Wildcat-Zirkular Nr. 34/35 - März 1997 - S. 1-7 [z34edito.htm]


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Statt eines Editorials...

»Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.« Nö, diesmal hab ich nicht Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« dabei, während ich auf dem Arbeitsamtsflur warte - und in meiner langen Karriere als Arbeitsloser bin ich auch erst bis zum Band 5 des 14bändigen Kolossalschinkens vorgedrungen... aber heute habe ich keine Zeit zum Weiterlesen (außerdem bin ich schon seit einiger Zeit nicht mehr früh schlafen gegangen), denn die Zirkular-Endredaktion ist verdammt nahe gerückt und der Umfang quillt mal wieder aus allen Fugen. Da hat mir gerade noch gefehlt, daß mich mein Sachbearbeiter schon wieder sehen wollte!

Mal sehen, was bereits fertig ist. Zwei Übersetzungen von John Holloway: Vom Schrei der Verweigerung zum Schrei der Macht: Zur Zentralität der Arbeit und Krise, Fetischismus, Klassenzusammensetzung. Die fast 50 Seiten müssen auch erstmal verdaut werden. Jemand hätte dem John mal sagen sollen, daß sich die beiden Texte in vielem überschneiden, ein Text wäre mehr gewesen. Aber du hast mit den beiden Texten einen guten Überblick über die marxistische Diskussion - und eine Vorstellung davon, wie eine »Theorie gegen die Gesellschaft« nicht nur immer weiter die Niederlagen im Klassenkampf erklärt, sondern die (gewachsene) Brüchigkeit des kapitalistischen Verwertungsprozesses rausarbeitet. Seine grundlegende Kritik macht die aktuelle Situation als tiefe Krise des Kapitals und als historisch offen deutlich - alles andere als ein triumphaler Durchmarsch des Kapitals! Aber so nützlich seine Texte sind, er kann oft den eigenen Anspruch nicht einlösen. Seine Kritik am Feminismus z.B. arbeitet einige wichtige Punkte heraus, aber letztlich versteckt er sich hinter abstrakten Begriffen. Ganz ähnlich läuft es bei seiner Kapital-Staat-Globalisierungs-Kritik: Einerseits entwickelt er in »Capital moves« (Zirkular 21) einen superguten Einstieg in die Entstehung des Kapitals überhaupt, und fällt dann in »Globales Kapital und Nationalstaat« (Zirkular 28/29) selber wieder auf den Staatsfetisch rein: Nationalstaaten als »Staubecken«, kein Wunder, daß dieser Text im Prokla abgedruckt wurde! Und ausgerechnet diese Metapher hat dann KH Roth kritiklos übernommen! Ich atme ja immer auf, wenn er in den Texten selber die Frage einstreut, warum uns die von Ihm ausgebreitete Diskussion überhaupt interessieren soll. Aber damit weckt er Erwartungen, die er auf dieser Ebene nicht recht einlösen kann...

Ich schrecke aus meiner Lektüre hoch: Zwei festgeschraubte Sitze links von mir sitzt ein Mann mit langen Haaren, Lederjacke und spitzen Stiefeln und schimpft; er liest gerade das letzte Zirkular und das Titelbild stinkt ihn mächtig an: »LSD für die Arbeiterklasse«, was soll denn das?? Versteht das hier einer??« Schnell finden sich ein paar sachkundige Drogenexperten, allgemein überwiegt die Meinung, daß Platzgründe ausschlaggebend gewesen sein müssen, Ecstasy hätte ja noch einen Sinn ergeben von wegen Euphorie oder so, aber LSD?? Man einigt sich schließlich, daß die UrheberInnen dieses Titelbilds wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben LSD ausprobiert haben.

Ich arbeite mich derweil durch weitere Beiträge: »Über Antikapitalismus«. H. aus Freiburg stellt komplizierte Überlegungen an: »Die Akkumulation, also die Selbstvermittlung des Kapitals mit sich selbst, zieht ihren Kreis immer enger...« Ich bin versucht, es meinem Nachbarn gleichzutun und in die Runde zu rufen: »Hallo, versteht das hier einer?« Ich hoffe nur, die LeserInnen machen nachher nicht wieder uns für die vielen Fremdwörter und den unklaren Ausgang verantwortlich, so wie jener Jurist aus Bremen, der neulich sein Abo kündigte, weil er nicht »dauernd ein Fremdwörterlexikon neben sich liegen haben will, wenn er das Zirkular liest.« Starker Tobak für einen hanseatischen Akademiker!

Inzwischen ist der Kollege weiter vorn in der Schlange mit seiner Lektüre weitergekommen und hat sich das Editorial vorgeknöpft. Hier fällt seine Kritik vernichtend aus: das sei ne Karikatur, er liest auszugsweise vor: »'Wie üblich sind wir längst nicht mit allem einverstanden ... längst überfällige Diskussion und Untersuchung ... schon mal einige Thesen veröffentlicht ... noch in der Diskussion ... nach wie vor keinen neuen politischen Vorschlag ... zunächst weiter vor allem Materialsammlung.'- Und dann mal kurz was zu Hirsch und Co, Bourdieu, Holloway, Operaisten, Negri ... auf einer Seite! Was sollen wir LeserInnen mit so was anfangen?«

(Der Mann lebt schon lange in Kreuzberg, er beherrscht das große »I« auch im gesprochenen Wort.)

»In Ehrfurcht vor den SchreiberInnen erstarren? Oder sich heimisch fühlen, weil wir irgendwie alle nach Bonnies Ranch gehören?« grinst sein Nachbar zur Linken verschmitzt mit drei nikotingefärbten Zahnstummeln.

Ich versuche mich zu konzentrieren: Morgen früh ist Drucktermin, die Übersetzungen sind noch nicht durchgesehen, die Hamburger wollten ihren Bericht zum Hafenkrankenhaus nochmal überarbeiten: Hurra wir werden besetzt! In Hamburg kann man wohl nicht vors Haus gehen, ohne den superkorrekten Arbeiterstandpunkt angelegt zu haben - scheint irgendwie schon n interssantes Städtchen zu sein, aber irgendwo auch echt s-teif! Währenddessen geht das Gespräch munter weiter, der Kollege sucht jetzt nach den Rosinen und hat sich zum Selbständigen-Artikel von Sergio Bologna vorgeblättert.

»Da bringen die den meistzitierten Klassiker über die neuen Selbständigen, und erwähnen das im Vorwort mit keinem Wort! Allerdings weiß ich nicht so richtig, warum das alle so toll finden, ich hab das Ding damals schon in Italienisch gelesen und mich deshalb immer gefragt, warum sich da alle darauf beziehen, ob sie es denn überhaupt gelesen haben, oder ob sich alle auf das Hochloben von KH Roth verlassen haben...«

»Aber einen Riecher hatten die Wildcats da schon: den ollen Artikel haben sie »just-in-time« nachgedruckt: Ich hatte das Zirkular gerade im Briefkasten, als die LKW-Fahrer in Spanien in den Streik gegangen sind!« wirft eine schräg gegenüber sitzende Frau mit grünem Iro und Minirock (12 Grad Höchsttemperatur!) ein.

»Ach was, Ihr habt jetzt sogar Briefkästen in der Wagenburg?« höhnt der Mann mit den Zahnstummeln.

»Schnauze, Alter! ...«

Und da soll man sich konzentrieren! Zwei Zirkular-AbonnentInnen in einer Schlange beim Arbeitsamt! Ich bin zwar auf dem Arbeitsamt IV in der Charlottenstraße in Kreuzberg arbeitslos gemeldet und von daher einiges gewohnt, aber daß gleich zwei vor mir in der Schlange das Wildcat-Zirkular lesen... hätte ich gar nicht gedacht, daß wir mit unseren theoretischen Anstrengungen schon so weit ins arbeitende, Pardon: arbeitslose Proletariat vorgedrungen sind! Und dann diskutieren sie noch genau über das Thema des Artikels, den ich gerade zu redigieren versuche: Der LKW-Fahrerstreik in Spanien im Februar 1997

»Das ganze Gehubere um die neuen Selbständigen geht mir total auf den Senkel!« meldet sich ein etwas steif sitzender Mittvierziger zu Wort, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte und sich auch bei der allgemeinen Diskussion um LSD oder Ecstasy nicht beteiligt hatte. »Ich komme aus Bremen und da haben sie ein riesen Programm aufgelegt und den ganzen Vulkanesen, die jetzt arbeitslos werden, den Gang in die Selbständigkeit in den höchsten Tönen empfohlen, haben die beraten usw., letztenendes richtig bedrängt!«

»Aber in einem hat Bologna doch recht: er setzt dem ganzen Gedöhns, von wegen 'der Kapitalismus ist nicht mehr, es lebe das neue kreative Unternehmertum!' so n paar Wahrheiten entgegen: Die sogenannten Selbstständigen sind in Wirklichkeit genauso direkt ans Unternehmerkommando gebunden wie ein lohnabhängiger Arbeiter...« meldet sich der italienischkundige Zirkularleser wieder zu Wort.

»Ich bin neulich mal nachts zwei Stunden lang zu Fuß durch Berlin gelaufen. Das ist irre, in den dunkelsten Winkeln sind morgens um 3 Uhr die ganzen Dönerbuden noch geöffnet, da hängen zwei hinterm Tresen und warten drauf, daß vielleicht alle Stunde mal ein Taxifahrer vorbeikommt. Das find ich ganz schön traurig, da fliehen sie vor der Fabrikarbeit und landen bei 24 Stunden rund um die Uhr-Maloche mit oft minimalem Einkommen. Die meisten gehen ja sowieso im ersten Jahr schon wieder bankrott!« weiß die Miniberockte zu berichten.

»Geh mir doch weg mit den Selbständigen, entweder sie beuten den gesamten Familienanhang für umme aus oder es sind übelste Kleinunternehmer!« höhnt der Kunde mit Bonnies Ranch-Erfahrungen. »Mit ganz wenigen Ausnahmen! Denn entweder du packst es in kurzer Frist, einen oder zwei Leute für dich arbeiten zu lassen, oder du gehst bankrott. Nur ein ganz kleiner Teil von denen bleibt doch wirklich ein selbständiger Einmann-Betrieb! Die ganze Steuerscheiße und so ist doch so zugeschnitten, daß du Leute einstellen mußt, du mußt Ausbeuter werden...«

»Nun, Bologna hat sich vor allem mit dem Fahrerbereich beschäftigt, das ist ja seit Anfang der 70er immer sein Steckenpferd gewesen, und da trifft es möglicherweise schon zu, daß ein großer Teil der Fahrer Selbständige sind.« insistiert der Zirkular-Abonnent I, »Und dann ist Italien was das betrifft sowieso ein ganz anderer Fall als die Be-Er-De. Nur in Spanien soll es noch mehr selbständige Fahrer geben.«

Ich schwitze währenddessen über dem Artikel: der Autor hatte mal wieder sämtliche Hypothesen der letzten Jahrzehnte reingepackt, wie soll man da einen lesbaren, spannenden Bericht draus machen?? Dabei ist das unter den selbstgeschriebenen Artikeln diesmal eigentlich unser Hauptbeitrag, der aus den Widersprüchen dieses Streiks in Spanien die momentanen Grenzen im Klassenkampf aufzuzeigen versucht, aber auch die potentielle Arbeitermacht, die in der weiteren Globalisierung und Vergesellschaftung des Kapitals steckt.

»Guck dir doch die ganzen Versuche an, die angestellten Fahrer zu selbständigen zu machen. DPD, German Parcel, UPS... in ganz kurzer Frist sind das dann alle Subunternehmer, die zwei, drei Leute für sich fahren haben.« muffelt der Dreizähnige und ich vermute so langsam, daß er selber so ne Geschichte hinter sich hat. »Das ist ja auch die einzige Perspektive, mit der sie einen ködern können, 14 Stunden und mehr am Tag reinzuhauen. 'Wenn ich mich schon quälen muß, dann für mich!' Das ist doch die Parole von denen, die auf den Leim der Selbständigkeit gekrochen sind und da ne Perspektive für sich sehen...« setzt er nach - und mein Verdacht wird fast zur Gewißheit, aber ich darf mich jetzt bloß nicht ins Gespräch einmischen, so interessant das wäre, denn der Berg Papier in meinen Händen muß bis heute abend durchgearbeitet sein, selbst dann wird es noch eine harte Nacht, die ganzen Korrekturen einzuarbeiten, das Zeug zu formatieren und auszudrucken. Also weiter: Wenn die Sitze fehlen, bleiben nicht nur die Streikposten stehen. Schön kurz, wenig Tippfehler, wunderbar - weiter! Aber da holt mich wieder die Debatte um mich herum ein. Ein Enddreißiger mit Ohrring und Stirnband, der vorhin recht lebhaft in die Drogendiskussion eingegriffen hatte, seither aber dieses überlegene Grinsen der Alt-Kiffer gepflegt hatte, mischt sich wieder ein:

»Ich habe jedenfalls in letzter Zeit nur noch in Kleinbetrieben gearbeitet! Ist ja auch kein Wunder, wenn ich mir angucke, wie viele größere Betriebe es in Berlin und Umgebung noch gibt... Früher haben allein in Siemensstadt 50 000 malocht, AEG war ne Stadt für sich mit eigenem Bus. Alles weg! DeTeWe, Aqua Butzke, BSHG, Otis, Osram... ins Umland verlagert, abgebaut, ins Ausland gegangen. Die sollten mal was zu Kleinbetrieben schreiben, anstatt dem Mythos 'Selbständige' hinterherzurennen!«

»Aber du kannst ja nicht sagen: früher gab es Großbetriebe, heute gibt es Kleinbetriebe!« wirft Zirkular-Abonnentin II ein »Von den Jobs im »Verarbeitenden Gewerbe«, wie sie das nennen, sind allein 1996 10 Prozent abgebaut worden! In einem einzigen Jahr 10 Prozent, nachdem sie in den Jahren davor schon massivst im Osten abgebaut haben: Narva war ja nur der spektakulärste Fall, die haben doch ganz Marzahn und Oberschweineöde platt gemacht! Das heißt doch, es findet auch ne ganz massive Verlagerung von Fabrikjobs zu Jobs bei McDonald und so nem Scheiß statt!«

Die KollegInnen fangen an, sich über ihre Erfahrungen in Kleinbetrieben, mit Schwarzarbeit und wie man den neuesten Zumutungen des Arbeitsamtes begegnen kann, auszutauschen. Ich hör nur noch halb hin, über Lautsprecher wurde bereits die Nummer 87 aufgerufen und ich hab die Nummer 93, also nicht mehr viel Zeit!

Der Redebeitrag Der globale Instinkt versucht deutlich zu machen, daß »Globalisierung« für die Kapitalisten nicht das reine Honigschlecken ist. Wir selber sehen ihn als Anfang einer genaueren Analyse und Debatte darüber, inwiefern »Globalisierung« auch eine neue Qualität von weltweiter Arbeitermacht bedeuten kann.

Die Kritik des CentrO-Artikels im letzten Zirkular ist eine Ausnahme: Zwar wissen wir auch aus anderen Städten, daß Artikel aus dem Zirkular oft intensivst diskutiert werden (den Negri-Artikel zur Dezemberbewegung in Frankreich (Zirkular 26) haben wir in Berlin dreimal diskutiert!) - das schlägt sich aber leider nur sehr selten dann wieder im Zirkular nieder.

Zu zwei Sachen hätten wir gerne noch Beiträge gehabt oder selber geschrieben:

* aber unsere KorrespondentInnen im Wendland haben sich nicht als solche gefühlt;

* und zu den Ereignissen in Albanien fehlen uns die authentischen Informationen, um uns selber ein einigermaßen schlüssiges Bild zu machen (immerhin sind ein paar wichtige Hinweise im Artikel »Der globale Instinkt«). Der Aufstand könnte weitreichende, historische Bedeutung haben. Es ist der erste Aufstand im Osten gegen eine pro-westliche Regierung. Die Aufständischen öffnen die Knäste und befreien die Gefangenen, das ist eigentlich immer ein sehr gutes Zeichen. Die Medien jammern darüber, daß es keine Führer gibt - ebenfalls ein gutes Zeichen... Aber andererseits wissen wir einfach zu wenig, um ausschließen zu können, daß das ganze ein relativ geschickt inszenierter Bandenkrieg ist, ferngesteuert vom italienischen Militär und der süditalienischen Mafia, der Albanien als riesige Geldwaschanlage verloren zu gehen droht.

Aber 116 Seiten sind ja auch nicht gerade wenig!

»Die Nummer 93 bitte ins Zimmer 54!« Scheiße, hoffentlich haben die nicht auch noch einen Job für mich, das hätte mir gerade noch gefehlt!

Berlin, Anfang März 1997


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