Wildcat-Zirkular Nr. 34/35 - März 1997 - S. 34-65 [z34holl1.htm]


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Vom Schrei der Verweigerung zum Schrei der Macht:

Zur Zentralität der Arbeit

von John Holloway (»From Scream of Refusal to Scream of Power: The Centrality of Work«, in: Open Marxism, Vol. III)

I

Am Anfang war der Schrei.

Ein Schrei der Erfahrung. Ein Schrei der Angst, ein Schrei des Entsetzens. Ein Schrei darüber, wie wir leben und was wir sehen, ausgelöst von den Zeitungen, die wir lesen, den Fernsehprogrammen, die wir sehen, unseren alltäglichen Konflikten. Ein Schrei, der nicht akzeptiert, daß es massenhaften Hunger neben Überfluß gibt, daß soviel Arbeit und Ressourcen der Zerstörung des menschlichen Lebens geopfert werden und daß sich der Schutz des Privateigentums in einigen Teilen der Welt nur durch den systematischen Mord an Straßenkindern organisieren läßt. Ein Schrei der Verweigerung.

Ein Schrei voller Mißtöne, disharmonisch und oft undeutlich: manchmal nur ein Murmeln, hin und wieder mit Tränen der Enttäuschung, manchmal ein siegessicheres Brüllen - in jedem Fall zeigt er, daß die Welt auf dem Kopf steht, falsch ist.

Aber wie kommen wir über diesen Schrei hinaus? Wie begreifen wir die Welt als auf dem Kopf stehend, falsch und negativ? In den Medien, den Büchern, in der Schule und in der Sozialwissenschaft wird die Gesellschaft fast immer positiv dargestellt. Im Studium der Sozialwissenschaft lernen wir, »wie es ist«. Dies »wie es ist« läßt sich kritisieren, aber zwischen dem, was ist, und unseren emotionalen Reaktionen wird ein klarer Unterschied gemacht. Der Schrei ist nicht gerade eine zentrale Kategorie der Sozialwissenschaft. Tatsächlich begründet die Sozialwissenschaft ihren wissenschaftlichen Anspruch genau mit dem Ausschluß des Schreis. Die Beschäftigung mit der Welt, wie sie ist, positiv bestimmt, wirft unsere Negativität auf uns zurück, definiert die Negativität als unser individuelles Problem, als Ausdruck unserer mangelnden Anpassungsfähigkeit. Man bringt uns bei, daß ein vernünftiges Begreifen der Welt nichts mit unseren privaten sentimentalen Reaktionen zu tun habe.

Die negativen Gesellschaftstheorien wollen den Standpunkt des Schreis retten und ein anderes Bild der Welt zeichnen, das die Negativität der Erfahrung respektiert und stärkt. In den Diskussionen und Kämpfen, in denen klar wird, daß unsere Negativität eine kollektive ist, entstehen zwangsläufig solche Theorien. Wie die gesellschaftliche Erfahrung der Negativität verschiedene historische Formen annimmt, so ändern sich auch ihre historischen Ausdrucksformen.

Nach dem weltweiten Aufschwung der Kämpfe und der Rebellion Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre wandten sich Millionen von uns der marxistischen Tradition zu; wir verstanden sie als Möglichkeit, unserem »Gegen-die-Gesellschaft-Sein« einen Sinn zu geben und es zu verstärken. Wir suchten im Marxismus keine Theorie der Gesellschaft, sondern eine Theorie gegen die Gesellschaft. [1] Für uns ging es nicht um Politikwissenschaft, Soziologie oder Ökonomie, sondern um eine Gegen-Politikwissenschaft, eine Gegen-Soziologie und eine Gegen-Ökonomie: um eine verneinende Theorie der Gesellschaft, die den Schrei der Erfahrung nicht durch die Zerstückelungen des »wissenschaftlichen« Diskurses verstummen läßt.

Auch wenn zu Beginn unserer Hinwendung zum Marxismus klar war, daß es eigentlich um eine Verneinung ging, versanken die Kernfragen bald in Nebelschwaden. Eine Theorie gegen die Gesellschaft braucht einiges an Verständnis von der Gesellschaft. Eine Theorie, in deren Zentrum der Bruch mit der kapitalistischen Gesellschaft steht, schließt ein Verständnis der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft mit ein. Als die Welle der Kämpfe wieder abebbte und die Explosion der Verneinung von 1968 allmählich zu einer Erinnerung erstarrte, wurde immer unklarer, was eine Theorie gegen die Gesellschaft von einer Theorie von der Gesellschaft und den Bruch von der Reproduktion unterschied. Das verstärkte sich noch durch die Beteiligung von StudentInnen an den Kämpfen, so daß ein Großteil der theoretischen Diskussionen in den folgenden Jahren in den Universitäten stattfand, wo Theorien von der Gesellschaft und von der gesellschaftlichen Reproduktion besser in die etablierten Fächer hineinpaßten. Diese Schwerpunktverlagerung drückte sich im Aufkommen verschiedener Denkströmungen aus, die versuchten, die Negativität der ursprünglichen Dynamik abzuschwächen, den Marxismus in den Rahmen der Sozialwissenschaften einzugliedern, den Schrei zum Verstummen zu bringen.

Natürlich wäre es falsch, die Schuld nur bei den Universitäten und Bildungseinrichtungen zu suchen, in die plötzlich so viele Marxisten eingebunden waren. Die verschlungenen Wege der marxistischen Theorie lassen sich nicht von der langen Geschichte der kommunistischen Parteien und anderer angeblich von der marxistischen Theorie geleiteter politischer Gruppierungen trennen und erst recht nicht von der Geschichte der ehemaligen Sowjetunion. In der Sowjetunion hatte der Marxismus im Prinzip aufgehört, eine Theorie der Verneinung zu sein. Er wurde selektiv manipuliert, um die Reproduktion der bestehenden Machtstrukturen zu legitimieren. Das hatte Folgen für das Verständnis des Marxismus und die Entwicklung der marxistischen Theorie, und zwar nicht nur in den sogenannten »kommunistischen« Staaten, sondern überall auf der Welt durch den Einfluß der kommunistischen Parteien und - eher indirekt - über die Parteien und Gruppierungen, die sich durch ihre Gegnerschaft zu den kommunistischen Parteien definierten.

Die Schwierigkeiten, die Kämpfe gegen die herrschende gesellschaftliche Ordnung mit der marxistischen Theorie zu begreifen, ergaben sich aber auch durch diese Kämpfe selbst. Die traditionelle Interpretation des Marxismus, die den gesellschaftlichen Konflikt als Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit begriff, ließ sich nur schwer mit den Konflikten um Bildung, Wohnen, Gesundheit, Atomkraft, Umwelt, Rasse und Geschlecht, in Verbindung bringen, die in den nächsten Jahren so wichtig wurden. Die verschiedenen soziologischen Versuche (Poulantzas, Wright, Carchedi usw.), die marxistische Theorie zu ergänzen und zu modernisieren, halfen nicht weiter, was auch daran lag, daß sie die Marxsche Klassentheorie als soziologische Theorie interpretierten und sie damit ihrer Negativität beraubten.

Daher ist es kaum ein Wunder, wenn viele Leute sich auf ihrer Suche nach einem Ausdrucksmittel für ihre Feindschaft gegenüber der bestehenden Gesellschaft nicht mehr vom Marxismus angezogen fühlen. In den letzten Jahren stießen ökologische Theorien und vor allem der Feminismus auf weitaus breitere Akzeptanz und schlugen tiefere Wurzeln im Verhalten der Menschen.

Jetzt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der sie umgebenden Staaten und aller möglichen kommunistischen Parteien überall auf der Welt stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Marxismus in einem ganz neuen Zusammenhang. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist sowohl eine Befreiung des Marxismus, als auch eine Bedrohung für sein weiteres Überleben. Eine Befreiung deswegen, da sich so viel vom fürchterlichen Gepäck des »Sowjet-Marxismus« nun leichter abschütteln läßt. Aber gleichzeitig bedeutet er eine Bedrohung für das Überleben des Marxismus, da der Zusammenbruch von so vielen als Versagen des Marxismus begriffen wird, daß wahrscheinlich weniger Menschen versuchen werden, ihren Antagonismus gegenüber der kapitalistischen Gesellschaft durch den Marxismus auszudrücken.

Diejenigen von uns, die weiterhin mit den marxistischen Kategorien eine Theorie gegen die Gesellschaft entwickeln wollen, werden zweifellos älter. Manchmal haben wir das Gefühl, wir sprechen Lateinisch - eine hoch entwickelte Sprache, die kaum jemand versteht und kaum jemand lernen will. Heute lesen z.B. weitaus weniger Leute als vor 10 oder 15 Jahren das Kapital, den Schlüsseltext, um sich die Grundlagen von Marx' Theorie gegen die Gesellschaft anzueignen. Obwohl der Aufschrei des Protests gegen den Kapitalismus ganz gewiß nicht verstummen wird, besteht die Gefahr, daß der Marxismus als Sprache zur Artikulation dieses Aufschreis aussterben könnte.

Ist das nicht egal? Können wir Marx nicht getrost den Lehrern und Studenten der politischen Ideengeschichte überlassen, damit er neben Plato, Aristoteles, Hobbes und Rousseau gelesen wird? Wenn der Marxismus als Ausdruck der Kämpfe gegen die bestehende Gesellschaft versagt hat, sollten wir ihn dann nicht besser der Kritik der Mäuse und der Professoren für politische Theorie überlassen?

Der Marxismus hat solch ein Schicksal nicht verdient. Dieser Artikel vertritt die These, daß der Marxismus immer noch die stärkste existierende Theorie gegen die Gesellschaft ist, unsere schlagkräftigste Theorie der Verneinung des Kapitalismus. Um das zu zeigen, reicht eine Analyse der tragischen Geschichte der kommunistischen Bewegung nicht aus: wir müssen auch einige tief verwurzelte begriffliche Probleme in der marxistischen Tradition ansprechen.

II

Was ist das Besondere am Marxismus als einer Theorie gegen die Gesellschaft?

Wenn wir vom Schrei der Erfahrung ausgehen, von der Ablehnung der bestehenden Gesellschaft aus der Erfahrung heraus, dann müssen wir den Marxismus als Theorie gegen die Gesellschaft beurteilen, nicht als Theorie von der Gesellschaft. Seine heutige Bedeutung bemißt sich nicht in erster Linie daran, wie gut er die Gesellschaft erklären kann, sondern daran, ob er sie negieren kann. Den theoretischen Bezugsrahmen stellen nicht die Sozialwissenschaften im allgemeinen dar, sondern radikale Gesellschaftstheorien, Theorien, die von der Ablehnung der bestehenden Gesellschaft ausgehen. Wir müssen nicht die intellektuelle Ehrbarkeit des Marxismus zeigen, sondern die Macht seiner Anstößigkeit. Nur als Theorie gegen die Gesellschaft enthält der Marxismus eine Theorie von der Gesellschaft.

Wenn wir behaupten, daß der Marxismus eine einzigartige Stellung unter den Theorien gegen die Gesellschaft einnimmt, wollen wir sagen, daß es wichtig ist, daß er als Ausdrucksform der Ablehnung des Kapitalismus überlebt. Was den Marxismus von anderen negativen Theorien der Gesellschaft unterscheidet, ist, daß er in der Negation der Gesellschaft viel weiter geht als jede andere. Dabei geht es nicht um die Intensität der Gefühle oder um die Radikalität der verwendeten Sprache, sondern darum, daß die Negation allumfassend ist. In der Verneinung löst der Marxismus die gesamte Gesellschaft auf, und dies in einer Art und Weise, wie es keine andere radikale Theorie tut.

Die Negation der Gesellschaft fängt meistens als äußerliche Negation an, als »wir gegen sie«: Frauen gegen Männer, Schwarze gegen Weiße, Arme gegen Reiche. Die Parole »Kill the rich!« macht das sehr schön klar. Die Reichen werden klar als »nicht wir« definiert, unser Kampf gegen sie ist ein eindeutig äußerlicher Kampf. Der Reiz und die Kraft dieser Herangehensweise liegt auf der Hand. Ihre Schwäche liegt in ihrer zeitlosen Äußerlichkeit. Heute töten wir die Reichen, morgen töten sie uns, übermorgen drehen wir den Spieß um, dann sind sie wieder am Drücker, und so geht es weiter, piff-paff, ding-dong, hin und her. Unsere Negativität stößt auf ihre Positivität in einer äußerlichen und potentiell ewig anhaltenden Konfrontation. Daß die Reichen uns unterdrücken und wir sie hassen und bekämpfen, ist klar, aber dieser Ansatz sagt uns nichts über unsere Macht oder ihre Verwundbarkeit. Im allgemeinen konzentriert sich die radikale Theorie meistens eher auf die Unterdrückung und den Kampf dagegen als auf die Zerbrechlichkeit oder Bewegung dieser Unterdrückung. Die feministische Theorie zeigt z.B. äußerst klar, worin die gesellschaftliche Unterdrückung des sozialen Geschlechts besteht. Sie hat aber keine Theorie der Angreifbarkeit oder Geschichtlichkeit dieser Unterdrückung entwickelt. Die Geschichte wird in der radikalen Theorie meist als Anhäufung äußerlicher Kämpfe begriffen, und da Traditionen sehr wichtig genommen werden, ist dieser Geschichtsbegriff oft sehr konservativ.

Gegen dieses »wir gegen sie« der radikalen Theorie ruft Marx: »Aber es gibt kein 'sie', es gibt nur uns. Wir sind die einzige Wirklichkeit, die einzige Macht. Es gibt nichts außer uns, außer unserer Verneinung. Deshalb ist der Schrei der Verweigerung ein Schrei der Macht«.

Der wesentliche Anspruch des Marxismus, der ihn von anderen Spielarten der radikalen Theorie unterscheidet, ist sein Anspruch, jede Äußerlichkeit aufzulösen. Der Kern des Angriffs auf »sie« besteht darin, zu zeigen, daß »sie« von uns abhängig sind, da »sie« fortwährend durch uns geschaffen werden. Wir, die Machtlosen, sind allmächtig.

Die Kritik an der im »sie gegen uns« ausgedrückten Äußerlichkeit der radikalen Theorie ist nicht irgendeine abstruse theoretische These, sondern der Kern der marxistischen Auffassung von der Möglichkeit einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft. Wenn wir begreifen, daß »sie« uns nicht äußerlich sind, daß das Kapital der Arbeit nicht äußerlich ist, können wir die Verwundbarkeit der kapitalistischen Herrschaft begreifen. Über die Äußerlichkeit des »sie gegen uns« der radikalen Theorie hinauszugehen, heißt gleichzeitig, über die radikale Theorie der Unterdrückung hinauszugehen und zum Anliegen des Marxismus zu kommen: zur Zerbrechlichkeit der Unterdrückung.

III

Die oben aufgestellte Behauptung (die weiter unter genauer ausgeführt wird), daß sich der Marxismus durch den totalen Charakter seiner Negation von anderen Spielarten verneinender Theorie unterscheidet, steht im Gegensatz zu weiten Teilen der marxistischen Tradition. Häufiger wird behauptet, der Marxismus unterscheide sich von anderen radikalen Theorien durch seine überlegene Wissenschaftlichkeit. Das drückt sich zum Beispiel in der üblicherweise (erstmals bei Engels) vorgenommenen Unterscheidung zwischen utopischem und wissenschaftlichem Sozialismus aus. »Utopischer« Sozialismus bezieht sich hier auf den potentiell endlosen Kampf eines radikalen, vom Traum auf Erlösung inspirierten Aktivismus. Die Behauptung, der Marxismus sei »wissenschaftlich«, bezieht sich hier auf die Behauptung, daß der Kampf nicht endlos sei, weil die Analyse uns zeige, daß der Kapitalismus von Widersprüchen zerrissen ist, die ihn entweder zusammenbrechen oder immer instabiler werden lassen.

Es geht hier nicht darum, ob der Marxismus wissenschaftlich ist, sondern um das Verständnis von »Wissenschaftlichkeit«, auf das sich diese Behauptung oft gründet. In der Tradition des »orthodoxen« Marxismus heißt »wissenschaftlich« dasselbe wie »objektiv«. »Wissenschaft« wird hier im positivistischen Sinn so verstanden, daß sie jede Subjektivität auschließt. Mit der Behauptung, der Marxismus sei wissenschaftlich, ist gemeint, daß die subjektiven Kämpfe von der objektiven Bewegung der kapitalistischen Widersprüche unterstützt werden. Somit wird eine Unterscheidung zwischen dem (subjektiven) Kampf und den (objektiven) Kampfbedingungen gemacht.

Dieses auf der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt gegründete Verständnis von Wissenschaftlichkeit legt die Wurzel für einen Dualismus, der sich durch die gesamte marxistische Tradition zieht. Er drückt sich in einer Vielzahl von Varianten aus, als Trennung zwischen Kampf und Widerspruch, zwischen Kampf und Struktur, zwischen Klassenkampf und objektiven Entwicklungsgesetzen, zwischen Politik und Ökonomie, zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Protestschrei und kühler Einschätzung der objektiven Wirklichkeit. Die Bedeutung beider Seiten des Dualismus wird dabei innerhalb der marxistischen Tradition durchaus erkannt - kein Marxist würde sagen, daß der Klassenkampf nicht wichtig wäre - aber in der Praxis ist die Beziehung zwischen den beiden Seiten nicht gleich. Da »Wissenschaft« mit Objektivität gleichgesetzt wird, gibt die wissenschaftliche Analyse der zweiten Seite eines jeden Paares den Vorrang: dem Widerspruch, der Struktur, den objektiven Entwicklungsgesetzen, der Ökonomie, dem Kapital, der kühlen Einschätzung der objektiven Wirklichkeit. Die marxistischen Theoretiker sehen gewöhnlich in der Analyse der Objektivität und der Widersprüche des Kapitalismus ihren Beitrag zum Kampf.

Bei all dem wird der Kampf nicht geleugnet: In der marxistischen Tradition entspringen die Analysen im allgemeinen aus irgendeiner Form der Beteiligung am Kampf. Diese Art von »wissenschaftlicher« Analyse mißt den Kämpfen jedoch nur eine sehr untergeordnete Rolle zu, was immer der Anstoß für die Analyse gewesen sein mag. Dem Kampf wird eine »aber-auch«-Rolle zugewiesen, um einen Ausdruck von Bonefeld zu benutzen [2]: Er darf in den Zwischenräumen der kapitalistischen Entwicklungsgesetze wirksam werden, er darf die von den objektiven Entwicklungsgesetzen nicht bestimmten Lücken ausfüllen, er darf die von den objektiven Bedingungen dargebotenen günstigen Gelegenheiten beim Schopfe packen. (Er darf auch immer dann als Alibi herhalten, wenn der Marxismus des Determinismus beschuldigt wird, was gänzlich unentschuldbar ist.) Die Bedeutung des Kampfs wird nicht bestritten, aber der Marxismus in »wissenschaftlicher« Gestalt wird zu einer Theorie nicht des Kampfes, sondern der objektiven Kampfbedingungen, also etwas ganz anderem..

Der Begriff der »marxistischen Ökonomie« ist eine der verbreitetsten Ausdrucksformen dieser dualistischen Tradition. Er zieht sich durch von der radikalen Linken bis zum Revisionismus der späten kommunistischen Parteien. Die Vorstellung einer marxistischen Ökonomie (im Gegensatz zur marxistischen Kritik der Ökonomie) setzt die Trennung des Widerspruchs vom Kampf fort. Gewöhnlich wird unter marxistischer Ökonomie die Untersuchung der objektiven kapitalistischen Entwicklungsgesetze und deren Verhältnis zur aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung verstanden. Eine Unterscheidung zwischen Ökonomie und Kampf wird ebenso vorausgesetzt wie eine Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik. Obwohl diese Unterscheidung auch die Möglichkeit einer gesonderten »marxistischen Politischen Wissenschaft«, wie Poulantzas [3] meinte oder sogar einer »marxistischen Soziologie« enthielt, räumen die Marxisten bei der Untersuchung der kapitalistischen Widersprüche meist dem ökonomischen Bereich den Vorrang ein.

In der Vorstellung einer marxistischen Ökonomie sind sehr weitreichende Konsequenzen angelegt, denn er setzt eine bestimmte Lesart von Marx und seinen Kategorien voraus. Trotz seines Untertitels - Kritik der politischen Ökonomie - gilt das Kapital als Schlüsseltext der marxistischen Ökonomie und die in ihm entwickelten Kategorien (Wert, Mehrwert, Preis, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, Krise, Kredit) als ökonomische Kategorien mit einer nicht vom Klassenkampf abhängigen objektiven Gültigkeit. Wiederum wird der Klassenkampf natürlich nicht geleugnet, aber er wird als etwas von der Analyse der marxistischen Ökonomie Getrenntes gesehen, während die ökonomische Analyse für die Analyse der objektiven Kampfbedingungen zuständig ist. Sogar bei sozusagen linksradikalen Analysen, in denen die Rolle des subjektiven Kampfes in der Veränderung der Gesellschaft betont wird - wie bei Pannekoek, Mattick oder Luxemburg - wird ein Dualismus zwischen der objektiven, ökonomischen Analyse der Entwicklung der Widersprüche des Kapitalismus und den durch diese Widersprüche aufgemachten Möglichkeiten des subjektiven Kampfes angenommen. Mit dem Begriff der marxistischen Ökonomie ist ein Dualismus von Subjekt und Objekt, von Kampf und Widerspruch untrennbar verbunden.

Dieser in der marxistischen Tradition vorherrschende Dualismus befindet sich nun offenkundig in der Krise. Auf der »objektiven« Seite wirken die Gewißheiten, die ein »wissenschaftlicher«, objektivistischer Ansatz scheinbar versprach, nicht mehr überzeugend. Vor allem aber hat die theoretische und oft auch praktische Unterordnung der Subjektivität, die in dieser Art von Marxismus steckt, die Glaubwürdigkeit des Marxismus als Theorie des Kampfes, als Theorie gegen die Gesellschaft untergraben.

IV

Bestünde die marxistische Tradition nur aus diesem Dualismus, dann könnte die Debatte schnell beendet werden: wir könnten den Marxismus als unrettbar fehlerhafte Sprache für die Theorie der Ablehnung der kapitalistischen Gesellschaft sterben lassen. Glücklicherweise ist dies nicht der Fall. Ganz abgesehen von Marx' eigenem Werk gibt es eine sehr lange, oft untergründige Tradition des politischen und theoretischen Kampfes gegen den abtötenden und tödlichen Dualismus der »Orthodoxie«. Politisch und theoretisch ist das eine sehr uneinheitliche Tradition, eine Mischung aus Leuten, die der »Orthodoxie« politisch entgegentraten, auch wenn sie dies nicht immer auch theoretisch nachvollzogen, und solchen, die theoretisch rebellierten, sich aber manchmal an die Linie der kommunistischen Parteien anpaßten. Jede Namensliste ist problematisch, aber Luxemburg, Pannekoek, der frühe Lukacs, Korsch, Mattick, Bloch, Adorno, Rubin, Pashakunis, Rosdolsky, Agnoli, Tronti und Negri wären natürlich Kandidaten für so eine Liste - und sie alle waren Bezugspunkte für eine Vielzahl anderer Marxisten, die von der »Orthodoxie« abwichen. [4] Wenn es um die Kraft des Marxismus als Theorie des Kampfes (und um die Überwindung des Dualismus der orthodoxen Tradition) geht, müssen wir vom Kampf selbst ausgehen, vom subjektiven, von der Erfahrung ausgehenden Schrei der Erfahrung, mit dem dieser Aufsatz begann, von dem Schrei, den die objektivistische »wissenschaftliche« Konzeption des Marxismus erstickt. Die Betonung der Subjektivität ist immer wieder Thema im anti-orthodoxen Marxismus.

In den letzten Jahren kam eine seiner kraftvollsten Ausformulierungen von einer Strömung, die sich seit den 60er Jahren vor allem in Italien entwickelte und als »autonomist Marxism« [der Begriff stammt von Cleaver] oder »Operaismus« bekannt ist. Scharf formuliert ist die Kritik an der objektivistischen Tradition des orthodoxen Marxismus in Mario Trontis Artikel »Lenin in England«, der viel zur Definition des »operaistischen« [»autonomist«] Ansatzes beigetragen hat:

»Auch wir haben erst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Irrtum. Man muß das Problem umdrehen, die Vorzeichen umkehren, wieder vom Anfang ausgehen: und der Anfang ist der Klassenkampf der Arbeiterklasse.« [5]

Dies muß der erste Schritt sein: wir müssen die Vorzeichen der marxistischen Tradition umkehren und wieder eindeutig von unten ausgehen, vom Kampf, von der Verneinung. Aber die Umkehrung der Vorzeichen reicht nicht aus: Die Polarität selbst muß in Frage gestellt werden. Mit der Umkehrung der Vorzeichen gelangen wir wieder an den richtigen Ausgangspunkt: Von hier aus können wir uns den Marxismus als Theorie gegen die Gesellschaft, nicht als Theorie von der Gesellschaft, zurückerobern, als Theorie des Kampfes, nicht als Theorie der objektiven Kampfbedingungen, als Theorie der Arbeit und nicht des Kapitals, als Theorie des Bruchs, nicht der Reproduktion. Die Verneinung als Ausgangspunkt ist ein wesentlicher Punkt, aber dies zeigt uns immer noch nicht, was der Marxismus zu einer negativen Theorie beitragen kann.

Tronti geht in der Umkehrung der Vorzeichen sofort einen Schritt weiter. Vom Kampf der Arbeiterklasse auszugehen, heißt nicht nur, den Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse anzunehmen, sondern auch, in vollständiger Umkehrung der traditionellen marxistischen Methode, den Kampf der Arbeiterklasse als bestimmend für die kapitalistische Entwicklung zu sehen:

»Auf der Ebene des gesellschaftlich entwickelten Kapitals ist die kapitalistische Entwicklung den Kämpfen der Arbeiterklasse untergeordnet, sie kommt nach ihnen, und ihnen muß sie den politischen Mechanismus der eigenen Produktion anpassen.« [6]

Dies ist der Kern dessen, was Moulier mit der »kopernikanischen Wende des Marxismus durch den Operaismus« meint, [7] die laut Asor Rosa

»in einer Formel zusammengefaßt werden kann, die die Arbeiterklasse zum dynamischen Motor des Kapitals macht und das Kapital zu einer Funktion der Arbeiterklasse... eine Formel, die uns schon eine Vorstellung von der Größe des Perspektivenwechsels vermittelt, der in solch einer Position politisch steckt.« [8]

Wenn wir den Schrei des Kampfes nicht als Schrei eines Opfers, sondern als Schrei der Macht begreifen wollen, dann ist diese Umkehrung wesentlich. Aber wie läßt sich solch eine Umkehrung in einer kapitalistischen Gesellschaft rechtfertigen, die ganz offensichtlich vom Kapital und den Bedürfnissen der Kapitalistenklasse beherrscht zu sein scheint, wie läßt sich das Kapital als Funktion der Arbeiterklasse verstehen?

Es gibt zwei mögliche Antworten auf diese Frage, sozusagen eine stärkere und eine schwächere. Die schwächere Antwort würde lauten, daß das Kapital sich als Funktion der Arbeiterklasse verstehen läßt, weil seine Geschichte die Geschichte der Reaktion auf Kämpfe der Arbeiterklasse ist. Ganz ähnlich könnte man etwa sagen, daß die Bewegungen einer verteidigenden Armee im Krieg eine Funktion der Bewegungen der angreifenden Armee sind oder vielleicht die Entwicklung der Polizei eine Funktion der Aktivitäten von Kriminellen. Die stärkere Antwort würde lauten, daß das Kapital einfach deshalb eine Funktion der Arbeiterklasse ist, weil das Kapital nichts anderes als das Produkt der Arbeiterklasse ist und daher in jedem Moment von der Arbeiterklasse abhängig ist, um sich zu reproduzieren. Im ersten Fall wird die Beziehung zwischen Arbeiterklasse und Kapital als Gegenüberstellung begriffen, als äußerliches Verhältnis. Im zweiten Fall wird das Verhältnis als Erzeugung des einen Pols des Widerspruchs durch den anderen begriffen, also als inneres Verhältnis. Im ersten Fall wird die Arbeiterklasse nur in ihrer Existenz gegen das Kapital gesehen, im zweiten existiert sie gegen das und im Kapitalverhältnis. Die Interpretation als »Reaktion« und als »Produkt« schließen sich nicht unbedingt gegenseitig aus, aber da die Betonung meist nur auf eine Interpretation gelegt wird, können die theoretischen und politischen Schlußfolgerungen recht unterschiedlich aussehen.

In der operaistischen [autonomist] Analyse finden sich beide Elemente, aber die erste Interpretation, die von einer »Reaktion« ausgeht, ist weiter verbreitet. [9] Die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung wird in der Regel als Reaktion auf die Macht der Bewegung der Arbeiterklasse verstanden. Die Entwicklung des Kapitals wird folglich als defensive Reaktion auf die Stärke der Bewegung der Arbeiterklasse angesehen, die sich in Momenten offener Revolte enthüllt. So analysiert Negri [10] z.B. den Keynesianismus als Antwort auf die Revolution von 1917, die deutlich machte, daß das Kapital nur überleben konnte, indem es die Bewegung der Arbeiterklasse anerkannte und integrierte. Diese Analysen sind enorm plausibel, aber hier soll betont werden, daß diese Analysen die kapitalistische Entwicklung als Prozeß der Reaktion begreifen, die Beziehung zwischen ArbeiterInnen [labour] und Kapital wird als äußerliche Beziehung verstanden.

Es hat äußerst wichtige politische und theoretische Konsequenzen, wenn man die Beziehung zwischen ArbeiterInnen [labour] und Kapital als äußerliches Verhältnis begreift. Die Macht der Bewegung der Arbeiterklasse zu betonen strahlt eine offensichtliche Anziehungskraft aus. Nichtsdestotrotz führt diese Art der Trennung von ArbeiterInnen [labour] und Kapital zu einer paradoxen (und romantischen) Vergrößerung der Macht von beiden. Da die »autonome« Analyse nicht die innere Natur der Beziehung zwischen ArbeiterInnen und Kapital untersucht, unterschätzt sie, wie sehr die Arbeit [labour] innerhalb kapitalistischer Formen existiert. Daß die Arbeit [labour] innerhalb kapitalistischer Formen existiert, bedeutet, daß sie dem Kapital untergeordnet ist und daß das Kapital in seinem Innern zerbrechlich ist; dies wird weiter unten noch ausführlicher erörtert werden. Wenn man die innere Natur der Beziehung zwischen Kapital und Arbeit [labour] übersieht, unterschätzt man das Eingesperrtsein der ArbeiterInnen [labour] im Kapitalverhältnis und die Macht der ArbeitInnen [labour] als inneren Widerspruch im Kapital (und überschätzt daher die Macht des Kapitals über die ArbeiterInnen [labour]).

Am Ende führt die Umkehrung der Vorzeichen zwischen Kapital und ArbeiterInnen [labour], so wesentlich sie als Ausgangspunkt ist, zur Reproduktion dieser Polarität in anderer Form. Die traditionelle marxistische Analyse betont die logische Entwicklung des Kapitals und verbannt den Klassenkampf in eine »aber-auch«-Rolle; die »operaistische« [»autonomist«] Analyse befreit den Klassenkampf aus seiner untergeordneten Rolle, überläßt ihn aber weiterhin einer gegenüber dem Kapital äußerlichen Logik. Die Logik des Kapitalverhältnisses wird nun nicht mehr im Sinne von »ökonomischen« Gesetzen und Tendenzen verstanden, sondern im Sinne eines politischen Kampfes, um den Feind zu besiegen. Hierin besteht der Unterschied. Die Schlüsselkategorie der marxistischen ökonomischen Interpretation der kapitalistischen Entwicklung, das Wertgesetz, wird von den »Operaisten« [»autonomists]« für überflüssig erachtet. [11] Angesichts der Macht der Bewegung der Arbeiterklasse hat sich das Kapital zum integrierten Weltkapitalismus entwickelt, und seine einzige Logik ist die Logik der Machterhaltung. [12] Wenn man das Verhältnis zwischen Arbeit [labour] und Kapital als Reaktion versteht, landet man vielleicht unweigerlich bei einer spiegelverkehrten Sicht des Kapitalismus: je größer die Macht der Bewegung der Arbeiterklasse, um so monolithischer und totalitärer die Reaktion der Kapitalistenklasse. Die »operaistische« [»autonomist«] Analyse hat Entscheidendes dazu beigetragen, der marxistischen Theorie wieder als Theorie des Kampfes Geltung zu verschaffen, aber die wirkliche Stärke der Marxschen Theorie des Kampfes besteht nicht in einer Umkehrung der Polarität zwischen Kapital und Arbeit, sondern in ihrer Auflösung. [13]

V

Man kann den Dualismus überwinden, indem man versucht, das Verhältnis zwischen den beiden Polen des Dualismus mit den untereinander verbundenen Kategorien Form, Totalität und Kritik zu fassen. Diese Methode wird oft als Formanalyse bezeichnet.

Für die Disskussion im Kapital, in der Marx darauf besteht, z.B. Wert und Geld in ihrer Wert- und Geldform, als Formen gesellschaftlicher Beziehungen zu begreifen, ist der Begriff der »Form« zentral. Im ersten Kapitel des Kapital benutzt Marx den Begriff der »Form«, um seine Methode von der Methode der politischen Ökonomen zu unterscheiden, die er kritisieren will:

»Grade in ihren besten Repräsentanten, wie A. Smith und Ricardo, behandelt sie die Wertform als etwas ganz Gleichgültiges oder der Natur der Ware selbst Äußerliches. Der Grund ist nicht allein, daß die Wertgröße ihre Aufmerksamkeit ganz absorbiert. Es liegt tiefer. Die Wertform des Arbeitsproduktes ist die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise, die hierdurch als eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion und damit zugleich historisch charakterisiert wird. Versieht man sie daher für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, übersieht man notwendig auch das Spezifische der Wertform, also der Warenform, weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform usw.« [14]

Im Begriff der »Form« ist hier Verschiedenes angelegt. Indem er die Grenzen von Smith und Ricardo aufzeigt, weist Marx darauf hin, daß ein Verständnis der »Dinge« als »Formen« ein Verständnis von deren zeitlicher Natur bedeutet, ihrer (zumindest) möglichen historischen Überwindung. Wenn wir die kapitalistische Gesellschaft mit den Begriffen der gesellschaftlichen Formen untersuchen, betrachten wir sie vom Standpunkt ihrer historischen Vergänglichkeit, sehen scheinbar Dauerhaftes als vergänglich und scheinbar Positives als negativ. Die Einführung der Formanalyse bedeutet den Übergang vom Fotoabzug zum Negativ. Der Übergang vom Wert zur Wertform ist z.B. eine Umkehrung der gesamten Perspektive der Diskussion, der Schritt von der politischen Ökonomie zur Kritik der politischen Ökonomie. Deshalb bleibt von der Kategorie der »Form«, die vielleicht die zentrale Kategorie in Marx' Argumentation darstellt, nur eine literarische Hülse, wenn man von der Dauerhaftigkeit der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse ausgeht (wie es die bürgerlichen Sozialwissenschaften tun).

Die Kategorie der »Form« beinhaltet den inneren Zusammenhang (Nicht-Äußerlichkeit) zwischen gesellschaftlichen »Dingen«. Vom Geld als einer Form des Werts, vom Wert als einer Form des Arbeitsprodukts, von Wert und Geld als Formen gesellschaftlicher Verhältnisse zu sprechen, heißt zu betonen, daß die Beziehung zwischen Wert, Geld, Arbeit und gesellschaftlichen Verhältnissen eine innerliche ist. Scheinbar getrennte »Dinge« der Gesellschaft (Staat, Geld, Kapital usw.) sind gesellschaftliche Erscheinungen, Formen gesellschaftlicher Beziehungen. Die zwischen ihnen bestehenden Wechselbeziehungen sollten nicht als äußerliche (z.B. kausale Beziehungen) verstanden werden, sondern als innere Beziehungen, als Prozesse der Veränderung oder Verwandlung.

Mit dem Begriff »Existenzweise« [15] werden diese verschiedenen Implikationen der »Form« (Geschichtlichkeit, Negativität, Innerlichkeit) gut erfaßt. Wenn wir z.B. vom Geld als einer »Existenzweise« gesellschaftlicher Beziehungen sprechen, so sind damit die ganzen Implikationen des »Form«-Begriffs angesprochen, also historische Bestimmtheit, Negativität und Innerlichkeit.

Im hier vorgeschlagenen Begriff der »Form« ist ein Begriff von »Totalität« angelegt. Wenn alle Aspekte der Gesellschaft als Formen gesellschaftlicher Beziehungen verstanden werden, dann sind sie eindeutig Teil eines innerlich verbundenen Ganzen, Moment einer gesellschaftlichen Totalität. Wenn wir also sagen, die »Form« ist die zentrale Kategorie der Theorie von Marx, dann befinden wir uns in Übereinstimmung mit dem berühmten Ausspruch von Lukacs: »Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet entscheidend den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität«. [16]

»Form« und »Totalität« beinhalten aber einen dritten Begriff, nämlich den der »Kritik«. Wenn scheinbar getrennte Dinge (etwa Geld und Staat) als verschiedene Formen einer einzigen Totalität verstanden werden sollen, dann gehört zum Verständnisprozeß eine Kritik der scheinbaren Getrenntheit. Zu kritisieren heißt in diesem Sinne, die Wechselbeziehungen zwischen den »Dingen« zu erforschen, zu zeigen, wie scheinbar getrennte und nur äußerlich verbundene Aspekte der Gesellschaft als Formen derselben gesellschaftlichen Totalität in einem inneren Zusammenhang stehen.

Die Formanalyse, die Analyse der »Dinge« und »Fakten« als Formen der Totalität gesellschaftlicher Beziehungen löst die starre Realität in den Fluß der wechselnden Formen der gesellschaftlichen Beziehungen auf. Was als getrennt erscheint (Staat, Geld, Länder usw.), kann nun im Sinne einer Trennung in der Einheit oder Einheit in der Trennung verstanden werden. Jetzt wird es möglich, den Dualismus von Subjekt und Objekt theoretisch zu überwinden, indem man die Trennung von Subjekt und Objekt als Trennung in der Einheit neu faßt, indem man den Dualismus kritisiert und Subjekt und Objekt als Formen derselben gesellschaftlichen Totalität begreift. Was bisher als starr und objektiv erschien, enthüllt sich als vergänglich und flüssig. Die Bausubstanz der kapitalistischen Realität beginnt - theoretisch - zu bröckeln.

Die Formanalyse ist zentral für jeden Angriff auf den Dualismus, der weite Teile der marxistischen Tradition geprägt hat, und in den letzten Jahren wird sie von einer ganzen Anzahl von Theoretikern zu Recht betont, [17] auch unter dem Einfluß der Schriften früherer Autoren wie Lukacs, Rosdolsky, Rubin und Pashakunis, die in den späten 60er und frühen 70er Jahren wiederentdeckt wurden. Dennoch sind viele der Ansätze, die grob als Beispiele für eine Formanalyse bezeichnet werden könnten, nicht zu einer Überwindung des kritisierten Dualismus vorgedrungen. Oft führten sie nur zu einem (manchmal als »Kapitallogik« bezeichneten) rein logischen Verständnis der kapitalistischen Entwicklung, das wenig Raum für den Klassenkampf läßt.

Hier gibt es auf zwei Ebenen Schwierigkeiten. Auf der einen Ebene, die wir die logische nennen könnten, stellt sich die Frage nach dem Verständnis von »Form«. Natürlich läßt sich der Begriff »Form« unterschiedlich verstehen. Im hier verwandten Sinne einer »Existenzweise« ist der Begriff vor allem kritisch: Er behauptet die Einheit des scheinbar Getrennten, die Vergänglichkeit des scheinbar Dauerhaften, die Falschheit der Erscheinung. Wenn er aber wie so oft im Sinne einer Unterteilung nach Gattungen und Arten wie in dem Satz, »Weizen ist eine Form von Getreide«, benutzt wird, dann verliert die Methode vollständig ihren kritischen Inhalt und trägt nichts zur Überwindung des Dualismus bei, um die es uns geht. [18]

Aber sogar wenn die »Form« im stärkeren Sinne, als Existenzweise begriffen wird, so daß »A ist die Form von B« bedeutet, daß B die Existenzweise von A ist, besteht immer noch die Gefahr, daß die Formanalyse nur zu einer leeren Logik von Kategorien wird, zu einer Diskursform, in der nur die logischen Beziehungen zwischen den Kategorien real zu sein scheinen. Natürlich sind die Kategorien der Totalität, der Form und Kritik zentral für den Angriff auf den Dualismus, der als theoretisch-politisches Hauptproblem der marxistischen Tradition herausgearbeitet wurde. Aber was verstehen wir darunter? Wie können wir den weit verbreiteten Scholastizismus der »formanalytischen« Diskussion vermeiden? Totalität von was, Formen von was? Was meinen wir, wenn wir von Totalität, Form und Kritik sprechen?

Die Totalität ist eine Totalität von gesellschaftlichen Beziehungen, die Formen sind Formen von gesellschaftlichen Beziehungen, dies wäre die einfachste Antwort. Wenn man also von Geld, Wert oder Staat als Geld-Form, Wert-Form oder Staats-Form spricht, ist gemeint, daß diese Erscheinungen, die sich als Dinge darstellen, Formen gesellschaftlicher Beziehungen sind. Alle gesellschaftlichen Erscheinungen müssen als Existenzweisen von Beziehungen zwischen Menschen kritisiert (entmystifiziert) werden. Aber damit ist das Problem noch immer nicht gelöst: Bei vielen »Formanalysen« ist der Verweis auf die gesellschaftlichen Beziehungen schlicht ein formales Bekenntnis, da angenommen wird, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse einem logisch vorgegebenen Entwicklungsschema folgen. Folglich taucht der Dualismus wieder auf, jetzt im Sinne einer Trennung zwischen einerseits einer logisch vorherbestimmbaren Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse (der Kapitallogik) und andererseits dem Klassenkampf, der als getrennt von den gesellschaftlichen Verhältnissen im Kapitalismus aufgefaßt wird.

Die Trennung zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Kampf können nur überwunden werden, wenn wir begreifen, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus von vornherein antagonistisch, von vornherein widersprüchlich sind, daß alle gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus Verhältnisse des Klassenkampfs sind. Wenn wir von der Totalität als einer Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse reden, dann meinen wir die Totalität der antagonistischen gesellschaftlichen Verhältnisse (Klassenkampf). Wenn wir sagen, daß Geld eine Form der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, meinen wir, daß es eine Form des Klassenkampfes ist, daß seine Entwicklung sich nicht als logischer Prozeß verstehen läßt, sondern nur als Kampfprozeß (ein Kampf, der eine bestimmte Existenzweise hat, aber nicht vorbestimmt ist).

In diesem Sinne können wir mit den Kategorien Totalität, Form und Kritik begreifen, daß alle gesellschaftlichen Erscheinungen Existenzweisen des Klassenkampfes sind und umgekehrt der Klassenkampf in und durch diese gesellschaftlichen Erscheinungen hindurch existiert. Indem wir alle Aspekte der Gesellschaft als Existenzweisen des Klassenkampfes begreifen, überwinden wir die dualistische Trennung von Gesellschaft und Kampf, Objekt und Subjekt, bewegen uns aber immer noch auf der Ebene von Behauptungen. Wir könnten z.B. sagen, daß der Staat als besondere Form der Totalität des Klassenkampfes verstanden werden muß. Oder wir könnten sagen, daß das Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie im Sinne der Trennung in der Einheit bzw. Einheit in der Trennung des Klassenkampfes gefaßt werden muß. Beide Aussagen sind für das Verständnis der politischen und ökonomischen Entwicklung wichtig, aber sie flehen geradezu nach einer weiteren Frage: warum? Was konstituiert diese Einheit (in der Trennung) von Politik und Ökonomie, was erlaubt es uns, von einer Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse zu sprechen? Woher kommt die Einheit, die im Begriff der Totalität steckt? Wodurch wird diese Einheit erzeugt, wie verstehen wir ihre Entstehung? Der Begriff der Totalität führt uns, wenn wir es ernst damit meinen, zu der Frage nach der Genese [Entstehung] (oder Konstitution). Nur wenn wir vom Begriff der Totalität und der Form zur Genese und Konstitution dieser Totalität (und ihrer Formen) fortschreiten, kann die Frage nach der Macht gestellt werden.

VI

Der Versuch, die Sackgasse des Dualismus zu überwinden, führt uns zu der Frage, wie wir die Totalität der gesellschaftlichen Beziehungen (als Verhältnisse des Klassenkampfes) genetisch [von ihrer Entstehung her] verstehen können.

Die Erforschung der Genese oder Konstitution gesellschaftlicher Erscheinungen ist zentral für Marx' Ansatz. Nicht nur gibt sie seinem gesamten Werk (am deutlichsten im Kapital) den roten Faden, sondern er definiert so auch wiederholt seine wissenschaftliche Methode. Eine der bekanntesten Passagen entstammt der Einleitung zu den Grundrissen von 1857 und sollte ausführlich zitiert werden:

»Es scheint das Richtige zu sein mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Vorraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsaktes ist. Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch. Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhen. Z.B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc. Kapital z.B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfache Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da wäre nun die Reise rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung des Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen (...). Das letztere ist offenbar die wissenschaftlich richtige Methode. Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist. Im ersten Weg wurde die volle Vorstellung zu abstrakten Bestimmungen verflüchtigt; im zweiten führen die abstrakten Bestimmungen zur Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens. Hegel geriet daher auf die Illusion das Reale als Resultat des in sich selbst zusammenfassenden, in sich vertiefenden, und aus sich selbst bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst.« [19]

Dasselbe Argument findet sich immer wieder im Kapital, z.B. in der in einer Fußnote gemachten knappen Anmerkung, in der Marx mit einer Kritik der Technologie beginnt und mit einer Kritik der Religion fortfährt:

»Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode.« [20]

Aber weshalb besteht Marx darauf, daß dies die einzig wissenschaftliche Methode ist? Sie ist theoretisch eindeutig anspruchsvoller, aber warum muß uns das kümmern? Und was haben wir unter dem genetischen Zusammenhang zu verstehen? Die Bemerkung zur Religionskritik legt eine Antwort nahe. Der Hinweis, »durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen« zu entdecken, ist ein Verweis auf Feuerbach und dessen Argument, daß der Glaube an Gott Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung bzw. die menschliche Selbstentfremdung der »irdische Kern« der Religion sei. Der zweite Teil des Satzes, daß es darum geht, »aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln«, verweist auf die Marxsche Kritik an Feuerbach, daß diese Selbstentfremdung nicht abstrakt, sondern in einem praktischen (und daher historischen) Zusammenhang begriffen werden muß. Feuerbach hat recht, wenn er darauf besteht, daß Gott eine menschliche Schöpfung ist (und nicht umgekehrt), aber der Prozeß dieser Entstehung muß praktisch, sinnlich verstanden und wahrgenommen werden. Der Begriff »Gott« muß als Ergebnis menschlichen Denkens aufgefaßt werden, und dieses Denken wiederum ist kein individueller, unhistorischer Vorgang, sondern ein Aspekt der gesellschaftlichen Praxis unter bestimmten historischen Bedingungen.

Die Kritik an Feuerbach führt zu wichtigen politischen Schlußfolgerungen. Die Religion stellt die Menschen als Objekte dar, als Wesen, die von Gott, dem alleinigen Schöpfer, dem Ursprung aller Dinge, der Quelle der gesamten Macht, dem alleinigen Subjekt erschaffen wurden. Die Religionskritik von Feuerbach stellt die Menschen in den Mittelpunkt der Welt, aber sie werden nicht wirklich ermächtigt, denn Feuerbachs Mensch ist gefangen in einer zeitlosen Selbstentfremdung. Ist die Erschaffung Gottes erstmal als gesellschaftliche, historische Praxis begriffen, dann sind die Menschen nicht länger nur Objekte und gefangen in einem Vakuum der Machtlosigkeit, sondern die menschliche Praxis wird als alleiniger Schöpfer, als Ursprung aller Dinge, als Quelle der Macht, als alleiniges Subjekt erkannt. Eine so verstandene praktisch-genetische Religionskritik ermöglicht es den Menschen, die sie umgebende Welt zu gestalten, da sie selbst ihre »wahre Sonne« sind.

»(...) die Kritik der Religion ist Voraussetzung aller Kritik«, sagt Marx. [21] Die Kritik an den politischen Ökonomen folgt den Mustern der Kritik an Feuerbach. Im Kapital hat sich Marx' Aufmerksamkeit einem weitaus mächtigeren Gott zugewandt, dem Geld (dem Wert). Im alltäglichen Denken schwingt sich das Geld zum Herrscher über die Welt auf, zur einzigen Quelle der Macht. Ricardo (der an die Stelle von Feuerbach tritt) hat gezeigt, daß dem nicht so ist: »Durch Analyse« hat er entdeckt, daß die menschliche Arbeit als Substanz des Werts »der irdische Kern der religiösen Nebelbildungen« der Ökonomie (der Religion des Geldes) ist. Aber Ricardo behandelt die Arbeit wie Feuerbach die Selbstentfremdung: zeitlos, als unhistorisches Wesensmerkmal der menschlichen Existenz.

»Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen, Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt?« [22]

Im Ergebnis stellt Ricardo also ebenso wie Feuerbach die Menschen in den Mittelpunkt der Welt, aber läßt die Menschheit gefangen in einem zeitlosen, unveränderlichen Vakuum der Machtlosigkeit. Nur wenn wir die Produktion von Wert und Geld als gesellschaftliche, historische menschliche Praxis begreifen, wird die Kritik an der Macht des Geldes (und der Machtlosigkeit der Menschen) zu einer Theorie der Macht der Menschen, der Macht menschlicher Praxis oder Arbeit.

Aus diesen Beispielen geht hervor, daß die genetische Methode nicht nur darin besteht, ein überlegenes logisches Konzept anzuwenden. Manchmal wird gesagt, die Methode von Marx beruhe auf einer logischen »Ableitung« der Kategorien (das Geld aus dem Wert, das Kapital aus dem Geld usw.). Das stimmt z.B. für die sogenannte »Staatsableitungsdebatte«, in der behauptet wurde, daß zur Entwicklung einer marxistischen Theorie des Staates die Kategorie »Staat« abgeleitet werden müsse. Das stimmt, aber wenn man die Ableitung oder die genetische Verbindung in rein logischem Sinne versteht, versteht man den Kern des Marxschen Ansatzes falsch und landet bei einer Theorie, die gesellschaftliche Zusammenhängen als rein logisch versteht und damit letztlich die gesellschaftliche Praxis entmachtet und nicht ermächtigt. Mit der Behauptung, daß Marx' Methode wissenschaftlich sei, soll nicht behauptet werden, daß ihre Logik überlegen oder strenger sei, sondern daß sie der Bewegung des praktischen Produktionsprozesses im Denken folgt (und daher bewußter an ihr teilnimmt). Die Genese läßt sich nur als menschliche Genese begreifen, als Macht der menschlichen Schöpfung.

Wenn wir nun auf den Begriff der »Totalität« zurückkommen und fragen, was den »Standpunkt einer Totalität« (Lukacs) [23] ausmacht, was die Behauptung rechtfertigt, der einzig »wissenschaftlich korrekte« Ansatz bestehe darin, von der Einheit der Vielheit der gesellschaftlichen Erscheinungen auszugehen. Die Antwort muß lauten, daß es die ausschließliche Macht der schöpferischen menschlichen Praxis (Arbeit) ist, die die Totalität als Totalität bestimmt (und daher auch die »Formen« als Formen gesellschaftlicher Verhältnisse konstituiert). Nur wenn der Begriff der Totalität (und der Form und der Kritik) praktisch-genetisch in der Arbeit begründet ist, hat er irgendeine Bedeutung als wissenschaftlich-politischer Begriff der Macht.

Wenn wir die Genese (oder die Ableitung) so, als gedankliche Bewegung der genetischen Macht menschlicher Praxis begreifen, dann können die »einfachsten Bestimmungen«, auf die Marx in der Einleitung von 1857 verweist, nur als Arbeit (die schöpferische Macht menschlicher Praxis) [24] verstanden werden. Die (von Gunn als »bestimmte Abstraktion« beschriebene) [25] Marxsche Methode läßt sich nur dann als wissenschaftlich begreifen, wenn man alle gesellschaftlichen Zusammenhänge, auch den Prozeß der Abstraktion, als praktisch versteht.

Die Objektivität des Kapitalismus, das »so ist es nun mal« der kapitalistischen Realität, hat sich jetzt aufgelöst. Die Begriffe Totalität, Form usw. stellten die Grundlage dar, um die harte Trennung von Subjekt und Objekt zu überwinden und die Trennung begrifflich als Einheit in der Trennung und Trennung in der Einheit zu fassen. Aber nur, wenn diese Begriffe in einen praktisch-genetischen Zusammenhang gestellt werden, verschwindet die Symmetrie von Subjekt und Objekt: Nur dann wird klar, daß es kein Objekt, sondern nur ein Subjekt gibt.

VII

Der Schrei hat nun eine neue Dimension gewonnen. Aus einem Aufschrei der Verneinung, der Ablehnung ist ein Schrei der Macht geworden. Ausgangspunkt war die subjektive Ablehnung der »objektiv existierenden Gesellschaft«: Die Objektivität hat sich nun aufgelöst, und es ist nichts übrig als die Macht des Subjekts. Mit den Ohren der marxistischen Theorie können wir den Schrei der machtlosen Opfer als Schrei des allmächtigen Subjekts wahrnehmen.

Der Schlüssel zu dieser Verwandlung liegt im Begriff der Arbeit. Der Dreh- und Angelpunkt der Theorie von Marx, der der Verneinung Macht verleiht, ist der Begriff der kreativen Kraft der menschlichen Praxis, der Arbeit. Für Marx ist die Menschheit durch ihre bewußte kreative Praxis definiert: »Die freie bewußte Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen«. [26] Der Begriff der Praxis oder Arbeit ist in erster Linie ein Begriff der Macht. Er taucht auf in der Kritik an der in der Religion ausgedrückten Vorstellung von der Machtlosigkeit des Menschen: Nicht Gott ist tätig und kreativ, sondern die Menschen. Sind aber die Menschen tätige, kreative Wesen, so müssen all ihre Beziehungen als praktische Beziehungen, Arbeitsbeziehungen verstanden werden: »Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis« (achte These über Feuerbach). Das Begreifen der Praxis ist der Schlüssel zur Theorie der Gesellschaft, da die Gesellschaft nichts anderes als Praxis ist. Aus diesem Grund spricht Marx zu Beginn im Kapital von der »zwieschlächtigen Natur der in der Ware enthaltenen Arbeit« als dem »Springpunkt, um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht«. [27]

Arbeit, Schöpfung und Praxis werden hier als austauschbare Begriffe verwendet. Arbeit hat im Kapitalismus einen Doppelcharakter als konkrete und abstrakte Arbeit: die (widersprüchliche und widerständige) Unterordung der konkreten unter die abstrakte Arbeit (die Produktion von Wert) bedeutet, daß die Arbeit in einer Form existiert, die die »freie bewußte Tätigkeit«, die »der Gattungscharakter des Menschen ist«, negiert. Der Kapitalismus entmenschlicht die Menschen, indem er ihnen das nimmt, was sie menschlich macht, dies ist die zentrale Kritik von Marx am Kapitalismus. Doch die Existenz der Arbeit als Wert-produzierende Arbeit ändert überhaupt nichts an der alles bestimmenden Macht der Arbeit: Da die Arbeit die einzig schöpferische Kraft der (jeder) Gesellschaft ist, kann das auch gar nicht anders sein. Genau darin liegt die Stärke der Marxschen Werttheorie: Sie ist gleichzeitig eine Theorie der Unterwerfung der Arbeit und die Theorie der ausschließlichen Macht der Arbeit.

Die Arbeit ist also die »einfachste Bestimmung«, (um den Begriff aus der Einführung von 1857 zu verwenden). So verstanden ist Arbeit Subjektivität - praktische Subjektivität, da es keine andere gibt; aber Arbeit ist auch Negativität, da sie die praktische Negation des Bestehenden umfaßt. Die Arbeit konstituiert alles. »Objektivität« ist nichts anderes als objektivierte Subjektivität: es gibt nichts anderes als Subjektivität und ihre Objektivierung (ihre Verwandlung in eine objektive Existenzweise).

Jetzt zeigt sich, daß der subjektive Schrei, der zunächst wissenschaftsfeindlich erschien (und von einem Großteil der akademischen Diskussion auch so behandelt werden würde), wesentlicher Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Überlegung ist. Wenn die Gesellschaft nichts anderes ist als Subjektivität und ihre Objektivierung, dann ist die Subjektivität (Praxis) der einzig mögliche Ausgangspunkt für das Begreifen der Gesellschaft, dann ist das Begreifen der Gesellschaft ein Prozeß, der den (objektivierenden) Formen unserer Subjektivität nachgeht - ein Weg, den die Vorstellung von einer »wissenschaftlichen Objektivität« völlig verbaut. Die Welt läßt sich nur subjektiv, kritisch, negativ und von unten verstehen. Wir begannen mit der Suche nach einer Theorie gegen die Gesellschaft anstatt einer Theorie von der Gesellschaft: Jetzt ist klar, daß sich die Gesellschaft als Objektivierung des Subjekts nur durch eine Theorie gegen die Gesellschaft (eine Theorie, die von der subjektiven Kritik des »Objektiven« ausgeht) begreifen läßt. Eine Theorie der Gesellschaft, die von der vermeintlichen (und notwendigerweise fiktiven) Entfernung (oder Verdrängung) des Subjekts aus der Gesellschaft ausgeht [28], wird die Gesellschaft nicht im Sinne der subjektiven Kraft der Arbeit verstehen können. Sie kann nur die Objektivierung, die das Subjekt entmachtet, für bare Münze nehmen und somit zu dieser Entmachtung ihren Teil beitragen. Die Gesellschaft läßt sich nur negativ, nur durch eine Theorie gegen die Gesellschaft verstehen. [29]

VIII

Ausgehend vom zentralen Begriff der Arbeit als praktische (und theoretische) Subjektivität, als »einfachste Bestimmung« wird es möglich, die Gesellschaft neu zusammenzusetzen, den Prozeß der Objektivierung des Subjekts, die Existenz des Subjekts als Objekt zurückzuverfolgen.

Die Reise zurückzuverfolgen, ausgehend von der Zentralität der Arbeit: Diese Aufgabe stellt sich Marx im Kapital. Ausgehend vom Wert entwickelt er die Entstehung des Geldes, des Kapitals, des Profits usw. als Formen, die das Arbeitsprodukt annimmt, und zeigt gleichzeitig, wie Verhältnisse zwischen Menschen (praktische Verhältnisse, Arbeitsbeziehungen) die Form von Verhältnissen zwischen Dingen annehmen. Diese Existenz von praktischen gesellschaftlichen Verhältnissen als Verhältnissen zwischen Dingen bezeichnet Marx als Fetischismus.

Was bedeutet Fetischismus? Wenn Verhältnisse zwischen Menschen als Verhältnisse zwischen Dingen existieren, wenn also Verhältnisse zwischen Subjekten als Verhältnisse zwischen Objekten existieren, was bleibt dann noch übrig von der Subjektivität, um die es hier geht? Wenn Verhältnisse zwischen Menschen objektiv, in einer bestimmten Form existieren: sind es dann nicht objektive Verhältnisse? Wenn die Kritik am Kapitalismus darin besteht, daß er subjektive Verhältnisse objektiviert, muß die Untersuchung des Kapitalismus dann nicht die Erforschung dieser Objektivität sein?

Durch den Begriff des Fetischismus kommt das Problem des Objektivismus durch die Hintertür wieder herein. Jetzt ließe sich die objektivistische Tradition des Mainstream-Marxismus damit rechtfertigen, daß es nicht um einen simplen Dualismus zwischen Menschen und objektiven Bedingungen geht, sondern darum, daß Menschen, die in Wirklichkeit als Spezies praktische Wesen sind, im Kapitalismus als entmenschlichte, ihrer Subjektivität beraubte Objekte existieren. Jetzt lautet das Argument, daß die Existenz der Menschen als Objekte es uns ermögliche, den Kapitalismus im Sinne der logischen Entfaltung seiner zuerst von Marx im Kapital analysierten und dann von der Tradition der marxistischen Ökonomen untersuchten »objektiven Entwicklungsgesetze« zu begreifen. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist der Klassenkampf ein Kampf gegen die Logik des Kapitals und von dieser klar getrennt.

Diese Rechtfertigung des Objektivismus beruht sozusagen auf einer »harten« Interpretation des Fetischismus (bzw. der Entfremdung, der Verdinglichung, der Objektivierung - lauter unterschiedliche Begriffe für den im Grunde gleichen Prozeß). Der Fetischismus wird als vollendete Tatsache und die fetischisierten Formen als ausschließliche Existenzweise der Verhältnisse zwischen Menschen aufgefaßt.

Das Verständnis vom Fetischismus ist politisch und theoretisch die zentrale Streitfrage des Marxismus. Der harte Fetischismusbegriff führt natürlich zu dem Dilemma: Wenn die Menschen im Kapitalismus als Objekte existieren, wie ist dann eine Revolution denkbar? Für dieses Dilemma gibt es drei mögliche Lösungen. Eine besagt, daß es keinen Ausweg, keine Möglichkeit einer sozialen Revolution gibt, daß wir nur ohne Hoffnung kritisieren können: der oft mit der Frankfurter Schule assoziierte Pessimismus. Eine zweite besagt, daß es sehr wohl einen Ausweg gibt, nämlich die Aktion und Führung durch diejenigen, die sich von ihrem objektiven Zustand befreien können, anders gesagt, durch die Führung einer Avantgardepartei: die leninistische Position. Ein dritte Variante behauptet, daß man sich die Revolution nicht als subjektive Aktion vorstellen sollte, sondern daß die Entfaltung der objektiven Widersprüche selber zum Untergang des Kapitalismus und zur Befreiung des Subjekts führen wird: die Position der Zweiten Internationale. Trotz all ihrer Unterschiede gehen diese Strategien von demselben Ausgangspunkt aus - sie halten den Fetischismus für eine vollendete Tatsache. Wenn man die Menschen als objektiviert versteht, dann führt dies in der einen oder anderen Form zu einer Politik, die sie auch als Objekte behandelt.

Die theoretische Auffassung des Fetischismus wirkt sich auf das theoretische Verständnis aller anderen Kategorien aus. Wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse als objektiviert begreift, dann versteht man auch die Existenzweisen dieser gesellschaftlichen Verhältnisse (und ihre Wechselbeziehungen) als objektiv und ihre Entwicklung als Entfaltung einer in sich geschlossenen Logik. So wird in dieser Tradition z.B. der Wert als ökonomische Kategorie aufgefaßt (oft als Grundlage für eine Preistheorie) und nicht als Form des Klassenkampfes. Ebenso wird das Geld so verstanden, daß es objektiv existiert und Bedingungen schafft, die auf den Klassenkampf zurückwirken, aber es wird nicht selber als eine Form des Klassenkampfes verstanden. All diese Kategorien werden als »geschlossen« betrachtet, im Sinne einer in sich selbst gefangenen Logik.

Dieses Verständnis des Fetischismus führt tendenziell eher zu einer analytischen als einer genetischen Behandlung des Kapitalismus. Tatsächlich fragt sich, welche Bedeutung die genetische Methode (oder die Formanalyse) haben soll, wenn der Fetischismus vollkommen ist. Warum sollen wir die Objektivierung der Subjektivität der Menschen zurückverfolgen, wenn sie objektiviert sind? Wenn nicht die Arbeit, sondern der Wert regiert, warum sollen wir dann noch - wie Marx es verlangte - die Frage stellen, »warum sich die Arbeit im Wert ihres Produktes darstellt«? Der herrschende Ansatz der marxistischen Ökonomie ignoriert die Frage der Genese und der Form ganz einfach. In den Diskussionen z.B. über den Wert wurde der Wertform (im Gegensatz zur Wertgröße) nur wenig Beachtung geschenkt, und Marx' grundlegende Kritik an Ricardo ist unter den Tisch gefallen.

Einen anspruchsvolleren Ansatz, dem es gelingt, den Begriff der Form mit einem »harten« Verständnis des Fetischismus zu verbinden, vertreten diejenigen, die meinen, daß die Formanalyse historisch verstanden werden muß. So gesehen besteht die Bedeutung des Marxschen Bestehens auf der Form einfach darin, die Historizität des Kapitalismus aufzuzeigen. Die Entstehung der Formen gesellschaftlicher Beziehungen muß folglich historisch verstanden werden: Die Errichtung der Herrschaft des Wertes oder des Geldes war ein historischer Prozeß, der in den frühen Jahren des Kapitalismus zur Vollendung gekommen ist. [30] Aus dieser Perspektive läßt sich der Wert als Herrschaftsform fassen, aber nicht als eine Form des Kampfes. Die Wertproduktion als Form, die die Arbeit im Kapitalismus annimmt, ist eine Form kapitalistischer Herrschaft im Gegensatz zur vergangenen und vor allem zukünftigen Befreiung der Arbeit.

Innerhalb der marxistischen Tradition ist die harte Interpretation des Fetischismus zweifellos der herrschende Ansatz, und das hat sicher viel mit den schlimmsten Auswüchsen der kommunistischen politischen Tradition zu tun, Menschen eher als Objekte denn als Subjekte der Politik zu behandeln. Vorsichtig ausgedrückt liegt diese harte Interpretation des Fetischismus auf einer Linie mit dem für einen Großteil der Avantgardetradition typischen Autoritarismus.

Aber es gibt eine Alternative zu dieser Auffassung vom Fetischismus, eine andere Möglichkeit, wie die »Rückverfolgung der Reise« zu verstehen ist, die Marx im Kapital antritt. Ernst Bloch bringt dies recht eindrucksvoll auf den Punkt:

»Entfremdung könnte nicht einmal notiert, gar als solch Freiheitsraubendes an den Menschen, solch Entseelendes in der Welt verurteilt werden, wenn es kein Maß an ihrem Gegenteil gäbe, also an jenem möglichen Zusichkommen, Beisichsein, woran die Entfremdung ermessen werden kann.« [31]

Der Begriff der Entfremdung, oder des Fetischismus, bedingt mit anderen Worten seinen Gegensatz: nicht als wesentliches, nicht-entfremdetes »Zuhause« tief in uns drin, sondern als Widerstand, Verweigerung, Ablehnung der Entfremdung in unserer täglichen Praxis. Wir können die Entfremdung oder den Fetischismus nur ausgehend von einem Begriff von Nicht- (oder besser Anti-) Entfremdung oder Anti-Fetischismus denken. Daher läßt sich der Fetischismus nicht als vollendet begreifen: er läßt sich nur als Prozeß begreifen, als Fetischisierung.

Wenn wir den Fetischismus als Fetischisierung begreifen, dann ist die Entstehung der kapitalistischen Formen der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur von historischem Interesse. Die Wertform, Geldform, Kapitalform, Staatsform usw. sind mit dem Beginn des Kapitalismus nicht ein für alle Mal errichtet worden. Stattdessen stehen sie permanent zur Debatte, als Formen gesellschaftlicher Verhältnisse werden sie ständig in Frage gestellt, durch den Kampf werden sie beständig errichtet und neu errichtet (oder auch nicht). Die Formen der gesellschaftlichen Beziehungen sind Prozesse der Formierung gesellschaftlicher Verhältnisse. [32]

Unsere Existenz ist dann nicht einfach eine in fetischisierten Formen gesellschaftlicher Verhältnisse eingeschlossene Existenz. Wir existieren nicht nur als objektivierte Opfer des Kapitalismus. Genausowenig können wir außerhalb der kapitalistischen Formen bestehen: Es gibt keinen Kapitalismusfreien Raum, keine privilegierte Sphäre eines nicht-fetischisierten Lebens, da wir uns immer durch unser Verhältnis zu anderen konstituieren und konstituiert werden. Wir existieren vielmehr, wie der Ausgangspunkt dieser Diskussion, der Schrei, nahelegt, gegen das und im Kapital. Unsere Existenz gegen den Kapitalismus ist keine Frage der bewußten Entscheidung, sie ist notwendiger Ausdruck unseres Lebens in einer unterdrückenden und entfremdenden Gesellschaft. Gunn sagt dazu sehr schön, daß »die Unfreiheit einzig als (in sich widersprüchliche) Revolte der Unterdrückten weiterbesteht«. [33] Unsere gegen das Kapital gerichtete Existenz ist die unvermeidliche ständige Negation unserer Existenz im Kapital. Umgekehrt ist unsere Existenz im Kapital (oder genauer gesagt, unser Eingesperrtsein im Kapital) die beständige Negation unserer Revolte gegen das Kapital. Unser Eingesperrtsein im Kapital ist ein beständiger Prozeß der Fetischisierung oder Formierung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, ein ständiger Kampf.

Diese Auffassung vom Fetischismus als Fetischisierung und somit unserer Existenz in der kapitalistischen Gesellschaft als einer Existenz gegen das Kapital und im Kapital hat Folgen für unsere Auffassung aller Marxschen Kategorien. Wenn wir die Formen gesellschaftlicher Verhältnisse (ausgedrückt in den Kategorien der politischen Ökonomen) als Prozesse der Formierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und somit als Kampf begreifen, dann liegt es auf der Hand, daß wir die Kategorien als offen verstehen müssen. Wenn wir z.B. den Wert weder als ökonomische Kategorie noch als Herrschaftsform, sondern als Form des Kampfes verstehen, dann hängt die tatsächliche Bedeutung der Kategorie vom Verlauf des Kampfes ab. Sind die Kategorien des Denkens einmal als Ausdruchsweisen des Kampfs um ihre Verobjektivierung statt als objektivierte gesellschaftliche Verhältnisse gefaßt, dann fegt ein Sturm der Unvorhersehbarkeit durch sie hindurch. Wenn wir einmal verstanden haben, daß Geld, Kapital und Staat nichts anderes sind als der Kampf um die Gestaltung, Disziplinierung und Strukturierung dessen, was Hegel die »bloße Unruhe des Lebens« nennt, so wird deutlich, daß ihre Entwicklung nur als Praxis, als Kampf ohne vorherbestimmten Ausgang verstanden werden kann. [34] Als Theorie des Kampfes ist der Marxismus notwendig eine Theorie der Ungewißheit. [35] Der Begriff des Kampfes verträgt sich nicht mit der Vorstellung einer garantierten Negation der Negation als Happy-End: Die Dialektik läßt sich nur als negative Dialektik verstehen [36], als Negation der Falschheit mit offenem Ende, als Revolte gegen die Unfreiheit.

IX

Die Methode von Marx ist eine Bewegung der Machtentfaltung/Entmachtung.

Die Politik der Methode ist ein grundlegendes Thema dieses Artikels. Es ist dringend notwendig, den Marxismus zu öffnen, die hergebrachten Interpretationen der Marxschen Methode in Frage zu stellen, und zwar nicht aus theoretischen, sondern aus politischen Gründen. Eines der wesentlichen Hindernisse bei diesem Projekt einer Öffnung des Marxismus ist, daß es immer noch sehr üblich ist, Fragen der Marxschen Methode so zu diskutieren, als hätten sie überhaupt nichts mit Politik zu tun. Der Stil vieler der bedeutendsten Kritiken am traditionellen Marxismus läßt vermuten, daß die Autoren im Reich der reinen Theorie schweben und kaum ein Interesse an den politischen Folgerungen der von ihnen behandelten Themen haben.

Die Frage nach der Methode ist die Frage nach der revolutionären Macht - wenn auch nicht im leninistischen Sinne. In einem 1927 in Moskau gehaltenen Vortrag über »abstrakte Arbeit und Wert im Denken von Marx« verweist I.I. Rubin [37] auf die bereits zitierte Textstelle aus der »Einleitung« zu den Grundrissen, er beschreibt dort die Marxsche Methode als aus zwei begrifflichen Schritten, nämlich einem analytischen und einem dialektischen oder genetischen Schritt bestehenden Ansatz. Die politischen Schlußfolgerungen der Argumentation Rubins werden in dem Vortrag an keiner Stelle ausgesprochen, dennoch sollten sie ihn das Leben kosten - er verschwand in den stalinistischen Säuberungen. Möglicherweise hatten Stalin und seine Handlanger begriffen, daß der in der Marxschen Methode angelegte Begriff von Macht und Revolution mit der Richtung, die die russische Revolution eingeschlagen hatte, vollkommen unvereinbar war.

Die analytische Vorgehensweise der Methode von Marx versucht, die revolutionäre Frage zu beantworten: wie können wir uns die Macht der Machtlosen vorstellen? Eine absurde Frage, da alles in dieser Gesellschaft uns sagt, daß die Machtlosen machtlos sind und die Politiker, die Mafia, die Drogenbarone und die Reichen die Macht haben. Die Frage ist notwendig, da es immer deutlicher wird, daß eine Zukunft der Menschheit ohne diese Antwort nicht denkbar ist.

Wenn wir die Formen der gesellschaftlichen Verhältnisse untersuchen, die beständig die Macht der anderen und unsere Machtlosigkeit verkünden (Gott, Geld, Kapital, Staat, Drogenbarone), dann wird es möglich, eine Macht zu entdecken, die all dies konstituiert und von der daher alles abhängig ist: die alles bestimmende Macht der ArbeiterInnen [labour], der Arbeit [work], der kreativen Praxis. Die Macht der Machtlosen wird durch das bestimmt, was sie (uns) zu Menschen macht, nämlich die Arbeit [work]. Die Macht der Machtlosen besteht in der Abhängigkeit der Mächtigen von den Machtlosen.

Dies ist eine absurde Antwort auf eine absurde Frage, eine notwendige Antwort auf eine notwendige Frage. Die analytische Vorgehensweise befindet sich auf dem Weg zur Machtentfaltung: Hinter all den Formen unserer Machtlosigkeit verbirgt sich die eine Sache, die uns allmächtig macht: die Arbeit. Dies ist die erste, offensichtliche und meist übersehene Bedeutung der Arbeitswerttheorie. Es ist ein lauter Schrei aus prall gefüllten Lungen: »Als ArbeiterInnen sind wir Menschen allmächtig«. Dieses Thema zieht sich durch Marx' gesamtes Werk, von der frühen Religionskritik bis hin zur großartigen Ausarbeitung im Kapital. Damit wird die Welt vom Kopf auf die Füße gestellt: Von hier aus können wir die Welt ganz anders neu zusammensetzen, als dies die »Sozialwissenschaften« tun.

Der zweite Schritt, den Rubin die dialektische Bewegung nennt, verfolgt die Spur der Entmachtung unserer Allmacht: wie es angeht, daß unsere Allmacht in Form der Machtlosigkeit der Arbeit erscheint. Wenn wir begriffen haben, daß die Arbeit die Substanz des Wertes ist, dann fragt sich, warum das Produkt der Arbeit die Form des Wertes annimmt?

Die Fetischisierung, der Prozeß, dem die zweite Phase der Marxschen Methode nachspürt, ist ein Prozeß mit zwei Gesichtern. Auf der einen Seite dreht es sich um die Entmachtung der Arbeit. Das in Ware, Wert, Geld, Kapital verwandelte Arbeitsprodukt erscheint nicht länger als Arbeitsprodukt: Durch den Prozeß der Fetischisierung wird die Macht der Arbeit (nie vollständig) ausgelöscht. Die Fetischisierung ist der Prozeß, durch den die Macht der Arbeit (niemals vollständig) die Form des Geldes, des Staates, des Kapitals annimmt, der Prozeß, in dem die Arbeit (niemals vollständig) auf abstrakte, wertproduzierende Arbeit reduziert wird, der Prozeß, durch den jegliche alternative Zukunft zunichte gemacht wird, aber niemals vollständig.

Auf der anderen Seite ist die Entmachtung der Arbeit unmöglich, da sie die Quelle aller gesellschaftlichen Macht ist. Streng genommen ist die Fetischisierung die Verwandlung der Macht der Arbeit. Wie gut es dem Kapital auch gelingen mag, die Arbeit auf abstrakte, wertproduzierende Arbeit zu reduzieren: seine Existenz bleibt immer abhängig von der Arbeit. Der Kapitalismus gründet sich auf die Objektivierung der subjektiven Arbeit, aber wie vollkommen diese Objektivierung auch sein mag: Sie bleibt die Objektivierung des Subjektiven. So absolut und terroristisch die Herrschaft des Kapitals auch ist: Es kann sich niemals aus seiner Abhängigkeit von der Arbeit befreien. Die Abhängigkeit des Kapitals von der Arbeit existiert als Widerspruch innerhalb des Kapitals.

Somit existiert die Macht der Arbeit gegen das Kapital und im Kapital, ohne eine klare Unterscheidung zwischen »gegen« und »im«. Wir gehen vom Kampf aus: vom Schrei, von unserem offenen Widerstand gegen das Kapital, von der Existenz der Arbeit gegen das Kapital, von der zersetzenden Macht der Arbeit, die sich in Streiks, Sabotage, Absentismus und allen möglichen Kampfmaßnahmen ausdrückt. Dieser Widerstand findet nicht immer offen statt, oft wird er eingedämmt, oft wird er integriert: die zersetzende Macht der Arbeit wird als produktive Macht eingespannt. Hier gibt es keine harten Schranken, keine klaren Trennungslinien: es gibt ein Kontinuum zwischen der Macht der Arbeit gegen das Kapital und der Macht der Arbeit im Kapital. In gewissem Maße ist die produktive Macht immer auch zersetzend, die Revolte ist niemals gänzlich abwesend. Die Macht der Arbeit ist immer präsent, auch wenn sie fetischisiert oder eingedämmt wird. Sie erscheint als Widerspruch zwischen abstrakter und konkreter Arbeit, zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, zwischen produktivem Kapital und Geldkapital. Sie erscheint als Grenze der Ausdehnung des absoluten Mehrwerts, als Widerspruch der Produktion des relativen Mehrwerts, der sich im tendenziellen Fall der Profitrate ausdrückt. Der Widerspruch ist der fetischisierte Ausdruck der immer vorhandenen Macht der Arbeit [labour]. Die Verwandlung des Arbeitsproduktes in den Wert dämmt die Macht der Arbeit ein, von der das Kapital abhängig ist, aber diese Verwandlung reproduziert ebenso die unauslöschliche chaotische Zerbrechlichkeit im Herzen des Kapitals.

Der besondere Beitrag des Marxismus als Theorie gegen den Kapitalismus besteht somit nicht darin, daß »objektive Widersprüche« des Systems den Kampf gegen den Kapitalismus begünstigen, sondern darin, daß die Zerbrechlichkeit des Kapitalismus in der - offenen wie gefangenen - Macht der Arbeit besteht. Die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung (also des Klassenkampfes) besteht in der unaufhörlichen und hoffnungslosen Flucht des Kapitals aus seiner Abhängigkeit von der Macht der Arbeit. In diesem Sinne muß die Frage der kapitalistischen Krise verstanden werden.

In Zeiten wie heute, nachdem die Arbeiterbewegung so viele Niederlagen eingesteckt hat, scheint die Macht der Arbeit außer Sicht geraten zu sein. Die Probleme des Kapitalismus erscheinen als Resultat ökonomischer Gesetze, die scheinbar nichts mit Kämpfen zu tun haben, die die Grundlage für eine andere Art von Gesellschaft legen könnten. Die Arbeit mag die »einfachste Bestimmung« sein, aber sie scheint mit der gegenwärtigen Machtlosigkeit der oppositionellen Bewegungen nichts zu tun zu haben. In dieser Situation wird es wichtiger denn je, »die Reise zurückzuverfolgen«, die Macht der Arbeit nicht nur begrifflich, sondern auch historisch zu entfalten, die jüngste Geschichte als Kampf des Kapitals um die erneute Fetischisierung der Macht der Arbeit zu interpretieren, zu zeigen, wie diese erneute Fetischisierung sowohl die Revolte entwaffnet als auch die Macht der Arbeit als Instabilität des Kapitalismus reproduziert: eine Botschaft der Warnung und eine Botschaft der Hoffnung.


Fußnoten:

[1] Warum der Marxismus keine Theorie von der Gesellschaft ist, begründet R. Gunn in »Against Historical Materialism: Marxism as a First-Order-Discourse«, in W. Bonefeld, R. Gunn und K. Psychopedis (eds), Open Marxism, Vol. II, Pluto Press, London, 1992.

[2] W. Bonefeld, »The Reformulation of State Theory«, in W. Bonefeld und J. Holloway (eds), Postfordism and Social Form, Macmillan, London, 1992.

[3] N. Poulantzas, Political Power and Social Classes, New Left Books, London, 1973.

[4] Siehe hierzu die Einleitung zu Open Marxism, Volume I, Pluto Press, London, 1992.

[5] M. Tronti, »Lenin in Inghilterra«, in Operai e Capitale, Torino 1966/1971, S. 89; gibt es auf deutsch in Die Goldene Horde, Verlag Schwarze Risse Berlin/Rote Strasse Göttingen, Berlin 1994, S. 93.

[6] ebenda.

[7] Y. Moulier, »Einleitung«, in A. Negri, The Politics of Subversion, Polity Press, Oxford, S. 19.

[8] Zitiert ebenda

[9] Auch die andere Interpretation, die argumentiert, daß das Kapital von der Arbeit abhängig ist, da es Produkt der Arbeit ist, finden wir in einigen »operaistischen« [»autonomist«] Diskussionen. Etwa in einem Abschnitt aus einem späteren Artikel von Tronti: »Wenn die Bedingungen des Kapitals in der Hand der Arbeiter sind, wenn es im Kapital kein aktives Leben gibt ohne lebendige Tätigkeit der Arbeitskraft, wenn das Kapital schon als Folge der produktiven Arbeit entsteht, wenn es keine kapitalistische Gesellschaft gibt ohne Vermittlung des Kapitals durch die Arbeiter, und wenn es also kein gesellschaftliches Verhältnis ohne Klassenverhältnis gibt und kein Klassenverhältnis ohne Arbeiterklasse - dann kann man zu dem Schluß kommen, daß die Klasse der Kapitalisten bereits als der Arbeiterklasse tatsächlich untergeordnete besteht« (Mario Tronti, »The Strategy of Refusal«, in Working Class Autonomy and Crisis, S. 10. Hier zitiert aus THEKLA 9, Sisina Verlag, Berlin, S. 194).

[10] A. Negri, »Keynes and the Capitalist Theory of the State post-1929«, in Revolution Retrieved, Red Notes, London 1988. Deutsch in T. Negri, Zyklus und Krise bei Marx, Internationale Marxistische Diskussion 26, Merve Verlag.

[11] ebenda.

[12] Siehe F. Guattari und A. Negri, Communists Like Us, Semiotext(e), New York, 1990.

[13] Eine zusammenfassende Diskussion der »operaistischen« [»autonomist«] Theorie findet sich bei W. Bonefeld, »Human Praxis and Perversion: Beyond Autonomy and Structure«, Common Sense, Nr. 15, 1994.

[14] Karl Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 95, Fußnote 32.

[15] Siehe hierzu die wichtigen Beiträge in R. Gunn, »Against Historical Materialism«.

[16] G. Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Luchterhand, 1968, S. 94.

[17] Die Formanalyse ist z.B. zentraler Bestandteil der sogenannten »Staatsableitungsdebatte«. Siehe hierzu J. Holloway und S. Picciotto, State and Capital: A Marxist Debate, Edward Arnold, London, 1978.

[18] Siehe R. Gunn, »Against Historical Materialism«.

[19] K. Marx, Grundrisse, 1857, S. 21-22.

[20] K.Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 393.

[21] K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW 1, S. 378.

[22] K. Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 94.

[23] G. Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein.

[24] K. Marx, Grundrisse, »Einleitung«.

[25] R. Gunn, »Against Historical Materialism«, S. 17.

[26] K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844, Ergänzungsband zu MEW/Erster Teil, S. 516.

[27] K. Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 56.

[28] Siehe R. Gunn, »Against Historical Materialism«.

[29] Daher die Kraft des revolutionären Denkens bei Hegel als dem Theoretiker der Französischen Revolution, oder bei Marx, dem Theoretiker der revolutionären Bewegungen zur Mitte des 19. Jahrhunderts.

[30] So z.B. B. Jessop, »Polar Bears and Class Struggle: Much Less than a Self-Criticism«, W. Bonefeld und J. Holloway, Postfordism and Social Form, und J. Hirsch, »The State Apparatus and Social Reproduction. Elements of the Theory of the Bourgeois State«, in J. Holloway und S. Picciotto, State and Capital.

[31] Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, Suhrkamp, Frankfurt, 1963, S. 113.

[32] Dies bezieht sich auf das Argument, das die weiterhin bestehende Bedeutung der ursprünglichen Akkumulation betont. Siehe W. Bonefeld, »Class Struggle and the Permanence of Primitive Accumulation«, Common Sense, Nr. 6, 1988; und Dalla Costas Artikel in der vorliegenden Ausgabe (Open Marxism Volume III).

[33] R. Gunn, »Against Historical Materialism«, S. 29.

[34] Siehe W. Bonefeld, R. Gunn und K. Psychopedis, Open Marxism, Vol. Iund Vol II, Pluto Press, London, 1992.

[35] Siehe auch den Artikel von Kosmas Psychopedis in der vorliegenden Ausgabe (Open Marxism, Vol. III)

[36] So T.W. Adorno, Negative Dialektik.

[37] I.I. Rubin, »Abstract Labour ans Value in Marx's System«, Capital & Class, Nr. 5, 1978.


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