Die Politik des neuesten Trends
Dieses Thema hört sich etwas seltsam, wenn nicht gar völlig abseitig an. Was ist mit dem »neuesten Trend« gemeint, und inwiefern macht es Sinn, bei »Trends« von einer Politik zu sprechen? Was haben Politik und der »neuste Trend« miteinander zu tun?
Im Laufe der letzten 25 Jahre, also seit Mitte der 70er Jahre, sind immer neue Forschungsansätze und Leitbegriffe wie Risikogesellschaft, Postmoderne, desorganisierter Kapitalismus, Postindustrialismus, Postfordismus und Globalisierung eingeführt worden. Die Sozialwissenschaften haben sich als unglaublich innovationsfähig erwiesen. Die Vertreter dieser neuen Begriffe und Forschungsansätze behaupten, sie seien notwendig, um die gegenwärtig laufenden Veränderungen verstehen zu können. Aber während die »Linke« scheinbar verzweifelt ihr einstiges marxistisches Erbe hinter sich läßt, hat die kapitalistische Welt gleichzeitig ihre liberalistischen Wurzeln wiederentdeckt. Ich sage »wiederentdeckt«, nicht weil diese liberalen Ursprünge jemals verlassen worden wären, sondern weil der Liberalismus vor allem in den 50er und 60er Jahren als Keynesianismus verkleidet daherkam. Der Keynesianismus lief nicht auf eine Theorie und Praxis des »dritten Wegs« zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und geplantem Sozialismus hinaus. Wichtig war er, weil er ideologisch einen reformierten und gezähmten Kapitalismus vorgaukelte, der im Namen von Demokratie und Staatsbürgerschaft eine Rettung verhieß. Die Wiederentdeckung des Liberalismus in den 70er Jahren war also keine eigentliche »Wiederentdeckung«, sondern faktisch eine Rückkehr zu den grundlegenden Prinzipien ohne die ideologischen Projektionen des Keynesianismus. Während die Linke sich also bemüht, ihre marxistischen Ursprünge hinter sich zu lassen, kehrt die kapitalistische Welt ohne jede Scham, und ohne daß das überraschend wäre, zu ihren Urspüngen zurück, feiert die Errungenschaften von Adam Smith und behauptet, seine Theorie der »unsichtbaren Hand« biete eine Lösung für die kapitalistische Krise. Die politische Rechte schaut mit anderen Worten in die Vergangenheit, um eine Rettung für die Zukunft zu finden, und die politische Linke gibt Smiths wichtigsten Kritiker auf - sie gibt Marx auf und ersetzt die Kritik an Smith durch Begriffe und theoretische Perspektiven, aus denen sich zu ergeben scheint, daß der Kapitalismus kein Kapitalismus mehr ist. Die Welt der neuen Linken erscheint als postindustrielle Welt, als postmoderne Welt, als Post-Klassen-Welt - mit anderen Worten als Welt jenseits der Grenzen der politischen Ökonomie. Manche mögen jetzt antworten, daß diese Einschätzung, was den Postindustrialismus usw. angeht, ja vielleicht stimmt, aber daß die jüngsten Globalisierungs- und Postfordismus-Theorien doch Fragen anschneiden, die klar in die Tradition der politischen Ökonomie, einschließlich Marx' Kritik der politischen Ökonomie, gehören. Diese Antwort hätte gute Argumente auf ihrer Seite, wäre aber trotzdem irreführend. Ich will in diesem Papier zeigen, daß die jüngsten Globalisierungs- und Postfordismus-Theorien untrennbar mit der Programmatik und dem Projekt des Neoliberalismus verbunden sind, das letztlich auf eine Welt hinausläuft, die völlig auf neoliberalen Prinzipien zugeschnitten ist. Natürlich gefällt der neuen Linken das ungezügelte Wirken der Kräfte des Marktes, das der Neoliberalismus propagiert, nicht. Aber ob einem etwas »gefällt«, ist letztlich nur eine Geschmacksfrage. Ich will also darauf hinaus, daß sogar die irgendwie politökonomischen Vorschläge der neuen Linken die »Politik« aufgegeben haben. Und damit haben sie im Grunde den Begriff der »Totalität« aufgegeben, der nicht nur bei Marx, sondern auch bei Adam Smith zentral ist. Die politische Rechte hat zwar immer gern den Marxismus wegen seines totalisierenden Denkens lächerlich gemacht, aber sie selbst hat die »Totalität« in Wirklichkeit nie aufgegeben: Der Markt ist alles, und alles leitet sich aus dem Markt selbst ab. Tatsächlich hatte der Liberalismus schon immer großes Vertrauen auf die Macht des Marktes, ein so großes Vertrauen, daß er es nicht für nötig hielt, die gesellschaftliche Konstitution des Marktes zu untersuchen, mit der Begründung, daß der Markt sei schon immer von einer unsichtbaren Hand gelenkt worden. Dieses Vertrauen auf das Unsichtbare als wirkungsvolle, leistungsfähige und gerechte Allmacht ist seit dem Beginn der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse ungebrochen. Marx und die sich auf ihn beziehende Tradition kritisierte diese unsichtbaren Prinzipien. Ich will darauf hinaus, daß die Globalisierungstheorien eben diese Kritik aufgegeben haben. Insofern ordnen sich politökonomische Fragestellungen der neuen Linken völilg der neoliberalen Anbetung unsichtbarer Prinzipien unter. Auch wenn der neuen Linken die hart zuschlagende unsichtbare »Hand« vielleicht nicht »gefällt«, so muß sie sie doch anerkennen, denn wenn man den »Markt« anerkennt, dann ist auch die List der Vernunft nichts anderes als das Projekt des Unsichtbaren.
Deshalb erscheint das Thema unseres Treffens, die Politik des neuesten Trends, nicht mehr so abseitig, wie es vielleicht auf den ersten Blick aussieht. Ich werde zunächst kurz die Entwicklung der »Linken« seit den 60er Jahren umreißen. Dann folgt eine Einführung in die aktuellen theoretischen Konzeptionen des »neuesten Trends«. Im Schlußteil werde ich die Argumentation zusammenfassen und die Bedeutung unseres Themas noch einmal neu einschätzen.
Ein kurzer Überblick über die Linke seit den 60er Jahren
Ende der 60er Jahre sah es so aus, als sei der Marxismus gerade dem Jungbrunnen entstiegen. Schon Mitte der 70er Jahre zeigten sich erste Risse, denn einstige Jünger des Marxismus erwiesen sich als Jünger der Mode. In den 60er Jahren war der Marxismus in und angesagt, aber schon Mitte der 70e Jahre war er es nicht mehr. Neue »Ismen« wie der Postindustrialismus, die ersten Blüten des Postmodernismus und Studien über die Krise des Sozialstaates erschienen. Diese neuen Richtungen rückten ab von der Strenge der marxistischen Analyse. Die Krise der kapitalistischen Reproduktion, die sich zum Beispiel als Krise des Staates und seiner sozialdemokratischen Ausrichtung zeigte, schien nach einer »realistischeren« Ausrichtung zu verlangen, die die Form wertfreier akademischer Forschung annahm (wie bei Offe und anderen sogenannten kritischen Theoretikern der zweiten Generation). Andere wiederum konzentrierten sich auf »neue Formen« des Kampfes und betonten das »Marginale« als das Wesen der Überwindung des Kapitalismus, ohne die Ausbeutungsverhältnisse überhaupt noch zu berühren. Diese als Postindustrialismus oder Postmaterialismus bekannte Forschung rückte die Ökologie und den Lifestyle in den Mittelpunkt des politischen Interesses. Man verkündete den Abschied von der Arbeiterklasse, und wo der Marxismus weiterging, trat er fortan als Strukturalismus auf - eine Form des Denkens, in der alle gesellschaftliche Praxis auf ein Handeln reduziert wird, dessen lebendige Existenz angeblich in der Lage ist, Strukturen (!) zu reproduzieren. Daher war Agliettas wichtige Untersuchung, die die mit der Regulationsschule verbundene Wachstumsbranche und ihre Vorstellung eines Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus begründete, nur daran interessiert, welche Mechanismen nötig seien, um die Reproduktion des Kapitalismus sicherzustellen. Diese Untersuchung wurde erstmals 1974 in Frankreich veröffentlicht. Der Zeitpunkt ist wichtig. Die meisten Kommentatoren sind sich einig darüber, daß die politische Stabilität nachhaltig vom Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods zwischen 1971 und 1973 beeinträchtigt wurde und daß die bereits bestehende tiefe kapitalistischen Überakkumulationskrise von der Ölkrise 1974 weltweit beschleunigt und verschärft wurde. Deshalb ist es wichtig, daß Agliettas Untersuchung genau damals veröffentlicht wurde.
Während die Postindustriealisten und die Postmaterialisten also ihren Abschied von der Arbeiterklasse verkündeten, betonten vom Marxismus inspirierte Politökonomen wie Aglietta, was getan werden müßte, um die Akkumulation menschlicher Körper in Namen der Selbstausdehnung des Kapitals zu regulieren.
Diejenigen, für die die Erneuerung der marxistischen Kritik in den 60er Jahren mehr war als modische Übung, erlebten die 70er Jahre als besonders schweres Jahrzehnt. Der Heiße Herbst 1977 in Italien und Deutschland zeigte, wie gefährlich es war, am Projekt eines aufgeklärten und aufklärenden Marxismus festzuhalten. Einigen drohte der Verlust des Arbeitsplatzes im öffentlichen Dienst, wenn nicht sogar Gefängnis, während andere meinten, sie müßten Loyalitätserklärungen an die Grundprinzipien von Staat und Gesellschaft abgeben. Die Hexenjagd gegen linke Intellektuelle und Professoren veränderte das intellektuelle Klima tiefgreifend und führte zu einem »Wertewandel« mit größerem Einfluß liberaler Ideen und Interpretationen.
Der Machtantritt der neokonservativen Parteien und die monetaristische Wende der amtierenden sozialistischen Parteien verstärkte den Glauben, daß man statt einer strengen marxistischen Kritik am besten eine Vermeidungsstrategie fahren sollte: um nämlich die schlimmsten Auswirkungen der neoliberalen Politik zu vermeiden. Außerdem wurde durch die Entwicklung der grünen Bewegung zu einer bei Wahlen erfolgreichen grünen Partei, besonders in Deutschland, die Auseinandersetzung über außerinstitutionelle oder institutionelle Kämpfe neu entfacht. Die Grünen etablierten sich erfolgreich, und aus den ehemaligen »Radikalen« wurden gewendete Parlamentarier mit Verantwortungsgefühl für die parlamentarische Demokratie. Habermas, der nur zehn Jahre vorher geächtet wurde, weil er die studentische Linke als »Linksfaschisten« denunziert hatte, konnte nun eine Politik des Verfassungspatriotismus propagieren, ohne daß ihm jemand widersprochen hätte. Auch die eurokommunistischen Parteien gingen unter bzw. integrierten sich ins politische System: entweder indem sie in Koalitionsregierungen einstiegen (wie in Frankreich) oder indem sie eine Politik des Historischen Kompromisses betrieben (wie in Italien; auch wenn der Historische Kompromiß nach der Ermordung Aldo Moros nie formell besiegelt wurde). Der Zeitgeist der 80er Jahre unterschied sich grundlegend von dem der 60er Jahre. Tatsächlich verkündete Althusser Ende der 70er Jahre, der Marxismus befinde sich in der Krise. Er meinte damit natürlich eine Krise des strukturalistischen Marxismus. Diese Krise sollte man zwar nicht so tragisch nehmen, aber sie zeigte doch eine tiefgreifende Veränderung im linken intellektuellen Klima. Poulantzas beging Selbstmord, und Althusser selbst »entschied« sich für den geistigen Tod: Er wurde buchstäblich verrückt.
Vor diesem Hintergrund erlangten die neuen postmodernen, postindustriellen und postmaterialistischen wie auch feministischen Politikansätze immer größere Glaubwürdigkeit als akademische Forschungsgebiete. Die totalisierende Kritik des Marxismus mit ihrer Betonung der Ware als Fetischismus und ihrer Kritik der ökonomischen Kategorien wurde gegen sich selbst gewendet. Der Totalität wurde vorgeworfen, sie würde auf Totalitarismus hinauslaufen, der Kritik des Fetischismus wurde vorgeworfen, sie sei für die Produktivität um der Produktivität Willen, und der Kritik der ökonomischen Kategorien wurde vorgeworfen, sie sei marxistischer Ökonomismus. Am fürchterlichsten war der Vorwurf, Marx' Kritik an Ricardos Arbeitswerttheorie vertrete eine produktivistische Sichtweise, in der nur männliche Industriearbeit als gesellschaftlicher Wert gelte (!). Natürlich vertrat Marx diese Sichtweise. Und zwar vertrat er sie, weil die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse die Arbeit in genau dieser beschränkten produktivistischen Weise konstituieren. Daß er diese Sichtweise vertrat, hieß aber nicht, daß er sie seine guthieß. Im Gegenteil kritisierte er die Reduzierung der »Arbeit« auf einen bloßen Faktor in der kapitalistischen Produktivität insgesamt. Das ergibt schon ein flüchtiger Blick in seine Schriften. Marx' Kritik der politischen Ökonomie wurde aber gegen ihn selbst gedreht, und es wurde behauptet, Marx habe keine Kritik der politischen Ökonomie geleistet, sondern eine andere Art von Ökonomie begründet, eine Ökonomie, die eine Arbeiterrepublik, eine Republik der Arbeit konstituiere. Wenn man sich Marx' Schriften ansieht, sieht man, daß die Reduzierung der ArbeiterInnen auf menschliche Maschinen im Kapitalismus hier böswillig mit Marx' Kritik an dieser Entfremdung der Arbeit im Kapitalismus verwechselt wird. Die »neue Linke« des Post-Irgendwas betrieb also eine Denunziation des Marxismus, wie sie früher die Feinde des Marxismus betrieben: die Bourgeoisie und ihre schwatzenden intellektuellen »Klassen«. Die »Neue Linke« sprach sich für die Emanzipation von »Minderheiten«, einschließlich Tieren und Pflanzen aus. Die in den 90er Jahren so betonte Identitätspolitik und Konzentration auf den Lifestyle war schon in den 70er Jahren angelegt. Das Vermächtnis der 70er Jahre ist die Propagierung individualistischer Vorstellungen von Selbstbestimmung und von der Autonomie des Ich, eine Forderung, die gut in die Ideologien der neoliberalen Rechte paßt. Natürlich sollten man den Individuen Mut machen, sich selbst zu bestimmen. Aber in einer Gesellschaft, die den »Wohlstand« ausbreitet, indem sie die Besitzlosen in Armut hält, kann sich das Individuum nur auf der Grundlage seiner individuellen Konkurrenzfähigkeit selbstbestimmen.
Insgesamt sprach sich die neue marxistische Linke seit den 60er Jahren für den Sozialismus aus, ohne sich auf irgendwelche genauen Vorstellungen darüber festzulegen, wie so eine vielleicht Gesellschaft aussehen würde. Vor allem ging es ihr darum, die Marx'sche Kritik der politischen Ökonomie wiederzubeleben. Die wenigsten hatten genaue Pläne für den Sozialismus in der Schublade liegen. Aber die Befürwortung des Sozialismus bedeutete keine Befürwortung des »realexistierenden« Sozialismus im damaligen Ostblock. Wenn überhaupt, so kritisierte die neue marxistische Linke seit den 60er Jahren den realexistierenden Sozialismus viel strenger als konservative Kritiker. Sie ließen sich nicht von Lenin, sondern von Rosa Luxemburg inspirieren.
Trotzdem meinten viele nach dem Fall der Berliner Mauer 1989, daß es keine Alternative zum Kapitalismus gäbe. Es wird also angenommen, daß die sozialistische Linke seit den 60er Jahren den Sozialismus im Osten als ihre Utopie ansah. Daß Befürworter des Kapitalismus das Ende der Geschichte, das Ende des Sozialismus verkünden, ist wohl nicht gerade überraschend. Solche Verkündungen sind sozusagen ihr Beruf und Geschäft, und es wäre im Gegenteil überraschend, wenn sie nicht das Ende der Geschichte fordern würden. Am vehementesten aber verkünden Leute das Ende des Sozialismus und befürworten das Gespenst des Kapitalismus, die sonst eher zur Linken gerechnet werden. Offe, um nur einen Autor zu nennen, sieht seine Position aus den 70er Jahren bestätigt: Es gibt keine Alternative zur liberalen Demokratie und zu marktzentrierten Produktionssystemen. Hirsch, den einige für einen der letzten guten marxistischen Kritiker halten, fordert das Ende der »negativen Kritik«, da sie - zumindest vorläufig - veraltet sei und schwierige Zeiten positive politische Vorschläge erfordern, wie er es nennt, etwa die Erneuerung der liberaldemokratischen Werte angesichts des globalisierten Kapitalismus. Kurz gesagt wurde der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus mit dem Ende des Sozialismus gleichgesetzt, so als wäre die sozialistische Linke seit den 60er Jahren eine realsozialistische Linke gewesen und säße mit auf der Anklagebank. Der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus wurde also nicht als Möglichkeit gesehen, Marx zu befreien, sondern eher als Mittel, um ihn zu begraben und mit ihm die ganze antileninistische Tradition der negativen Kritik. Kurz gesagt, ermöglichte es der Fall der Berliner Mauer, etwas formell zu besiegeln, was eigentlich schon lange stattgefunden hatte, nämlich den Abschied der neuen »Linken« von der negativen Kritik. Kurz gesat, ermöglichte der Fall der Mauer es der neuen »Linken, sich von Marx zu befreien.
Risiko und verwandte Themen
Laut dieser Vorstellung leben wir nicht mehr in einer Klassengesellschaft, sondern in einer Risikogesellschaft (Buchtitel von Ulrich Beck). Während der alte, auf Akkumulation und Ausbeutung beruhende Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit zu einer Art Plussummenspiel führte, bei dem der Reichtum der Nationen wuchs, so daß jeder ein größeres Stück vom Kuchen abbekommen konnte, leben wir jetzt leben wir in einer Post-Klassengesellschaft. Folglich wird die Gesellschaft des größer werdenden »Kuchens« von einem Minussummenspiel abgelöst, das durch »kollektive Selbstverletzung« gekennzeichnet ist. Dabei wird jeder verletzt, das Risiko behandelt alle gleich, und es scheint keinen Ausweg zu geben. Daher spricht Beck von der »Einheit von Täter und Opfer«. Obowhl einige Mitglieder der Gesellschaft gegenüber anderen bevorteilt sein mögen, sind diese Vorteile nur graduell; man kann vielleicht die Nachteile verringern, aber entkommen kann man der Verletzung nicht. Einigen gelingt es, Nachteile für sich zu verringern, indem sie sie auf andere abwälzen, aber die Einheit von Täter und Opfer bleibt bestehen. Folglich gibt es bei Beck keinen bevorzugten gesellschaftlichen politischen Standpunkt, von dem aus man eine Art »Ursachentherapie» beginnen könnte. In Gesellschaften, die auf Klassen beruhten, sei das noch möglich gewesen. Aber in unserer Gesellschaft, in unserer Risikogesellschaft, kann man nichts tun: Alle werden verletzt, und kein Mensch und keine Gruppe kann eine Politik machen, die das »Risiko« aus der Welt schafft. So wird das »Risiko« institutionalisiert, unwiderstehlich und dauerhaft. Beck schließt daraus, daß es kein verläßliches theoretisches Wissen darüber gebe, was für Handlungen oder Nicht-Handlungen wem ein großes Risiko aufbürden und wann das Risiko vielleicht die Unschuldigen und die Häßlichen trifft. Der Grad des Risikos läßt sich nicht erforschen. Man weiß nur, daß es da ist. Daher werden alle gesellschaftlichen Verbindungen »homogenisiert«, da sie alle zu »Angst«-Verbindungen werden!
Die Vorstellung, unsere Gesellschaft sei eine klassenlose Gesellschaft, ist nicht neu, sondern eigentlich so alt wie der Kapitalismus selbst. Auch, daß unsere Gesellschaft riskant oder eine Risikogesellschaft sei, ist nicht neu. Das war z.B. der Ausgangspunkt für Spengler in seinem widerlichen Pamphlet [Der Untergang des Abendlandes]. Andere Intellektuelle wie Offe und Hirsch schließen sich zwar Becks Ansichten über das »Risiko« an, bleiben aber auf halbem Weg stehen. Für Offe hat der Sozialismus als Strukturformel für eine wahrhaft emanzipierte Gesellschaftsordnung schon seit geraumer Zeit keinen faßbaren Gehalt mehr. Der Fall der Berliner Mauer habe die demokratischen Werte rehabilitiert, und die Linke solle angesichts von Risiko und neoliberalen Lösungen der Krise des Sozialstaates lieber soziale und ökonomische Mindestgarantien als einfordern, statt Maximalforderungen aufzustellen: Die Linke soll auf eine Vermeidungsstrategie setzen und damit Mindestlöhne und eine soziale Grundversorgung sichern helfen. Vermeidungskriterien lassen sich aber schwer bestimmen: Wie bei Becks These von der Risikogesellschaft liefert die Theorie kein verläßliches Wissen darüber, welches Handeln nötig sei und in wessen Interesse gehandelt werden solle. Vermeidungskriterien lassen sich nur von Fall zu Fall definieren und je nach den verfügbaren Optionen vermittels entsprechender Verfahren und Institutionen anwenden.
Offe argumentiert damit gegen seine alten »theoretischen Väter«: Die Linke solle nicht versuchen, konkrete Endziele zu erreichen; Adorno und die Kritische Theorie werden als irrational verworfen, da eine derartige Theoriebildung jeden Weg hin zu einer Theorie der moralischen Vernunft behindere; der Anspruch der Vernunft auf Revolution wird verworfen, da er die Herausbildung einer moralischen Vernunft verhindere. Die Vernunft solle sich erreichbaren Zielen verschreiben und nicht der Untergrabung der liberalen Demokratie. Theoretisch geht es Beck und Offe darum, jede Vorstellung von Theorie als totalisierende Kraft zu zerstören, als totalisierende Kraft, die sich mit der Existenzweise der wesentlichen Beziehungen, d.h. der Beziehungen zwischen den Menschen und somit zwischen den Menschen und der Natur beschäftigt. Natürlich wirkt Offe weniger entschlossen als Beck, insofern er für die Idee einer moralischen Vernunft eintritt. Dabei argumentiert Offe aber ohne jede theoretische Untersuchung der gesellschaftlichen und historischen Konstitution der »moralischen Vernunft«. Sie wird a priori konstruiert und als kategorische Norm vorausgesetzt. So führt Offe, indem er die »moralische Vernunft« als universell anwendbare normative Verpflichtung versteht, das »Totalisieren« durch die Hintertür wieder ein, als ob die schönen Formen Gleichheit, Freiheit, staatsbürgerliche Rechte usw. unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Inhalt, d.h. als Formen von Ausbeutung und Herschaft existierten.
Hirsch trägt zum Abschied der »neuen« Linken von der negativen Kritik bei, indem er meint, daß die kapitalistische Gesellschaft in einer und durch eine Vielfalt von Antagonismen wie Rassismus, Sexismus, Lohnarbeitskonflikte, ökologische Kämpfe usw. bestehe. Diese Kämpfe individualisierten die Gesellschaft und beeinträchtigten ihre Fähigkeit, den Kräften der Globalisierung zu widerstehen. Auch Hirsch behauptet, es gebe zur Zeit keine Alternative zum Kapitalismus und die Linke müsse dies akzeptieren, um die Folgen einer neoliberalen Globalisierungspolitik zu verhindern. Diese Folgen werden unter Bezug auf Becks Begriff der Risikogesellschaft dargestellt. Bei Hirsch ist das einzige wirklich existierende Subjekt das »Kapital«. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind zu fragmentiert und beziehen sich antagonistisch aufeinander und untergraben damit jede gangbare Alternative. Auch bei Hirsch finden wir also die Wiedereinführung der Totalität. Bei Hirsch ist es das »Kapital« als übergreifendes Subjekt. Wieder wird das Kapital als universelle Kategorie wahrgenommen, die von ihr selbst innewohnenden Kräften konstituiert wird. Im Gegensatz zum Kapital steht nichts. Vielmehr existiert eine Vielzahl von unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen, gesellschaftlichen Gruppen und gesellschaftlichen Konflikten.
Zusammengefaßt hat sich die marxistische Theoriebildung, soweit es die Mainstream-Linke betrifft, seit Mitte der 70er Jahre in wichtiger und bezeichnender Weise verändert. Ob Risikogesellschaft, vernünftige Moral oder das Kapital als Subjekt: all diese Konzepte lehnen die Vorstellung ab, daß man die gesellschaftliche Existenz nur bestimmen kann, wenn man die Unabhängigkeit des Besonderen negiert und es als getrennt in der Einheit betrachtet. Aber gleichzeitig mit ihrer Ablehnung der negativen Kritik führen alle oben genannten Theorien die »Totalität« wieder ein, indem sie entweder mit dem »universellen Risiko« oder der »universellen moralischen Vernunft« oder mit einem »universellen kapitalistischen Subjekt« argumentieren. Keine von ihnen analysiert die gesellschaftliche und historische Konstitution seiner »universellen Kategorien«. Alle setzen sie a priori das Vorhandensein ihrer universellen Kategorien voraus. Und da diese Kategorien vorausgesetzt werden, leiten sich ihr »Vorhandensein« und ihre »Macht« aus Prinzipien her, die sich jedem kritischen Urteil entziehen, als ob diese Prinzipien aus unsichtbaren Räumen erwüchsen.
Alle oben genannten Theorien beruhen ungeachtet ihrer jeweils besonderen Form auf drei voneinander abhängigen Entwicklungen:
1) Alle behaupten, sie hätten neue wichtige Entwicklungen entdeckt, die sich im Rahmen der marxistischen Tradition nicht mehr angemessen analysieren lassen. Im schlimmsten Fall erscheint die marxistische Theorie von den Ereignissen überholt und daher veraltet, im besten Fall muß sie von Grund auf revidiert werden, um das angeblich Neue in ihrer Analyse unterzubringen. Genauer betrachtet sind die Vorwürfe gegen die marxistische Theorietradition aber nicht neu, sondern setzen eine lange, früher mit dem liberalen Denken verbundene Tradition der »Ablehnung« fort. Auch die Behauptung, es habe Entwicklungen gegeben, die das theoretische Fassungsvermögen des Marxismus übersteigen, ist ziemlich alt. Was ist denn neu an der »Risikogesellschaft«: Arbeiter tragen ständig das Risiko von Unfällen, Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen usw. Und natürlich war der Bankrott immer ein Risiko für den Kapitalisten. Die Ausbeutung vermittelt sich dem Einzelkapialisten ja wirklich in gewisser Weise über die Konkurrenz. Wenn der Kapitalist es nicht schafft, die ArbeiterInnen mit »Risiken« zu belegen, geht er vielleicht ein »Risiko« ein.
2) Alle Ansätze der neuen »Linken« seit Mitte der 70er Jahre gehen aus von der Ablehnung der marxistischen negativen Kritik, die versucht, verschiedene Phänomene als unterschiedliche Momente einer Einheit zu bestimmen. Hand in Hand mit dieser Ablehnung geht die Einnahme eines wertneutralen Standpunkts. Daher wird die negative Kritik wegen ihrer »Negativität« und somit wegen ihrer scheinbaren Irrationalität abgetan. Außerdem geht die Ablehnung der negativen Kritik einher mit der Ablehnung der totalisierenden Sichtweise des Marxismus. Stattdessen spezialisieren sich die neuen »linken« Ansätze auf besondere »Fälle«, aus denen sie allgemeine Urteile über die Welt ableiten. Methodisch stützt sie sich auf eine induktive Erkenntnistheorie, auf Kausalzusammenhänge und auf einen wertfreien Untersuchungsstandpunkt. Ihre Methode und ihre ihr Totalitätsbegriff durch die Hintertür decken sich mit anderen Worten also mit der positivistischen Gesellschaftstheorie, wie sie Parsons bekannt gemacht hat.
3) Alle »linken« Ansätze seit Mitte der 70er Jahre behaupten, sie hätten eine Alternative zur negativen Kritik des Marxismus entwickelt. Diese Alternative ist aber fest in das erkenntnistheoretische Korsett der (vulgär-) ökonomischen Theorie eingebunden. Spätestens seit der Grenznutzen-Revolution Anfang des Jahrhunderts versuchte die ökonomische Theorie nicht mehr, die »Wirtschaftswissenschaften« wie Smith und seine Zeitgenossen als Wissenschaft zu etablieren, sondern gründete sich immermehr auf willkürlich gesetzte Annahmen und bestimmte ökonomische Variablen. Diese Variablen werden jeweils als Elemente in einer mathematischen Gleichung interpretiert. Während Marx davon ausging, daß alles und jedes als Zusammenhang voneinander abhängiger und einander durchdringende Momente einer dialektischen Totalität konstituiert ist, behandeln die Wirtschaftswissenschaften jeden Fall einzeln und führen diese Einzelfälle dann in eine Gleichung ein, aus der sie sich Modelle bauen. Damit wird alles und jedes auf Quantität reduziert und in einem äußerlichen kausalen Summenspiel aufeinander bezogen. Und mir scheint, daß die modernen neuen »linken« Theorien genau dasselbe tun. Die Kehrseite ihrer Ablehnung der marxistischen Behauptung einer dialektischen Totalität ist die Behandlung gesellschaftlicher Verhältnisse als rassistische, sexistische, Lohnarbeits-, Natur-Verhältnisse usw. usf. Die neuen linken Steckenpferde wie Identitätspolitik, wie »Lifestyle«, wie die gleichgültige postmoderne Behauptung, daß Widerstand nur leere Bedeutung sei, wie die Risikogesellschaft, in der alle Opfer sind, usw. beruhen allesamt auf der Vorstellung von lauter einzelnen Umständen und Einzelfällen, die mit einander in Beziehung gesetzt werden, als existiere jeder Einzelfall unabhängig vom anderen und als seien die gesellschaftlichen Verhältnisse als Ganzes nur die Summe der vielen Einzelfälle. Die neue »linke« Gesellschaftstheorie stellt mit anderen Worten dieselben theoretischen Behauptungen auf wie die ökonomische Grenznutzentheorie und ihr gesellschaftlicher und politischer Begleiter, das positivistische Denken. Ist diese Aussage zu hart? Vielleicht. Aber auch die Grenznutzentheorie geht von Universalien wie dem Markt, dem Kapital usw. aus. Sie geht von Annahmen aus. Die neue linken Theorie scheint auch von Annahmen und Universalien auszugehen: Sie bzieht sich auf das Kapital als universelles Subjekt oder auf die moralische Vernunft als universelle wertfreie Norm des guten Lebens der Ausbeutungsverhältnisse oder auf die Katastrophe als eine universell anwendbare Macht, die ungeachtet der Einzelumstände Risiken hervorbringt, egal ob jemand in der Scheiße oder hinter goldenen Sicherheitszäunen lebt. Kapital, vernünftige Moral und universelle Katastrophe sind allesamt nur Annahmen: Die Konstitution ihres »Bestehens« wird nicht in Frage gestellt. Sowohl die Grenznutzentheorie als auch das neue »linke« Denken beruhen auf der Trennung von »Entstehung« und »Bestehen«. Diese Trennung macht laut Horkheimer (Dämmerung) den blinden Fleck des dogmatischen Denkens aus. Der Dogmatismus fühlt sich natürlich am besten bei Ansätzen aufgehoben, die sich weigern, die gesellschaftliche Welt, in der wir leben, als in und durch gesellschaftliche Praxis konstituierte Welt zu begreifen, so pervertiert diese Praxis auch sein mag. Ironischerweise landet die neue »Linke«, die so hart um ein respektables Image gekämpft hat, indem sie sich von allem befreit hat, was irgendwie an negative Kritik erinnert, genau da, wo sie den »Marxismus« hinprojizierte: im Lager des Dogmatismus.
Schluß
Unser Ausgangspunkt war die These, es gebe eine Politik des neuesten Trends. Stimmt dieser Titel? Irgendwie gefällt mir die Vorstellung und ich habe wohl einiges aufgefahren, was dafür spricht. Geht dieser Titel aber nicht vielleicht doch an der Sache vorbei? Könnte man nicht mit Recht behaupten, daß dahinter noch etwas Grundsätzliches steckt, das von der These, es gebe eine Politik des neuesten Trends, nur verdeckt wird?
Meine These war, daß die Politik des neuesten Trends auf den Abschied der Linken von der negativen Kritik zugunsten neuer und neuerer Begriffe, die auf der theoretischen Tradition des Positivismus beruhen, hinauslaufe. Damit habe die Linke ihre theoretische »Heimat« verloren und ihre Begrifflichkeit an die theoretische Programmatik ihres »Feindes« angepaßt. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen dem Neoliberalismus und Offes Projekt einer moralischen Vernunft. Aber diese Unterschiede sind nur Variationen eines gemeinsamen Themas. Man könnte also behaupten, daß die Theorie des neuesten Trends nichts anderes ist als eine Krise der Theorie, eine Krise, die von der gesellschaftlichen Krise der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse seit Ende der 60er Jahre beeinflußt ist und als ihr theoretischer Ausdruck selbst auf sie zurückwirkt. Eine Krise der Theorie muß aber mehr sein als bloß eine objektive Widerspiegelung der »gesellschaftlichen und ökonomischen Krise«. Menschen können sich entscheiden, und sie entscheiden sich auch. Die Politik des neuesten Schreis läuft also auf etwas anderes hinaus, auf etwas, das sich hinter sich selbst versteckt. Dieses Etwas läßt sich vielleicht am besten durch zwei zusammenhängenden Fragen aufzeigen:
Erstens an der Mode: Es besteht kein Zweifel daran, daß Gesellschaftstheorie, vor allem linke, von Moden abhängig ist. Die Erfindung neuer Forschungsrichtungen, Vorschläge für neue Forschungsthemen usw. sind sehr einträglich, was Forschungsfinanzierung, wissenschaftlichem Ruf, Buchauflagen und anderes angeht. Mit Neuerungen kann man sich einen Namen und nicht nur einen Namen machen. Neuerungen verleihen den Sozialwissenschaften auch »Bedeutung«. Sie legitimieren die Sozialwissenschaften als nützliche gesellschaftliche Tätigkeit und verleihen ihr damit akademisches »Ansehen«. Das neue konstruktive Auftreten des neuen »linken« Denkens übernimmt also eine dienende Rolle für die Gesellschaft: als Dienerin der Verfassung.
Zweitens an der Verwandlung in eine Ware: Die angesagte modeabhängige Gesellschaftstheorie kann den Anspruch der Theorie, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu verstehen, begrifflich zu durchdringen und zu kritisieren, nicht mehr aufrechterhalten. Statt »alles zu bezweifeln«, wie es die Aufklärung wollte, macht sich diese Gesellschaftstheorie der akademischen Industrie dienstbar, ähnlich wie es Adorno in seiner Kritik der Kulturindustrie beschrieb. Die »linke« Gesellschaftstheorie ist so gesehen also ein Ausdruck des Zeitgeistes, eines Zeitgeistes, den die theoretischen Moden hochzujubeln und auszunutzen versuchen. Der Zeitgeist produziert keine gute Theorie, aber er produziert Theorie, die ein williges Käuferpublikum bei allen möglichen LeserInnen findet, deren Ansichten und »Ängste« er nicht in Frage stellen will. Ich würde also behaupten, daß ein Großteil der aktuellen linken Theorie auf Markterfolge setzt. Sicherlich hängen Markterfolge mit der jeweiligen politischen Konjunktur zusammen. Aber wie ich schon sagte, erwies sich ein Großteil des Marxismus der späten 60er Jahre meines Erachtens schon im politischen Klima der 70er Jahre als »Mode«. Theorieproduktion, Themenproduktion, Zeitgeist und Verkaufsaussichten hängen aufs engste zusammen. Was bei alledem auf der Strecke bleibt, ist »die Theorie« und damit das Begreifen gesellschaftlicher Praxis: in diesem Sinn erleben wir tatsächlich eine tiefe Krise der Theorie. Und zwar nicht, weil sie sich nicht in eine Ware hätte verwandeln lassen, sondern im Gegenteil, weil sie sich beängstigend leicht in eine Ware hat verwandeln lassen.
Werner Bonefeld