Wir wollen essen
Nanchong ist Chinas industrieller Alptraum. In der Provinz Sichuan gelegen, tausende von Kilometern von den internationalen Märkten entfernt, hat es weder Eisenbahnanschluß noch moderne Straßen. Die maroden Fabriken können die Löhne nicht auszahlen. Die ganze Stadt ist ein Relikt von Maos, mittlerweile zerbrochener, Eiserner Reisschüssel.
Im März kam es in Nanchong zu Arbeiterunruhen, die zu den bisher schlimmsten in China seit der kommunistischen Revolution 1949 gehören. Beschäftigte der größten Seidenfabrik der Stadt nahmen den Fabrikleiter als Geisel und führten ihn durch die Stadt, wobei sie ihren ausstehenden Lohn verlangten. Verärgerte Arbeiter aus anderen Fabriken schlossen sich ihnen an. Schließlich belagerten Zwanzigtausend das Rathaus dreißig Stunden lang. »Wir zogen ab, als uns die Auszahlung der Löhne versprochen wurde,«sagt einer. Ein Bombenattentat auf das Rathaus sorgte für weitere Unruhe in Nanchong.
China ist keineswegs knapp an Arbeitern, bei denen die Toleranzgrenze erreicht ist. Da Beijing versucht, Subventionen für defizitäre Fabriken zu kürzen, bekommen Millionen von Arbeitern immer dünnere Lohntüten oder sogar gar keine. In Nanchong blieben die Seidenarbeiter sechs Monate lang ohne Lohn, bevor sie rebellierten. Überall in China gibt es zahllose Arbeiter, die noch länger leiden. Beijings größte Angst ist es, daß sie dem Beispiel Nanchongs folgen. »Wenn sich Arbeiterunruhen verbreiten, dann bedroht das nicht nur die Wirtschaftreformen, sondern die Macht der Partei als solche,« sagt ein Wissenschaftler aus Beijing, der von dem Aufstand wußte.
Dies erklärt, warum die Regierung so schnell nachgegeben hat. Wegen der bevorstehenden Übergabe Hongkongs und dem Grundsatzparteikongreß im Herbst streckte die Stadtverwaltung die Löhne vor und verhaftete den gekidnappten Fabrikleiter wegen irgendwelcher »Wirtschaftsverbrechen«. Dann verhängte Beijing eine Nachrichtensperre, um Nachfolgeaktionen in anderen Teilen Chinas zu unterbinden.
Die Nanchongkrise macht Beijings Dilemma deutlich. Die Reform der Staatskonzerne führt zu steigender Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit führt zu Arbeiterunruhen. Die Anweisung aus Beijing, daß Städte und Gemeinden die entlassenen Arbeiter bei sich einstellen sollen. ist keine Lösung. Oft gibt es auch da keine Jobs. Soll also die Regierung mit Gewalt antworten, wenn unbezahlte Arbeiter immer häufiger auf die Straße gehen? Oder soll sie bezahlen und dadurch weitere Demonstrationen ermutigen? Die Antwort von Nanchong: Stabilität ist wichtiger als Reform.
In der Vergangenheit hat die Partei unzufriedene Arbeiter mit Härte behandelt. Im Juni 1989 eröffneten die Truppen das Feuer auf die Tien-an-men-Demonstranten hauptsächlich deshalb, weil Arbeiter und Studenten anfingen, sich zu verbünden. Nicht Studenten, sondern Arbeiterführer wurden zum Tode und zu den längsten Haftstrafen verurteilt. Inoffizielle Gewerkschaften werden sofort verboten, ihre Führer ins Gefängnis geworfen.
Gleichzeitig nehmen die Klagen der chinesischen Arbeiterklasse zu. Laut Arbeitsministerium stieg die Zahl der »Arbeitskämpfe« von 1994 auf 1995 um 73% auf 33 000. Und im vergangenen Jahr gab es eine ähnliche Steigerung. Mindestens ein Fünftel der Staatsbeschäftigten sind überzählig. Es wird erwartet, daß allein in Shanghai in den nächsten zwei Jahren beinahe eine halbe Million Stellen abgebaut werden. Kleinere Proteste gehören im industrialisierten Nordosten inzwischen zum Alltag. »Es gibt einen Trend, hin zum gemeinsamen Protest verschiedener Belegschaften,« sagt Apo Leung vom Asia Monitor Centre in Hongkong.
Und die Gewalt bei den Arbeiterunruhen nimmt zu. Gerüchteweise wird ein Bombenanschlag in einem Beijinger Stadtteil, bei dem ein Dutzend Menschen verletzt wurden, Arbeitslosen zugeschrieben Der Aufstand in Nanchong jedoch geht über all das weit hinaus. (...)
Und es gibt noch jede Menge Zündstoff. Die staatseigene »Arbeiterzeitung« folgerte im letzten Monat: »In der Theorie ist die städtische Arbeitslosenquote 24% und das einzige, was Theorie und Praxis trennt, sind staatliche Subventionen (gewöhnlich in Form nichtrückzahlbarer Bankkredite).« Vorgeschlagen werden die Ausweitung der Wirtschaftreformen zur Schaffung eines gesunden Geschäftslebens und gleichzeitig »die Steigerung der Zahl der Arbeitskräfte einzuschränken«.
Eine Lösung ist höhere Mobilität, aber sogar dabei ist die Regierung gelähmt. Ungefähr 130 Millionen ehemalige Bauern arbeiten bereits in Fabriken und Schätzungen gehen von noch mal der gleichen Anzahl überzähliger Arbeitskräfte in der Landwirtschaft aus. Die Polizei betrachtet diese Arbeitsmigranten als Sicherheitsrisiko. In Beijing finden vor der Übergabe Hongkongs am 1. Juli gezielt Razzien gegen sie statt.
Wenn Bauern in die Stadt ziehen, um Arbeit zu suchen, werden sie immer mehr zur Konkurrenz für die Staatsbeschäftigten. An einigen Orten wird das bereits deutlich. Bis vor kurzem waren die Ölfelder um die Stadt Puyang in der Provinz Henan ein Magnet für Arbeiter. Als jedoch die Geschäfte nachließen, feuerten die Manager Arbeitsmigranten, weil sie denen im Gegensatz zu den Ansässigen keine Abfindungen zahlen müssen, berichtet Han Dongfang, ein in Hongkong wohnender Arbeiteraktivist. Als die Firma bis zu 80% der Arbeitsmigranten rausschmiß, gründeten diese eine illegale Gewerkschaft und schickten Vertreter nach Beijing. »Seitdem hat man nichts mehr von ihnen gehört, wahrscheinlich sind sie verhaftet worden,« sagt Han.In einem ähnlichen Fall wie in Nanchong bekamen die Arbeiter der Shanxi-Textilfabrik in der Stadt Taiyuan zehn Monate lang keinen Lohn. Während der Feiertage im Herbst letzten Jahres fand schließlich eine Kundgebung vor dem Rathaus statt. Nur dreißig von mehreren Tausend Arbeitern der Fabrik nahmen teil. Trotzdem erregten sie die Aufmerksamkeit Hunderter Schaulustiger und »beeinträchtigten den Straßenverkehr«, so eine Quelle aus der Stadtregierung. Die Arbeiter organisierten den Protest in Schichten. Auf ihren Plakaten stand: »Wir wollen essen.« Die Stadt entwickelte daraufhin Pläne, die Fabrik zu schließen und die Arbeiter bei sich einzustellen.
In Nanchong ist die Ruhe nur oberflächlich. Die Hauptsorge der KP ist, daß die Erfahrung von Nanchong zum Beispiel für den Rest des Landes wird.
Far Eastern Economic Review, 26.6.97