatistas bestand und besteht immer noch darin, daß sie zwar zur weiteren Erschütterung der PRI-Macht beitragen, daß aber eine soziale und politische Bewegung, die nicht nur diese Macht zum Einsturz bringen kann, sondern auch eine revolutionäre gesellschaftliche Alternative hervorbringt, ausbleibt. Wir halten es deshalb für einen Irrtum, die aus dieser Situation notgedrungen entwickelte Taktik, die verschiedenen Versuche von Bündnispolitik mit verschiedenen sozialen und politischen Kräften, als Ausdruck einer konkreten und kohärenten Strategie anzusehen. Ganz im Gegenteil zeigt die Doppelgleisigkeit der Zapatistas in der Bündnispolitik, daß sie auf der einen Seite alles versuchen, um ihr Terrain zu verteidigen, aber andererseits auch die zeitweiligen Bündnispartner mit den Maßstäben ihrer eigenen Bewegung kritisieren und herausfordern.
Diese Kritik kommt in dem wiederholten Appell an die sogenannte Zivilgesellschaft zum Ausdruck, Appelle, die auch als Aufruf zu verstehen sind, die in der zapatistischen Bewegung praktizierte Kritik der Politik umzusetzen, und unterhalb der Ebene von Staatlichkeit und Politik Prozesse von Selbstorganisierung (Autonomie) voranzutreiben, die im übergreifenden Sinne gesellschaftlichen Charakter annimmt. In einer anderen Sprache heißt das: der Klassenkampf wird politisch, wenn Klasse gegen Klasse steht. Zivilgesellschaft mag eine Konzession an die postmoderne Modesprache sein, aber im politischen System Mexikos kommt diesem Ausdruck eine ziemlich klare Bedeutung zu: denn nur in wenigen Ländern ist der Herrschafts- und Korruptionscharakter der verselbständigten politischen Apparate so handgreiflich wie in Mexiko, wo die jahrzehntelange Herrschaft der PRI ein scheinbar unendlich flexibles System von Integrationsmechanismen geschaffen hat, dem etliche Ansätze revolutionärer Parteien oder auch Guerillas zum Opfer gefallen bzw. in die Arme gelaufen sind. Sich auf dieser Ebene der politischen Macht entgegenzustellen, bedeutet schon im Ausgangspunkt, ihre Spielregeln und damit ihre Hegemonie zu akzeptieren. Dazu gehört insbesondere der Antiimperialismus (gegen die USA) als Legitimationsideologie, sowie die schon seit 1968 verblassenden Mythen der mexikanischen Revolution − die aber als sozialer Mythos bei den Campesinos, proletarischen Schichten und teilweise den Indígenas prägend geblieben sind: nämlich als sozialer Mythos einer in der Staatsmacht erstarrten, verratenen, enteigneten oder schlicht unvollendeten Revolution. Mit dem besonderen Hintergrund des eigenen historischen Bewußtseins der Indígenas, ihren kollektiven Mythen vom fünfhundertjährigen Kampf, vermittelt sich dieser Appell an die sozialrevolutionäre Tendenzen historischer Kämpfe in der Propaganda der Zapatistas für eine Demokratie, die als Volkssouveränität und gesellschaftliche Autonomie interpretiert wird, wie es Generationen proletarischer Bewegungen immer getan haben, ohne dabei auch nur einen Funken Illusionen in die bürgerliche Politik gehabt zu haben.
Diese, europäische Beobachter oft befremdenden Elemente in der zapatistischen Propaganda sind in Wahrheit ihre stärksten: sie rufen zum Bruch mit der Politik auf, ohne den Herrschenden die Symbole einer revolutionären Befreiung zu überlassen. Die Übergabe der mexikanischen Fahne an die Delegierten des CND hatte diese symbolische Bedeutung − den Herrschenden ihre ideologische Legitimation zu entwenden und den eigenen Kampf auch als Kampf für ein historisches Selbstbewußtsein zu führen, der unter den heutigen Bedingungen einer jahrzehntelangen Unterwerfung ein Ende bereitet. Demgegenüber zeigen sich freilich die gesellschaftlichen Kräfte, an die die Zapatistas appellieren, noch immer mehr oder weniger unfähig, der Politik und damit der Integration in die Mechanismen der Macht ein Ende zu bereiten. Dennoch sind diese Appelle nicht immer vergeblich, ihre Wirkung zeigt sich nur nicht in abrupten Brüchen, sondern in weitverzweigten Auflösungsprozessen der politischen Macht (so wie der Einfluß der zapatistischen Bewegung auf die soziale Basis auch der PRD in der Region eher größer geworden ist als die Kontrolle der Partei mithilfe des üblichen Klientelwesen.) Jeder Schritt, den die Zapatistas in der Bündnispolitik unternommen haben, ist deshalb nicht nur notgedrungene Maßnahme in einer Kampfsituation militärischer und politischer Defensive, sondern auch ein Vorantreiben jenes langwierigen − und offensichtlich unerwartet zähen − Prozesses, in dem die sozialen Bewegungen und Organisationen in Mexiko erst nachholen müssen, was sich innerhalb der zapatistischen Bewegung (ebenso langwierig) herausgebildet hat.
Auch die Gründung der FZLN, die ja schon in der Frage der Consulta angelegt war, ob sich die EZLN in eine unabhängige politische Kraft verwandeln solle, ist unserer Meinung nach nur in diesem Verhältnis von Eigenständigkeit, Taktik und Bündnispolitik zu verstehen und zu beurteilen. Einerseits weist diese Paarung von EZLN und FZLN auf das traditionelle Schema nationaler Befreiungsbewegungen hin; sie legt auch den Verdacht nahe, hier käme die EZLN unausgesprochen der Forderung des PRI-Regimes entgegen, sich in eine politische Partei zu verwandeln. Aber im gleichen Zug, in dem zur Bildung FZLN aufgerufen wurde, wurden Regeln für die Mitgliedschaft vereinbart, die jedes Auftreten als Partei auf den Ebenen der herrschenden (und beherrschten) Politik unterbinden: so zum Beispiel in dem Verbot, politische Mandate anzunehmen. Welche praktische Bedeutung der Bildung der FZLN zukommt, wird die Zukunft zeigen.
III. Das Kräfteverhältnis in der jetzigen Phase
Entscheidend für die Beurteilung und Bewertung dieser Bündnispolitik ist jedoch, ob sie schwerwiegende Rückwirkungen auf die inneren Verhältnisse der zapatistischen Bewegung hat. Davon ist nichts zu erkennen. Der Eindruck, den wir bislang gewinnen konnten, ist eher vom Gegenteil geprägt: von einer unverändert starken Anbindung der Repräsentanten der Bewegung an die sozialen Basisorganisationen und darüber hinaus eine so einfache wie klare Entschiedenheit der zapatistischen Gemeinden, nicht hinter den erreichten Stand zurückzugehen. Ohne diese Entschiedenheit der eigenen Basis wäre auch die politische Grenze des Regimes undenkbar: nicht daß die Zapatistas rein militärisch nicht zu besiegen wären; sie sind derzeit aus politischen Gründen militärisch nicht zu besiegen − denn der offene Krieg würde den zwar langsamen, aber tiefgreifenden Erosionsprozeß der politischen Macht enorm beschleunigen. Noch immer besteht für das PRI-Regime die Gefahr, daß ein solch offener Krieg doch den Steppenbrand entfachen könnte, auf den der Aufstand vom Januar 1994 vergeblich warten mußte.
Dennoch stellt der Krieg niedriger Intensität, der stattdessen auf allen Ebenen geführt wird, mehr als nur einen permanenten Belagerungszustand dar. Die sich dahinschleppenden Verhandlungen, in denen sich weder Substanzielles ergeben hat, noch ergeben wird, finden nicht zwischen einander gegenüberstehenden feindlichen Lagern statt: die zapatistischen Gemeinden stehen unter ständiger militärischer Bedrohung und Kontrolle, und statt befreiter Gebiete gibt es höchstens ein toleriertes staatsfernes Terrain, das den Gemeinden für die Dauer der Verhandlungen eingeräumt wird. Es ist bislang nicht entschieden, für welche der beiden Seiten die Zeit arbeitet. Daß es aber überhaupt noch einen Handlungsraum und damit auch einen gewissen zeitlichen Rahmen für die Revolution niedriger Intensität gibt, ist einzig und allein ein Resultat der militärischen Defensive, die die EZLN für sich als operativen Grundsatz bestimmt hat − und zwar nicht aus militär-taktischen, sondern aus politischen Gründen. Denn der offene Krieg stellt nicht nur für die PRI, sondern auch für die EZLN ein erhebliches Risiko dar, vor allem eine aufgezwungene Militarisierung der Bewegung, der alles zum Opfer fiele, was wir als die neuen Elemente einer revolutionären Praxis beschrieben haben. Im Krieg Anfang 1994 hat die EZLN diese Erfahrungen bereits unter den erbärmlichen Bedingungen des Rückzugs machen müssen, die zeitweilig einen durch die Not diktierten Rückschritt in der eigenen Praxis mit sich brachten.
Daß die Zeit ein strategischer Faktor ist, weiß auch das Regime, und es hat die militärische Defensive der EZLN dazu benutzt, um mit dem Alltagsregime von Repression und Korruption alle Bewegungen in Chiapas − die nur zum Teil unmittelbar mit der zapatistischen Bewegung verbunden sind − auch in eine soziale Defensive zu treiben: Repression durch das brutale Ende, das vom Militär den Landbesetzungen bereitet wurde; Korruption insbesondere durch den Versuch, mit Versprechungen unmittelbarer Konzessionen Bündnispartner der Zapatistas zum Bruch mit der Aufstandsbewegung zu bewegen. Der zeitweilige Erfolg, den das Regime damit hatte, weist auf die Gefahren für die Aufstandsbewegung und die mittelfristigen Ziele des Regimes hin: in allen Verhandlungen und in der öffentlichen Propaganda versucht die PRI, den Aufstand zu regionalisieren, ihm seine politische Spitze, die auf das Herz der Staatsmacht in Mexiko-Stadt zielt, abzubrechen. Programm und Praxis sozialer Autonomie sollen umgedreht werden zur regionalen Autonomie eines indigenen Homelands. Welche Mittel dem mexikanischen Staat dafür real zur Verfügung stehen, welchen ökonomischen und politischen Preis er dafür zu zahlen in der Lage ist, können wir nicht genau genug beurteilen. Auch wenn die zapatistischen Gemeinden davon wenig beeindruckt sein werden, könnte so eine Einkreisung stattfinden, die den Aufstand als Kampf für die unmittelbaren Bedürfnisse isoliert, weil dann die Alternative nur noch lauten würde: Minimale ökonomisch-soziale Hilfe oder offener Krieg.
Dieser Gefahr arbeitet die EZLN ausdauernd entgegen. Daß die Vertreter der Zapatistas immer noch in den Verhandlungen zäh an den über Chiapas hinausreichenden gesellschaftlichen und politischen Forderungen festhalten, ist dabei nicht abstrakte Prinzipientreue oder nur Sabotage des Dialogs mit der Macht; es ist die einzige Weise, in der die EZLN − übrigens sehr realpolitisch − den wirklich angestrebten Dialog mit den sozialen Bewegungen außerhalb Chiapas offen hält. So bleibt es bei einer grundsätzlich instabilen Situation, die nicht ewig fortdauern kann und in der alles darauf ankommt, ob die Revolution niedriger Intensität in gesamt Mexiko sich schneller ausbreitet als der Krieg niedriger Intensität in Chiapas. Und es bleibt dabei, daß zwar die soziale Polarisierung in gesamt Mexiko spürbar zugenommen hat, daß die Entschiedenheit des zapatistischen Widerstands diese Polarisierung politisch fördert und den Basisorganisationen einen gewissen, wenn auch oft nur symbolischen Orientierungspunkt bietet, daß aber kein übergreifender Prozeß gesellschaftlicher Selbstorganisation erkennbar ist, in dem das mexikanische Proletariat in einer gemeinsamen Bewegung die Staatsmacht zerstören könnte. In dieser Phase ist für die Zukunft fast alles denkbar, im schlimmsten Fall eine soziale Implosion, in der das herrschende System alternativlos in sich zusammensackt und der soziale Krieg die offen militärische Form autoritärer Lösungsversuche annimmt. Gemessen an der weder euphorisch noch pessimistisch zu bestimmenden offenen Situation nimmt sich die aus der Not geborene Taktik der Zapatistas fast schon wie eine politisch ausgereifte Strategie aus, die dem jetzigen Kräfteverhältnis und den wirklichen Klassenkampfverhältnissen in Mexiko angemessen ist und die Zeit als strategischen Faktor ernst nimmt. Aber auch dieser Eindruck stellt die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf: nicht ein überlegter strategischer Plan − einer nach politischer Kontrolle greifenden Führung − liegt der Taktik der Zapatistas zugrunde, sondern einzig und allein die Entschiedenheit ihrer eigenen sozialen Basisorganisationen, jeden gesellschaftlichen Dialog als Ergebnis des unmittelbaren Bruchs mit der Macht zu begreifen und zu führen.
IV. Der internationale Kontext und die Grenzen unserer Solidaritätsarbeit
Erklärtermaßen haben wir es schon seit den ersten Aufrufen und Mitteilungen im Frühjahr 1995 abgelehnt, unsere eigene Intiative als ein weiteres Ditte-Welt-Solidaritätsprojekt zu bestimmen oder bestimmen zu lassen. Wir wollten damit nicht die bisherigen Solidaritätsprojekte − insbesondere der Lateinamerikagruppen − herabsetzen, sondern die Richtung unserer eigenen Initiative bestimmen: sie sollte der Richtung des zapatistischen Aufstandes selber folgen − vom lakandonischen Urwald nach Mexiko-Stadt, von Mexiko-Stadt in alle Welt, die USA und auch zu uns. Solidaritätsarbeit sollte unserer Überzeugung nach ein Bestandteil der hiesigen politischen Praxis sein, und die Informationen über die zapatistische Bewegung könnten − so hofften wir wenigstens − hier und dort auch praktische Übersetzung in Aktionen hier finden. Dieser Aufgabenbestimmung von Land und Freiheit lag als eine zentrale These zugrunde, daß die internationalen Klassenauseinandersetzungen und Befreiungsbewegungen immer weniger von den Unterschieden zwischen der sozialen Lage in den Metropolen und der sogenannten Dritten Welt als vielmehr von der Angleichung der Kampfsituationen geprägt werden. Daß der Aufstand der Indígenas so plötzlich eine zumindest politisch-sprachliche und symbolische Vermittlung fand, lag auch an der Modernität des Schreckens, den der Kapitalismus über Chiapas gebracht hat, an der Konfrontation zwischen zwei Welten, aus der etwas für uns Neues hervorging. Trotzdem war und ist uns der Unterschied klar, daß es dort zwar auch um einen Kampf von Proletarisierten gegen die Unterwerfung unter und gegen die Integration ins Kapital geht, aber daß dies ein anderer Prozeß ist als der von Menschen, die sich − wie hier in den Metropolen − zunächst gegen die kapitalistische Desintegration wehren und ihre moralischen Maßstäbe von sozialer Gerechtigkeit zumindest im ersten Schritt der Staatlichkeit kapitalistischer Wohlfahrt entnehmen. Im Weltmaßstab begegnen sich so, ebenso wie im Mikromaßstab von Mexiko und Chiapas, zwei Welten unterschiedlicher Geschwindigkeit, und zwar durchaus auch als Konfrontation. Diese Konfrontation herbeizuführen, halten wir selber für notwendig: damit nicht die eine Bewegung Modell für die andere wird, sondern aus ihrem Aufeinandertreffen die gemeinsamen Möglichkeiten und damit auch die Schwäche des einen und einzigen Feindes durchschaubar werden.
Wir glauben, daß diese Erfahrung in den Köpfen vieler Menschen, die mit Neugierde und Sympathie die Ereignisse in Chiapas und ganz Mexiko verfolgt haben und weiter verfolgen, tatsächlich gemacht wird und daß die Ahnung dieser Gemeinsamkeiten dem eigenen Verhalten und Alltagsleben weit voraus ist. Daß sie sich nicht unmittelbar in Aktion umsetzt, bedeutet nicht, daß sie wirkungslos bleibt. Eher speichert diese Wahrnehmung selbstbewußter Kämpfe − die der eigenen Situation immer näher rücken −, und in dieser Kette sind Aufstandsbewegungen wie die in Chiapas und etwa der Massenstreik in Frankreich nur zwei auseinanderliegende Glieder − schon Bilder einer vorweggenommenen eigenen Zukunft und ihrer Möglichkeiten. Das ist Utopie im Zustand ihres Konkretwerdens. Unsere eigenen Initiativen sind dieser Entwicklung immer um einen oder mehrere Schritte voran, greifen voraus, auch daneben, machen Vorschläge − und sind dabei doch realistisch: weil sie immer wieder die Realität danach befragen, wieweit sie mit der Ausarbeitung ihrer eigenen Ahnungen vorangekommen ist. Wenn unsere Erwartungen nicht erfüllt wurden, dann legen wir das deshalb nicht als bloße Illusion ab. Aber wir stellen uns, wie allen anderen, die in der Solidaritätsarbeit beteiligt sind, die Frage, inwieweit wir tatsächlich dem Bedürfnis nach Autonomie, wie es in den wirklichen Menschen hier vorhanden ist und wirkt, auch Sprache und Bilder gegeben haben.
Diese für uns entscheidende Frage können wir nicht beantworten; wir schauen nur selbstkritisch auf die diversen Szenen, in denen wir uns zum Teil bewegen, die nur im Zustand der mobilisierten Selbstisolierung politisch werden können und damit häufig genug unter den hiesigen Bedingungen das erschrekende Bild der mexikanischen Linken reproduzieren, das die Zapatistas mit beeindruckender Entschiedenheit demontieren. Zwischen zwar geduldiger Solidaritätsarbeit (von hier nach dort), die Informationen und Hilfsmittel transportiert, aber mehr die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten betont, und einem abstrakten Internationalismus ohne Unterschied und wirklich lebendiger, hörbarer und fühlbarer, also erlebbarer Gemeinsamkeit − zwischen diesen extremen Polen der Solidaritätsarbeit sehen wir zur Zeit nur ein Meer noch anonym bleibender Menschen, die zwar nach ihren Bedürfnissen befragt werden wollen, aber den Mund verschließen, aus dem allein sich die neue Sprache und der Klang einer befreienden Zukunft bilden können. Ob wir zuhören können oder es auch noch lernen, ob wir unsere eigene Wahrnehmung so verändern, daß wir davon heute im Alltag − und nicht unbedingt in den großen politischen Kampagnen, die oft ihren eigenen Inhalt übertönen − schon etwas knistern hören, − davon wird abhängen, inwieweit Internationalismus seinen Namen wirklich verdient.
Wir wollen niemand schelten und uns nicht bußfertig ins Ritual der Selbstkritik zurückziehen. Im Gegenteil ergibt sich für uns aus dieser wohl noch länger offen bleibenden Frage die Notwendigkeit, die angefangene Arbeit fortzusetzen; freilich erst einmal nur mit der weiteren Herausgabe von Land und Freiheit, und zwar in der uns möglichen Form. Wir werden uns wie bislang, sogar noch verstärkt, darum bemühen, den weitgestreuten Kreis der LeserInnen − auch darunter gibt es viele noch verschlossene Münder − zu verbreitern, ohne aber an unserer grundsätzlichen Orientierung auch nur einen Deut zu ändern. Weiter werden wir Land und Freiheit vor allem als Informationsmittel für alle an der Solidaritätsarbeit Beteiligten begreifen und deshalb auch an dem Austausch und der Diskussion der verschiedenen Gruppen teilnehmen. Nur werden wir noch stärker als früher, bei uns wie bei anderen, darauf achten, daß wir von unserer eigenen Praxis hier ausgehen und darüber auch Auseinandersetzungen führen wollen. Gerade weil wir in der Solidaritätsarbeit deutlicher als befürchtet gesehen haben, wieweit die Niveaus von Bewegungen wie der zapatistischen und unserer auseinanderliegen, fangen wir bei unserer Praxis selber an.
Das gilt nicht zuletzt auch für Momente, in denen wir Vorbehalte und Kritik an den Zapatistas äußern. Von einer traditionellen Haltung der Nichteinmischung halten wird nichts; gerade die internationale Bedeutung des zapatistischen Aufstandes verpflichtet zur Kritik. Aber diese kann und darf nicht in Allgemeinheiten revolutionstheoretischer Art steckenbleiben, sie muß im ersten Schritt eine selbstkritische Überprüfung der eigenen Maßstäbe einschließen. Wir sehen keinen Grund darin, die zapatistische Bewegung zu verherrlichen und die reale Rückständigkeit im Emanzipationsprozeß zu beschönigen. So macht ein zapatistisches Programm − wie das im Gesetz der Frauen − noch keine Befreiung von Herrschaftsverhältnissen aus; nur das praktische Verhalten zu den programmatischen Zielen ist das Kriterium der Bewertung. Selbstkritische Aussagen sind ebenfalls nichts-sagend, wenn nicht die dauernde Anstrengung sichtbar wird, die Grenzen des eigenen Verhaltens und Handelns zu überschreiten. Wir werden uns auch nicht damit begnügen, auf die objektiven Bedingungen zu verweisen, um die Unvermeidlichkeit von emanzipatorischen Rückschritten zu begründen. Objektive Bedingungen gibt es nur vor und nach der Anstrengung, sie zu verändern. Alles in allem kommen wir aber in fast allen kritischen Fragen zu dem Schluß − und damit zu der vorläufigen Bilanz − daß die Zapatistas sich genau in dieser Weise ihren Problemen stellen und daß sie genau dort, wo sich ihnen scheinbar unveränderbar objektive Handlungsgrenzen entgegenstellen, gesellschaftliche Kampf- und Kräfteverhältnisse thematisieren und jene zur Veränderung aufrufen, die dies auch können. Das gilt für die sozialen und politischen Oppositionsbewegung in Mexiko außerhalb Chiapas; und das gilt für den internationalen Zusammenhang.
Internationalismus heißt in dieser Situtation nicht nur, daß wir die Aufrufe aus dem lakandonischen Urwald als Appell an unser eigenes Handeln verstehen. Es heißt auch, im selben Maße, wie wir unsere eigenen Möglichkeiten − hier, in dieser kapitalistischen Metropole − einschätzen und wahrnehmen können, Bewegungen wie den Zapatistas ein realistisches Bild von den sozialen Auseinandersetzungen und Kräfteverhältnissen hier zu vermitteln. Wir haben einige Zweifel daran, ob diejenigen Teile der Linken, die sich zeitweilig sehr aktiv an der Solidaritätsarbeit beteiligt haben, dieser Aufgabe gewachsen ist. Jedenfalls glauben wir nicht, daß die Zapatistas oder andere Befreiungsbewegungen auf Dauer ein klares Bild von den Verhältnissen in den kapitalistischen Metropolen gewinnen können, wenn sie sich auf Einschätzungen stützen müssen, in denen der konkrete Zusammenhang von Klassenkampf und Emanzipation nicht (mehr) hergestellt wird. ■