Wildcat-Zirkular Nr. 25 - Mai 1996


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Im Jahr III des zapatistischen Aufstands

Bilanz und Perspektiven

Redaktion »Land und Freiheit«

»Wir werden tun, was getan werden muß, Madre de Dios de Madre de Dios! und unsere sakrosan­ten Prinzipien werden verdammt nicht schlech­ter davon!« Victor Serge, Geburt unserer Macht

Vorbemerkung

Zwei Jahre nach dem Beginn des zapatistischen Aufstandes im Januar 1994 in Chiapas und ein Jahr nach dem Aufruf der Aktion zur Unterstützung der zapati­stischen Bewegung halten wir es für notwendig, zum einen die Entwick­lung der sozialen und politischen Kämpfe in Mexiko zu bilanzieren; zum ande­ren ist dies für uns auch die Gelegenheit, eine vorläufige Bilanz unserer eigenen Erwartun­gen und Anstrengungen in der Solidaritätsarbeit zu ziehen.

Wir haben zu überprüfen, inwieweit unsere Einschätzungen der sozialen Bewegungen in Chiapas, Mexiko und über die Grenzen des Landes hinweg tragfähig waren und inwieweit unsere eigenen Aktivitäten mit der Entwicklung in Mexiko Schritt hielten − wobei wir unter diesen Aktivitä­ten etwas anderes verstehen als nur die Unterstützungsarbeit für die Bewegungen in Chiapas und Mexiko. Denn von Anfang an haben wir versucht, die Solidaritätsarbeit im internationalen Zusammen­hang zu begreifen, d.h. den für uns wesentlichen Inhalt der Botschaften aus dem lakandonischen Urwald aufzugreifen und ihm eine den hiesigen Verhältnissen entsprechende Form zu geben: daß es uns vorrangig darum geht, die Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in dieser Metropole des internationalen Kapitalismus umzuwälzen. Entsprechend muß auch eine Bilanz der Solidaritätsarbeit diesen internationalen Zusammenhang heraus­arbeiten, damit daraus ein Beitrag für die internationale Verständigung und Diskussion werden kann.

I. Elemente einer neuen revolutionären Praxis

Wie für viele andere auch, hatte der zapatistische Aufstand für uns von Anbe­ginn eine inter­nationale Dimension, und zwar nicht nur aufgrund seiner objekti­ven Auswirkungen und Entstehungs­bedingungen, sondern ausdrücklich in der Art und Weise, in der die Zapatistas alle bisherigen Modelle revolutionärer Praxis modi­fi­zierten: durch ihr Verhalten innerhalb und gegenüber den sozialen Basisbewe­gung­en Chiapas, aber auch gegenüber den sozialen Bewegungen Mexikos und aller Länder der Welt. Erkennbar wurden Elemente einer neuen revolutionären Praxis, die für alle emanzi­patorischen Tendenzen exemplarischen Charakter haben.

Das sind u.a.:

Zusammengefaßt und allgemein formuliert, stellen diese − wie einige andere, hier nicht genann­ten − Elemente einer neuen revolutionären Praxis den kon­kreten Zusammenhang von Klassenkampf und Emanzipation wieder her, der durch die staatlich-kapitalistische Integration und Unterwerfung sozialer Befrei­ungsbewe­gungen auseinandergerissen wurde. Das Neue, das die zapatistische Bewe­gung im internationalen Zusammenhang von scheinbar erdrückender Hege­monie des Weltkapitalis­mus und tiefgreifender Krise aller Befreiungs­bewegun­gen darstellt, verdankt sich aber keinem theoretischen Konzept oder Modell, sondern einem konkreten Erfahrungs- und Lernprozeß. Dieser begann mit dem Scheitern einer kleinen Guerilla, deren übriggebliebener Kern sich mit den indigenen Gemein­schaften auseinandersetzen mußte und sich in dieser Ausein­andersetzung die historischen und kollektiven Kampferfahrungen der Gemein­schaften aneignete. Die nach außen hin herausragende Person Marcos repräsen­tiert diesen Vermitt­lungsprozeß und erfüllt damit die Rolle eines Kom­munikators zwischen zwei Welten unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Die ganze Kraft der zapatisti­schen Bewegung entspringt dem gemeinschaftlichen Willen der Indíge­nas − womit auch ein so altes wie zentrales Thema latein­amerikanischer Befrei­ungstheorien wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde −, ihre Entwicklungs­fähigkeit und ihr möglicher Erfolg aber liegt in der Ver­mittlung des eigenen Kampfes mit anderen sozialen Bewegungen Mexikos wie anderer Länder.

Tatsächlich hat sich auf den verschiedenen Ebenen der Selbstorganisation und Entscheidungs­findung innerhalb der zapatistischen Bewegung eine Fähigkeit zu dieser Art Vermittlung herausgebil­det, die das Niveau der innermexikani­schen sozialen und politischen Bewegungen und Organisationen weit überschrei­tet. Diese Ungleichzeitigkeit bringt es mit sich, daß die Zapatistas − gegen ihren erklärten Willen − in die Position einer gesamtgesellschaftlichen Avantgarde hineingedrängt werden. Und im gleichen Maße, wie die Zapatistas darauf ange­wiesen sind, daß sich die Aufstandsbewegung in den sozialen Kämpfen verall­gemeinert, müssen sie immer wieder darauf beharren, daß es nicht ihre Aufgabe sein kann und darf, solche Kämpfe zu initiieren, geschweige denn anzuführen. Gerade die relative politische Reife der zapatistischen Bewegung kann so auf Dauer ein Hindernis sein, ein Gleichgewicht zwischen den sozialen Bewegungen herzustellen, das unabdingbar ist für die Radikali­sierung der sozialen Bewegun­gen und Klassenkämpfe in ganz Mexiko. Das praktische und taktische Verhalten der Zapatistas − zumindest ihrer Führung − zeigt freilich, daß sie sich dieses Dilemmas bewußt sind: das Schicksal der zapatistischen Revolution liegt in den Händen jener Bewegungen und Kräfte, die in der Spra­che der Zapatistas die Zivilgesellschaft bilden. Eine zapatistische Revolution in ganz Mexiko wäre ein Prozeß von Kämpfen und Bewegungen, in denen ver­schiedene einzelne Bewe­gungen ihre eigene Autonomie durchsetzen und ver­teidigen und in denen die Zapatistas als eine Bewegung neben anderen aufgeho­ben wären.

Bereits zu einem früheren Zeitpunkt haben wir hervorgehoben, daß schon der praktische Versuch, diese Elemente einer neuen revolutionären Praxis auch nur in Ansätzen Wirklichkeit werden zu lassen, von geschichtlicher Bedeutung ist. Im geschichtlichen Maßstab und in politisch-revolutionä­rer Hinsicht liegt die Bedeutung von Kämpfen und Bewegungen nicht in der buchhalterischen Bilanz ihrer Erfolge oder zur Macht gewordenen sogenannten Errungenschaften, son­dern in dem Maß an kollektiver Klassenerfahrung, das daraus entsteht und das immer weit über die Grenzen einer einzelnen Bewegung hinausgeht. So gesehen hatte die zapatistische Bewegung schon wenige Monate nach Beginn des Auf­standes viel mehr an Fragen, Einsichten und Perspektiven aufgeworfen, als in der jetzigen Phase im internationalen Maßstab zu verarbeiten ist. Wenn wir das Neue an der zapatisti­schen Bewegung hervorheben, dann auch um verständlich zu machen, weshalb dieser nur scheinbar lokal begrenzte Aufstand international so viel an Sympathie und zunächst einmal an Überraschung hervorgerufen hat: Es ist eine Bewegung, die exemplarisch Vergangenheit und Zukunft in der Ge­gen­wart der geschichtslosen Neuen Weltordnung verknüpft und ebenso exemp­larisch in ihrer eigenen Sprache und Symbolik das Bedürfnis nach Kom­munis­mus artikuliert.

II. Der Zwang zur Taktik und das Gespenst der Bündnispolitik

Die Grenzen der Aufstandsbewegung wurden ihr von außen gezogen. Der Auf­stand vom Januar 1994 war als Fanal gedacht, als Funke, der in ganz Mexi­ko einen Steppenbrand auslösen würde; aber er wurde an den Grenzen von Chiapas gestoppt, auch wenn das plötzliche Auftauchen dieser Bewegung der mexikani­schen Innenpolitik eine völlig neue Qualität der sozialen Konfrontation zuführte. Das Dilemma der Zapatistas bestand und besteht immer noch darin, daß sie zwar zur weiteren Erschütterung der PRI-Macht beitragen, daß aber eine soziale und politische Bewegung, die nicht nur diese Macht zum Einsturz bringen kann, sondern auch eine revolutionäre gesellschaftliche Alternative hervorbringt, ausbleibt. Wir halten es deshalb für einen Irrtum, die aus dieser Situation notgedrungen entwickelte Taktik, die verschiedenen Versuche von Bündnispoli­tik mit verschiedenen sozialen und politischen Kräften, als Ausdruck einer konkreten und kohärenten Strategie anzusehen. Ganz im Gegenteil zeigt die Doppel­gleisigkeit der Zapatistas in der Bündnispolitik, daß sie auf der einen Seite alles versuchen, um ihr Terrain zu verteidigen, aber andererseits auch die zeitweiligen Bündnispartner mit den Maßstäben ihrer eigenen Bewegung kritisie­ren und herausfordern.

Diese Kritik kommt in dem wiederholten Appell an die sogenannte Zivilge­sellschaft zum Aus­druck, Appelle, die auch als Aufruf zu verstehen sind, die in der zapatistischen Bewegung praktizierte Kritik der Politik umzusetzen, und unterhalb der Ebene von Staatlichkeit und Politik Prozesse von Selbstorganisie­rung (Autonomie) voranzutreiben, die im übergreifenden Sinne gesell­schaftli­chen Charakter annimmt. In einer anderen Sprache heißt das: der Klassenkampf wird politisch, wenn Klasse gegen Klasse steht. Zivilgesellschaft mag eine Konzession an die postmoderne Mode­sprache sein, aber im politischen System Mexikos kommt diesem Ausdruck eine ziemlich klare Bedeutung zu: denn nur in wenigen Ländern ist der Herrschafts- und Korruptionscharakter der verselb­ständigten politischen Apparate so handgreiflich wie in Mexiko, wo die jahr­zehntelange Herrschaft der PRI ein scheinbar unendlich flexibles System von Integrations­mechanismen geschaffen hat, dem etliche Ansätze revolutionärer Parteien oder auch Guerillas zum Opfer gefallen bzw. in die Arme gelaufen sind. Sich auf dieser Ebene der politischen Macht entgegenzustellen, bedeutet schon im Ausgangspunkt, ihre Spielregeln und damit ihre Hegemonie zu akzep­tieren. Dazu gehört ins­besondere der Antiimperialis­mus (gegen die USA) als Legitimations­ideologie, sowie die schon seit 1968 verblassenden Mythen der mexikanischen Revolution − die aber als sozialer Mythos bei den Campesinos, proletarischen Schich­ten und teilweise den Indígenas prägend geblieben sind: nämlich als sozialer Mythos einer in der Staatsmacht erstarrten, verratenen, enteigneten oder schlicht unvoll­endeten Revolution. Mit dem besonderen Hinter­grund des eigenen historischen Bewußtseins der Indígenas, ihren kollektiven Mythen vom fünfhundertjährigen Kampf, vermittelt sich dieser Appell an die sozialrevolutio­näre Tendenzen historischer Kämpfe in der Propaganda der Zapa­tistas für eine Demokratie, die als Volkssouveränität und gesellschaftliche Autonomie interpretiert wird, wie es Generationen proletari­scher Bewegungen immer getan haben, ohne dabei auch nur einen Funken Illusionen in die bürger­li­che Politik gehabt zu haben.

Diese, europäische Beobachter oft befremdenden Elemente in der zapatisti­schen Propaganda sind in Wahrheit ihre stärksten: sie rufen zum Bruch mit der Politik auf, ohne den Herrschenden die Symbole einer revolutionären Befreiung zu überlassen. Die Übergabe der mexikanischen Fahne an die Delegierten des CND hatte diese symbolische Bedeutung − den Herrschenden ihre ideologische Legitimation zu entwenden und den eigenen Kampf auch als Kampf für ein histo­risches Selbstbewußt­sein zu führen, der unter den heutigen Bedingungen einer jahrzehntelangen Unterwerfung ein Ende bereitet. Demgegenüber zeigen sich freilich die gesellschaftlichen Kräfte, an die die Zapatistas appellieren, noch immer mehr oder weniger unfähig, der Politik und damit der Integration in die Mechanismen der Macht ein Ende zu bereiten. Dennoch sind diese Appelle nicht immer vergeblich, ihre Wirkung zeigt sich nur nicht in abrupten Brüchen, sondern in weitverzweigten Auflösungs­prozessen der politischen Macht (so wie der Einfluß der zapatistischen Bewegung auf die soziale Basis auch der PRD in der Region eher größer geworden ist als die Kontrolle der Partei mithilfe des üblichen Klientelwesen.) Jeder Schritt, den die Zapatistas in der Bündnispolitik unternommen haben, ist deshalb nicht nur notgedrungene Maßnahme in einer Kampf­situation militärischer und politischer Defensive, sondern auch ein Vor­antreiben jenes langwierigen − und offensichtlich unerwartet zähen − Prozesses, in dem die sozialen Bewegungen und Organisationen in Mexiko erst nachholen müssen, was sich innerhalb der zapatistischen Bewegung (ebenso langwierig) herausgebildet hat.

Auch die Gründung der FZLN, die ja schon in der Frage der Consulta angelegt war, ob sich die EZLN in eine unabhängige politische Kraft verwan­deln solle, ist unserer Meinung nach nur in diesem Verhältnis von Eigenständig­keit, Taktik und Bündnispolitik zu verstehen und zu beurteilen. Einerseits weist diese Paarung von EZLN und FZLN auf das traditionelle Schema nationaler Be­frei­ungsbewe­gungen hin; sie legt auch den Verdacht nahe, hier käme die EZLN unausgesprochen der Forderung des PRI-Regimes entgegen, sich in eine politi­sche Partei zu verwandeln. Aber im gleichen Zug, in dem zur Bildung FZLN auf­gerufen wurde, wurden Regeln für die Mitgliedschaft vereinbart, die jedes Auftreten als Partei auf den Ebenen der herrschenden (und beherrschten) Politik unter­binden: so zum Beispiel in dem Verbot, politische Mandate anzu­nehmen. Welche praktische Bedeu­tung der Bildung der FZLN zukommt, wird die Zu­kunft zeigen.

III. Das Kräfteverhältnis in der jetzigen Phase

Entscheidend für die Beurteilung und Bewertung dieser Bündnispolitik ist jedoch, ob sie schwer­wiegende Rückwirkungen auf die inneren Verhältnisse der zapatistischen Bewegung hat. Davon ist nichts zu erkennen. Der Eindruck, den wir bislang gewinnen konnten, ist eher vom Gegenteil geprägt: von einer unver­ändert starken Anbindung der Repräsentanten der Bewegung an die sozialen Basis­organisationen und darüber hinaus eine so einfache wie klare Entschieden­heit der zapatistischen Gemeinden, nicht hinter den erreichten Stand zurück­zugehen. Ohne diese Entschieden­heit der eigenen Basis wäre auch die politische Grenze des Regimes undenkbar: nicht daß die Zapatistas rein militä­risch nicht zu besiegen wären; sie sind derzeit aus politischen Gründen militä­risch nicht zu besiegen − denn der offene Krieg würde den zwar langsamen, aber tiefgreifen­den Erosionsprozeß der politi­schen Macht enorm beschleunigen. Noch immer besteht für das PRI-Regime die Gefahr, daß ein solch offener Krieg doch den Steppen­brand entfachen könnte, auf den der Aufstand vom Januar 1994 ver­geblich warten mußte.

Dennoch stellt der Krieg niedriger Intensität, der stattdessen auf allen Ebe­nen geführt wird, mehr als nur einen permanenten Belagerungszustand dar. Die sich dahinschleppenden Verhandlun­gen, in denen sich weder Substanzielles ergeben hat, noch ergeben wird, finden nicht zwischen einander gegenüber­stehenden feindlichen Lagern statt: die zapatistischen Gemeinden stehen unter ständiger militärischer Bedrohung und Kontrolle, und statt befreiter Gebiete gibt es höchstens ein toleriertes staatsfernes Terrain, das den Gemeinden für die Dauer der Verhandlungen eingeräumt wird. Es ist bislang nicht entschieden, für welche der beiden Seiten die Zeit arbeitet. Daß es aber überhaupt noch einen Handlungs­raum und damit auch einen gewissen zeitlichen Rahmen für die Revo­lution niedriger Intensität gibt, ist einzig und allein ein Resultat der militä­rischen Defensive, die die EZLN für sich als operativen Grundsatz bestimmt hat − und zwar nicht aus militär-taktischen, sondern aus politischen Gründen. Denn der offene Krieg stellt nicht nur für die PRI, sondern auch für die EZLN ein erhebli­ches Risiko dar, vor allem eine aufgezwungene Militarisierung der Bewegung, der alles zum Opfer fiele, was wir als die neuen Elemente einer revo­lutionären Praxis beschrieben haben. Im Krieg Anfang 1994 hat die EZLN diese Erfahrun­gen bereits unter den erbärmlichen Bedingungen des Rückzugs machen müssen, die zeitweilig einen durch die Not diktierten Rückschritt in der eigenen Praxis mit sich brachten.

Daß die Zeit ein strategischer Faktor ist, weiß auch das Regime, und es hat die militärische Defensive der EZLN dazu benutzt, um mit dem Alltagsregime von Repression und Korruption alle Bewegungen in Chiapas − die nur zum Teil unmittelbar mit der zapatistischen Bewegung verbunden sind − auch in eine soziale Defensive zu treiben: Repression durch das brutale Ende, das vom Militär den Landbesetzungen bereitet wurde; Korruption insbesondere durch den Versuch, mit Versprechun­gen unmittelbarer Konzessionen Bündnispartner der Zapatistas zum Bruch mit der Aufstandsbewe­gung zu bewegen. Der zeitweilige Erfolg, den das Regime damit hatte, weist auf die Gefahren für die Aufstands­bewegung und die mittelfristigen Ziele des Regimes hin: in allen Verhandlungen und in der öffentlichen Propaganda versucht die PRI, den Aufstand zu regionali­sieren, ihm seine politische Spitze, die auf das Herz der Staatsmacht in Mexiko-Stadt zielt, abzubrechen. Programm und Praxis sozialer Autonomie sollen umgedreht werden zur regionalen Autonomie eines indigenen Homelands. Welche Mittel dem mexikanischen Staat dafür real zur Verfügung stehen, welchen ökonomischen und politischen Preis er dafür zu zahlen in der Lage ist, können wir nicht genau genug beurteilen. Auch wenn die zapatistischen Gemein­den davon wenig beeindruckt sein werden, könnte so eine Ein­kreisung statt­finden, die den Aufstand als Kampf für die unmittelbaren Bedürfnisse isoliert, weil dann die Alternative nur noch lauten würde: Minimale ökonomisch-soziale Hilfe oder offener Krieg.

Dieser Gefahr arbeitet die EZLN ausdauernd entgegen. Daß die Vertreter der Zapatistas immer noch in den Verhandlungen zäh an den über Chiapas hinaus­reichenden gesellschaftlichen und politischen Forderungen festhalten, ist dabei nicht abstrakte Prinzipientreue oder nur Sabotage des Dialogs mit der Macht; es ist die einzige Weise, in der die EZLN − übrigens sehr realpolitisch − den wirklich angestrebten Dialog mit den sozialen Bewegungen außerhalb Chiapas offen hält. So bleibt es bei einer grundsätzlich instabilen Situation, die nicht ewig fortdauern kann und in der alles darauf ankommt, ob die Revolution niedriger Intensität in gesamt Mexiko sich schneller ausbreitet als der Krieg niedriger Intensität in Chiapas. Und es bleibt dabei, daß zwar die soziale Polari­sierung in gesamt Mexiko spürbar zugenommen hat, daß die Entschiedenheit des zapatistischen Widerstands diese Polarisierung politisch fördert und den Basis­organisationen einen gewissen, wenn auch oft nur symbolischen Orientierungs­punkt bietet, daß aber kein übergreifender Prozeß gesellschaftlicher Selbst­organi­sation erkennbar ist, in dem das mexikanische Proletariat in einer gemein­samen Bewegung die Staatsmacht zerstören könnte. In dieser Phase ist für die Zukunft fast alles denkbar, im schlimm­sten Fall eine soziale Implosion, in der das herrschende System alternativlos in sich zusammensackt und der soziale Krieg die offen militärische Form autoritärer Lösungsversuche annimmt. Gemes­sen an der weder euphorisch noch pessimistisch zu bestimmenden offenen Situation nimmt sich die aus der Not geborene Taktik der Zapatistas fast schon wie eine politisch ausgereifte Strategie aus, die dem jetzigen Kräfteverhältnis und den wirklichen Klassenkampfverhältnissen in Mexiko angemessen ist und die Zeit als strategischen Faktor ernst nimmt. Aber auch dieser Eindruck stellt die tatsächli­chen Verhältnisse auf den Kopf: nicht ein überlegter strategischer Plan − einer nach politischer Kontrolle greifenden Führung − liegt der Taktik der Zapatistas zugrunde, sondern einzig und allein die Ent­schiedenheit ihrer eigenen sozialen Basisorganisationen, jeden gesellschaftlichen Dialog als Ergeb­nis des unmittel­baren Bruchs mit der Macht zu begreifen und zu führen.

IV. Der internationale Kontext und die Grenzen unserer Solidaritätsarbeit

Erklärtermaßen haben wir es schon seit den ersten Aufrufen und Mitteilun­gen im Frühjahr 1995 abgelehnt, unsere eigene Intiative als ein weiteres Ditte-Welt-Solidaritätsprojekt zu bestimmen oder bestimmen zu lassen. Wir wollten damit nicht die bisherigen Solidaritätsprojekte − insbesondere der Lateinamerika­grup­pen − herabsetzen, sondern die Richtung unserer eigenen Initiative bestim­men: sie sollte der Richtung des zapatistischen Aufstandes selber folgen − vom lakandonischen Urwald nach Mexiko-Stadt, von Mexiko-Stadt in alle Welt, die USA und auch zu uns. Solidaritätsarbeit sollte unserer Überzeugung nach ein Bestandteil der hiesigen politischen Praxis sein, und die Informationen über die zapatistische Bewegung könnten − so hofften wir wenigstens − hier und dort auch prakti­sche Übersetzung in Aktionen hier finden. Dieser Aufgabenbestim­mung von Land und Freiheit lag als eine zentrale These zugrunde, daß die internationalen Klassenauseinandersetzungen und Befreiungs­bewegungen immer weniger von den Unterschieden zwischen der sozialen Lage in den Metropolen und der sogenannten Dritten Welt als vielmehr von der Angleichung der Kampf­situationen geprägt werden. Daß der Aufstand der Indígenas so plötzlich eine zumindest politisch-sprachliche und symbolische Vermittlung fand, lag auch an der Modernität des Schreckens, den der Kapitalismus über Chiapas gebracht hat, an der Konfrontation zwischen zwei Welten, aus der etwas für uns Neues hervorging. Trotzdem war und ist uns der Unterschied klar, daß es dort zwar auch um einen Kampf von Proletarisierten gegen die Unterwerfung unter und gegen die Integration ins Kapital geht, aber daß dies ein anderer Prozeß ist als der von Menschen, die sich − wie hier in den Metropolen − zunächst gegen die kapitalistische Desintegration wehren und ihre moralischen Maßstäbe von sozialer Gerechtigkeit zumindest im ersten Schritt der Staatlichkeit kapitalisti­scher Wohlfahrt entnehmen. Im Weltmaßstab begegnen sich so, ebenso wie im Mikromaßstab von Mexiko und Chiapas, zwei Welten unterschiedlicher Ge­schwindigkeit, und zwar durchaus auch als Konfrontation. Diese Konfrontation herbeizuführen, halten wir selber für notwendig: damit nicht die eine Bewegung Modell für die andere wird, sondern aus ihrem Aufeinandertreffen die gemein­samen Möglichkeiten und damit auch die Schwäche des einen und einzigen Feindes durchschaubar werden.

Wir glauben, daß diese Erfahrung in den Köpfen vieler Menschen, die mit Neugierde und Sympathie die Ereignisse in Chiapas und ganz Mexiko verfolgt haben und weiter verfolgen, tatsäch­lich gemacht wird und daß die Ahnung dieser Gemeinsamkeiten dem eigenen Verhalten und Alltagsleben weit voraus ist. Daß sie sich nicht unmittelbar in Aktion umsetzt, bedeutet nicht, daß sie wirkungslos bleibt. Eher speichert diese Wahrnehmung selbstbewußter Kämpfe − die der eigenen Situation immer näher rücken −, und in dieser Kette sind Aufstands­bewegungen wie die in Chiapas und etwa der Massenstreik in Frank­reich nur zwei auseinanderliegende Glieder − schon Bilder einer vorweggenom­menen eigenen Zukunft und ihrer Möglichkeiten. Das ist Utopie im Zustand ihres Konkretwerdens. Unsere eigenen Initiativen sind dieser Entwicklung immer um einen oder mehrere Schritte voran, greifen voraus, auch daneben, machen Vorschläge − und sind dabei doch realistisch: weil sie immer wieder die Realität danach befragen, wieweit sie mit der Ausarbeitung ihrer eigenen Ahnungen vorangekommen ist. Wenn unsere Erwartungen nicht erfüllt wurden, dann legen wir das deshalb nicht als bloße Illusion ab. Aber wir stellen uns, wie allen anderen, die in der Solidaritäts­arbeit beteiligt sind, die Frage, inwieweit wir tatsächlich dem Bedürfnis nach Autonomie, wie es in den wirklichen Menschen hier vorhanden ist und wirkt, auch Sprache und Bilder gegeben haben.

Diese für uns entscheidende Frage können wir nicht beantworten; wir schauen nur selbst­kritisch auf die diversen Szenen, in denen wir uns zum Teil bewegen, die nur im Zustand der mobilisierten Selbstisolierung politisch werden können und damit häufig genug unter den hiesigen Bedingungen das erschre­kende Bild der mexikanischen Linken reproduzieren, das die Zapatistas mit beeindrucken­der Entschiedenheit demontieren. Zwischen zwar geduldiger Solida­ritätsarbeit (von hier nach dort), die Informationen und Hilfsmittel transportiert, aber mehr die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten betont, und einem ab­strakten Internationalismus ohne Unterschied und wirklich lebendiger, hörbarer und fühlbarer, also erlebbarer Gemeinsamkeit − zwischen diesen extremen Polen der Solidaritätsarbeit sehen wir zur Zeit nur ein Meer noch anonym bleibender Menschen, die zwar nach ihren Bedürfnis­sen befragt werden wollen, aber den Mund verschließen, aus dem allein sich die neue Sprache und der Klang einer befreienden Zukunft bilden können. Ob wir zuhören können oder es auch noch lernen, ob wir unsere eigene Wahrnehmung so verändern, daß wir davon heute im Alltag − und nicht unbedingt in den großen politischen Kampagnen, die oft ihren eigenen Inhalt übertönen − schon etwas knistern hören, − davon wird abhängen, inwieweit Internationalismus seinen Namen wirklich verdient.

Wir wollen niemand schelten und uns nicht bußfertig ins Ritual der Selbst­kritik zurückziehen. Im Gegenteil ergibt sich für uns aus dieser wohl noch länger offen bleibenden Frage die Notwendig­keit, die angefangene Arbeit fortzusetzen; freilich erst einmal nur mit der weiteren Herausgabe von Land und Freiheit, und zwar in der uns möglichen Form. Wir werden uns wie bislang, sogar noch verstärkt, darum bemühen, den weitgestreuten Kreis der LeserInnen − auch darunter gibt es viele noch ver­schlossene Münder − zu verbreitern, ohne aber an unserer grundsätzlichen Orientierung auch nur einen Deut zu ändern. Weiter werden wir Land und Freiheit vor allem als Informationsmittel für alle an der Solidaritätsarbeit Beteiligten begreifen und deshalb auch an dem Aus­tausch und der Diskussion der verschiedenen Gruppen teilnehmen. Nur werden wir noch stärker als früher, bei uns wie bei anderen, darauf achten, daß wir von unserer eigenen Praxis hier ausgehen und darüber auch Ausein­andersetzungen führen wollen. Gerade weil wir in der Solidaritätsarbeit deutlicher als befürch­tet gesehen haben, wieweit die Niveaus von Bewegungen wie der zapatistischen und unserer ausein­anderliegen, fangen wir bei unserer Praxis selber an.

Das gilt nicht zuletzt auch für Momente, in denen wir Vorbehalte und Kritik an den Zapatistas äußern. Von einer traditionellen Haltung der Nichteinmischung halten wird nichts; gerade die internationale Bedeutung des zapatistischen Auf­standes verpflichtet zur Kritik. Aber diese kann und darf nicht in Allgemein­heiten revolutionstheoretischer Art steckenbleiben, sie muß im ersten Schritt eine selbstkritische Überprüfung der eigenen Maßstäbe einschließen. Wir sehen keinen Grund darin, die zapatistische Bewegung zu verherrlichen und die reale Rück­ständigkeit im Emanzipationsprozeß zu beschönigen. So macht ein zapati­stisches Programm − wie das im Gesetz der Frauen − noch keine Befreiung von Herr­schafts­verhältnissen aus; nur das praktische Verhalten zu den programmati­schen Zielen ist das Kriterium der Bewertung. Selbstkritische Aussagen sind ebenfalls nichts-sagend, wenn nicht die dauernde Anstrengung sichtbar wird, die Grenzen des eigenen Verhaltens und Handelns zu überschreiten. Wir werden uns auch nicht damit begnügen, auf die objektiven Bedingungen zu verweisen, um die Unvermeidlichkeit von emanzipatorischen Rückschritten zu begründen. Objek­tive Bedingungen gibt es nur vor und nach der Anstrengung, sie zu ver­ändern. Alles in allem kommen wir aber in fast allen kritischen Fragen zu dem Schluß − und damit zu der vorläufigen Bilanz − daß die Zapatistas sich genau in dieser Weise ihren Problemen stellen und daß sie genau dort, wo sich ihnen scheinbar unveränderbar objektive Handlungsgrenzen entgegenstellen, gesell­schaftliche Kampf- und Kräfteverhältnisse thematisieren und jene zur Verände­rung aufrufen, die dies auch können. Das gilt für die sozialen und politischen Oppositions­bewegung in Mexiko außerhalb Chiapas; und das gilt für den inter­nationalen Zusammenhang.

Internationalismus heißt in dieser Situtation nicht nur, daß wir die Aufrufe aus dem lakando­nischen Urwald als Appell an unser eigenes Handeln verstehen. Es heißt auch, im selben Maße, wie wir unsere eigenen Möglichkeiten − hier, in dieser kapitalistischen Metropole − einschätzen und wahrnehmen können, Bewe­gungen wie den Zapatistas ein realistisches Bild von den sozialen Ausein­an­dersetzungen und Kräfteverhältnissen hier zu vermitteln. Wir haben einige Zweifel daran, ob diejenigen Teile der Linken, die sich zeitweilig sehr aktiv an der Solidaritätsarbeit beteiligt haben, dieser Aufgabe gewachsen ist. Jedenfalls glauben wir nicht, daß die Zapatistas oder andere Befreiungs­bewegungen auf Dauer ein klares Bild von den Verhältnissen in den kapitalistischen Metropolen gewinnen können, wenn sie sich auf Einschätzungen stützen müssen, in denen der konkrete Zu­sammenhang von Klassenkampf und Emanzipation nicht (mehr) hergestellt wird. ■


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