Wildcat-Zirkular Nr. 38 - Juli 1997 - S. 27-31 [z38sansp.htm]


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Sans-Papiers: Wir sind da!

Die Bewegung der Illegalen in Frankreich

Seit über einem Jahr macht in Frankreich eine Gruppe von Menschen von sich reden, die von Staats wegen keine Rechte und nichts zu sagen hat: die Illegalen oder besser gesagt die Papierlosen (Sans-Papiers). Sie kämpfen für ihr Aufenthaltsrecht und ihre zentrale Forderung lautet: Papiere für alle!
Startzeichen war eine Kirchenbesetzung von 300 WestafrikanerInnen in Paris im März 1996. Seitdem hat sich die Bewegung in ganz Frankreich verbreitet. In der landesweiten Koordination sind heute 48 Nationalitäten vertreten.
Am 2. Mai hat in Köln eine Veranstaltung mit Madjiguène Cissé, einer Sprecherin der Sans-Papiers stattgefunden. Wir drucken hier Auszüge aus ihrer auf deutsch gehaltenen Rede ab.

»Ich werde versuchen, den Sinn von dem Kampf zu erklären, den wir seit über einem Jahr in Frankreich führen. Alles begann am 18. März 1996, als 300 Westafrikaner eine Kirche in Paris besetzten, um ganz einfach zu sagen: Wir sind da. Das war der erste Ruf: Wir sind da. Wir sind Männer und Frauen, die gewählt haben, in Frankreich zu leben. Jeder hat alleine alles versucht, um Papiere zu kriegen, und es hat nicht geklappt. Deswegen haben wir uns zusammengesetzt und haben eine Kirche besetzt, um den Leuten zu zeigen, was los ist. Eine Stunde später waren alle Medien da, Fernsehen und Rundfunk und Zeitungen, und dann waren auch die Unterstützungsorganisationen da, antirassistische Vereinigungen, politische Parteien, Gewerkschaften.«

Wir wollen unseren Kampf selber führen

»Die erste Reaktion von den Organisationen war: Es wird sehr schwer sein, weil wir eine rechte Regierung haben, und die wird die Forderungen nicht erfüllen, und deshalb raten wir, wieder nachhause zu gehen. Da sagten wir: Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage, wir gehen nicht nachhause zurück. Wir können so nicht weiterleben, ganz in der Illegalität und ohne Rechte. Dann war die zweite Reaktion von den Organisationen: Ihr wollt nicht nachhause gehen, dann bleibt ganz ruhig, und wir werden alles für euch tun. Wir werden Briefe schreiben, wir werden zu den Behörden gehen, mit ihnen diskutieren, und da werden wir eine Lösung finden. Da haben wir gesagt: Nein, das geht auch nicht. Wir sind groß genug, und wir fühlen uns fähig, für uns selbst zu entscheiden, und wir können auch selbst die Behörden von Frankreich treffen um über unser Schicksal zu diskutieren.

Das war dann ein Schwerpunkt von dem Kampf der Sans-Papiers in Frankreich, diese Autonomie. Es war nicht einfach. Einmal wurden wir von einer Vereinigung rausgeschmissen, die uns Versammlungsräume zur Verfügung stellte, weil wir gesagt haben, daß wir alleine entscheiden wollen. Manche Vereinigungen haben die Unterstützung aufgehört, aber wir haben weitergemacht und wir haben gesagt: Wir wollen unseren Kampf selber führen und selber entscheiden. Das haben wir gemacht, und das ist was ganz Neues. Wir werden in Europa eingeladen, aber so selbstorganisierte autonome Gruppen von Flüchtlingen haben wir noch nicht getroffen. Wir sehen immer die Vereine und Organisationen, die sind da, und diesen Paternalismus findet man fast überall. Die denken: Die Ausländer sind vielleicht unreife Leute, fast wie große Kinder, man muß alles für sie tun. Und immer trifft man Organisationen, die anstelle der Leute für die Leute sprechen wollen.«

Entgegen den Warnungen der Organisationen, die immer alles zu gefährlich fanden, sind die Sans-Papiers offen aufgetreten und zu einer Kraft geworden. Sie besetzen Kirchen und Lokale; sie gehen in der Mittagspause in Betriebe, um mit den ArbeiterInnen zu diskutieren; sie verteilen trotz Verboten Flugblätter in Metrostationen; sie sprechen selbst mit Politikern und Parteien; wenn sie nicht eingeladen werden, dann laden sie sich selbst ein und sind einfach da. Und sie gehen inzwischen auch unbehelligt bei der Polizei ein und aus:

»Wir haben als Sans-Papiers einen Status gewonnen. Es ist z.B. möglich, daß wir zur Polizeipräfektur von Paris gehen und sagen: Wir sind die Sans-Papiers von St. Bernard und haben was in der Präfektur zu erledigen. Und das klappt auch. Das hätte man sich vor dem Kampf der Sans-Papiers nie vorstellen können, daß der Polizist, dem man jeden Morgen sagt: Geh mal durch Paris und suche Sans-Papiers - daß zu dem Sans-Papiers kommen und sagen: Ich bin ein Sans-Papier, ich hab was zu erledigen. Das ist sehr wichtig, diese Autonomie. Das stört jahrelange Beziehungen zwischen Norden und Süden, das jahrelange Verhältnis zwischen Frankreich und den Kolonien, weil die Verhältnisse sind immer: Unterdrückter und Unterdrücker. So ist das immer gewesen. Unsere Autonomie stellt das infrage. Deswegen wurde auch die Repression sehr hart. Innenminister Debré konnte sich nicht vorstellen, daß so kleine Afrikaner, die keine Papiere haben, aufstehen und sagen: Wir sind da und wir wollen selber entscheiden.«

Wer über die Sans-Papiers redet, muß auch über die Schulden der Dritten Welt und die Verteilung des Reichtums reden

»Seit zwanzig Jahren ist das internationale Finanzkapital bei uns und in anderen Südländern und entscheidet alles. Wir haben sowieso Regierungen, die keine Entscheidungen treffen. Die Weltbank oder der IWF entscheiden die ökonomische Orientierung. Der Staat finanziert z.B. keine Erziehung und keine Gesundheit mehr. Wenn man krank und arm ist, dann stirbt man einfach. Durch Kinderkrankheiten sterben bei uns noch kleine Kinder, jeden Tag. Das sind die Konsequenzen der Strukturanpassungsmaßnahmen und von den Schulden der Dritten Welt. Die Schulden sind da, die sollen wir sowieso bezahlen. Die Zinsen werden immer größer. In zwölf Jahren haben wir dreimal die Schulden bezahlt. 1980 haben sie den Dritte-Welt-Ländern 565 Milliarden geliehen, und 1992 haben wir 1662 Milliarden zurückbezahlt. Das heißt, das Geld kommt aus dem Süden und wird in den Banken der reichen Länder deponiert. Das ist die Situation, und man muß sich die Hauptfragen stellen: Ob es so weitergehen kann, daß die Völker der Südländer diese Schulden immer weiter bezahlen.

Emigration ist die Konsequenz von den Schulden und den Strukturanpassungsmaßnahmen der Weltbank und des IWF. Es gibt einen Film, der über den Kampf gemacht wurde, und da sagt eine Frau: Wenn ich die Infrastruktur hätte bei mir, wenn ich Arbeit finden könnte, wenn ich gute Krankenhäuser bei mir hätte, dann wäre ich nicht hier. Ich würde einfach ab und zu mal Urlaub machen in Frankreich, weil es sowieso zu kalt ist im Winter.

Wir wollen nicht um Papiere betteln. Diesen Humanitarismus wollen wir nicht. Das ist unser politischer Kampf und er stellt die Frage nach dem Nord-Süd-Verhältnis, den Dritte-Welt-Schulden, der Verteilung des Reichtums. Man kann nicht Stacheldrähte um Europa ziehen, solange es Armut, Elend und Krieg gibt. Man kann nicht Völker und Länder kolonisieren und dann sagen: Bleibt da, kommt nicht zu uns, wir brauchen Ruhe.«

Das Ziel ist nicht, alle Ausländer abzuschieben. Das Ziel ist, mehr Sans-Papiers zu produzieren.

Sans-Papiers in Frankreich sind nicht nur Menschen, die ohne Papiere eingereist sind, sondern auch viele, die wegen Gesetzesänderungen nach vielen Jahren in Frankreich ihre Papiere nicht verlängert bekommen.

»Der Unterschied zwischen Illegalen und Illegalisierten ist nur ein Unterschied der Worte. Wir machen keinen Unterschied, wir sagen: Papiere für alle. Uns geht es um die 'Libre Circulation' (Freies Fluten wurde das hierzulande mal genannt), das heißt, daß alle Arbeiter reisen dürfen, wohin sie wollen. Man will mich als Arbeiterin hindern, nach Deutschland zu reisen oder nach Frankreich. Aber der Präsident von Zaire, der ist so schwarz wie ich, aber der hat kein Problem, wenn er nach Frankreich fliegen will. Der braucht kein Visum. Der fliegt nach Frankreich, der bleibt so lange er will, und wenn er krank ist, dann ist er in den besten Krankenhäusern. Nur einen Teil der Arbeiter will man daran hindern, zu zirkulieren. Die Frage ist: Ist das tolerabel, daß die Reichen überall hingehen dürfen, wo sie wollen, und daß man einen Teil der Arbeiter hindert, zu reisen.

Die Konditionen, Papiere zu erneuern, werden härter. Früher konntest du z.B. mit 4000 Francs Lohn die Papiere erneuert kriegen, und jetzt sind es 6000 Francs. Oder in dem Pasqua-Gesetz heißt es: Wenn der Ausländer die öffentliche Ordnung stört, dann kriegt er die Papiere nicht erneuert. Für Papiere muß man Arbeit haben, muß man eine Wohnung haben, usw. Die Konditionen werden immer schwieriger. Das sind Gesetze, die gemacht werden, nur um weniger Papiere zu geben.

Das Ziel ist nicht, alle Ausländer abzuschieben. Das Ziel ist, mehr Sans-Papiers zu produzieren. Die wollen uns nicht alle abschieben. Die wollen mehr Sans-Papiers produzieren, die dann jede Arbeit nehmen werden für irgendeinen sehr niedrigen Lohn. Das ist ein Ziel, warum solche Gesetze gemacht werden.«

Die haben immer Angst, daß die Frauen auch autonom werden

»Ich werde kurz über die Rolle der Frauen im Kampf der Sans-Papiers berichten. Unter den 300 Leuten der Gruppe von St.Ambroise/St.Bernard gab es achtzig Frauen, die - wenn auch diskret - eine sehr wichtige Rolle gespielt haben. Jedesmal, wenn die Bewegung drohte, zu erlöschen, haben die Frauen die Initiative ergriffen und alles dafür getan, daß es wieder lebendig wird, z.B. indem wir eine Demonstration organisiert oder ein Rathaus in Paris besetzt haben oder indem wir so eine überraschende Demonstration vor dem Palast von Chirac organisieren. Jedesmal, wenn die Gruppe von Trennung bedroht war, haben die Frauen die Lage gerettet. Ein Beispiel: Nach dem zehnten Tag Kampf in Paris wurden wir im 15. Arrondissement untergebracht. Da hatte SOS-Racisme mit dem Pfarrer von der Kirche abgemacht, 50 Leute unterzubringen. Wir waren aber 300. Als wir da ankamen, sagte der Pfarrer: Ihr seid zu viele, ich kann nicht 300 Leute unterbringen, ich mache einen Vorschlag. Die 50 Leute bleiben da, und die anderen gehen nachhause. Für die 50 Leute schlug er vor, daß es nur Familien sein sollten, weil es für Familien einfacher ist, Papiere zu kriegen. Da sagten wir: Nein, das geht nicht, weil die Hälfte der Gruppe alleinstehende Leute sind, Frauen und Männer. Wir haben die Nacht dort verbracht, und am nächsten Morgen machte der Pfarrer einen anderen Vorschlag. Er sagte: Ich nehme die Dossiers, und ihr geht alle nachhause zurück. Ich werde alles tun, was ich kann, damit die meisten von euch Papiere kriegen. Dann haben wir eine Versammlung gehabt, und die Männer haben gesagt: Ja, wir können in den Pfarrer Vertrauen haben, wir lassen die Dossiers hier und gehen nachhause. Aber die Frauen haben gesagt: Nein, kommt nicht in Frage. Wir machen weiter, weil wenn wir nachhause gehen, dann gibt es sowieso keine Papiere und auch keinen Kampf mehr. Da haben die Frauen eine Versammlung unter Frauen gemacht und haben entschieden, weiterzumachen. Die Frauen sagten zu mir: Geh mal ein anderes Lokal suchen, wo wir Frauen weiter kämpfen können. Da hatte ich schon ein Lokal gefunden, das heißt 'Haus der Frauen' in Paris, da dürfen keine Männer rein. Dann haben die Männer es sich anders überlegt und gesagt: Nein, wir machen weiter mit euch, geht mal ein größeres Lokal suchen für alle. Und so ist es immer gegangen. Letzte Woche z.B. haben die Frauen das Rathaus vom 13. Arondissement besetzt. Aber da sind wir nur anderthalb Stunden geblieben, weil die Polizei uns alle rausgeholt hat. Dann sind wir alle, Frauen und Kinder, vier Stunden lang in Haft geblieben.

Im Laufe der Zeit haben die Männer bemerkt, welche Rolle die Frauen wirklich spielten, obwohl sie ängstlich zugesehen haben, wenn Frauen sich unter Frauen versammelt haben. Als wir uns in einem Raum trafen, sind die Männer immer hin und her gegangen und haben gesagt: Was machen die Frauen da, was sagen sie da unter sich? Die haben immer Angst, daß die Frauen auch autonom werden.

Wir sind dabei, eine Frauenorganisation zu gründen, um für die spezifischen Rechte der Frauen zu kämpfen. Ich meine, es hat sich viel geändert in den Beziehungen Mann-Frau in einer Gesellschaft die westafrikanisch und traditionell ist. Das war nicht einfach, aber wir haben die Männer gezwungen, ihre Meinung zu ändern. Das ist ein großer Fortschritt.«

Von der Gruppe der 300 Sans-Papiers, die im März 96 die Kirche St. Bernard besetzt haben, wurden 26 abgeschoben und vier sind freiwillig zurückgeflogen. 104 Menschen haben Papiere bekommen, allerdings nur kurzfristige für höchstens ein Jahr.

Die Bewegung weitet sich aus und erreicht weite Kreise. Im Februar und März sind hunderttausende gegen die Verschärfung der Ausländergesetze in Frankreich auf die Straße gegangen und haben den Zivilen Ungehorsam propagiert. In 420 Kinos läuft täglich ein Drei-Minuten-Film, in dem ein Papierloser das Manifest der Sans-Papiers liest. Der Film endet mit der Forderung:

Papiere für alle!

J. / Köln


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