Unzufriedene Fabrikarbeiter melden sich in Vietnam zu Wort
Proletarier aller Länder vereinigt Euch! Dazu forderte Karl Marx, Urheber des Kommunismus, auf. Und im kommunistischen Vietnam tun sie genau das. Mehr als vier Jahrzehnte nach der kommunistischen Machtübernahme ist das Land mit einer beispiellosen Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft konfrontiert. Die Vietnamesen haben die Schnauze voll von ausländischen Vorgesetzten, von denen sie mißhandelt werden, und von den Arbeitsbedingungen in den Sweatshops. Deshalb erreichen die Streikzahlen Rekordhöhe und dies in einem Land, in dem Streiks bis vor drei Jahren illegal waren.Von den vierundzwanzig legalen Streiks, die in den ersten drei Monaten dieses Jahres stattgefunden haben, ereigneten sich achtzehn in Firmen mit ausländischen Investoren. Das Dilemma für Hanoi: Wie tritt man für Arbeiterrechte ein, wenn die Abhängigkeit des Landes von ausländischen Investitionen immer größer wird? Die staatlichen Medien haben einige Beschwerden der Arbeiter publiziert, um Druck auf ausländische Geschäftstätigkeit zu machen. Die Regierung blieb bei den einzelnen Streiks jedoch neutral. Diese endeten oft, ohne daß die Probleme gelöst worden wären.
Die Behörden sind gerade dabei, eine Arbeitsgerichtbarkeit zu schaffen, bisher stehen die Arbeitsgesetze nur auf dem Papier. Sie einklagen zu wollen ist unmöglich.
»Zu Streiks kommt es aus verschiedenen Gründen. Hauptsächlich, weil die Unternehmer die Rechte der Arbeiter mißachten,« sagt Phan Duc Binh, Anwalt beim Arbeitsministerium. »Die ausländischen Investoren wissen über die hier geltenden Regeln nicht Bescheid.«
In Südvietnam kam es in Firmen, die für den US-amerikanischen Sportschuhkonzern Nike produzieren, zu drastischen Fällen körperlicher Gewalt. Die Anschuldigung, daß ausländische Investoren Ausbeuter vietnamesischer Arbeiter seien, bekam dadurch neue Nahrung. Dazu kommt eine wachsende Ungleichheit zwischen vietnamesischen Neokapitalisten und der Arbeiterschaft. Dies alles könnte zu einer gefährlichen Herausforderung für die kommunistische Partei werden.
»Dieses Land braucht nicht nur ausländische Investoren«, sagt Binh, »wir müssen auch ein juristisches System schaffen, das die Arbeiter schützt.«
In Vietnam, dem selbsternannten Arbeiterparadies, gibt es einen grundsätzlichen Widerspruch. Ho Chi Minh und andere vietnamesische Nationalisten kamen in den 30er Jahren zum Kommunismus, weil der ein passender Verbündeter im Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft war. Als Nordvietnam in den 50er Jahren zur kommunistischen Republik erklärt wurde, war es noch kaum industrialisiert. Industrialisierung ist eigentlich eine Voraussetzung für den Kommunismus. Erst jetzt, wo die kommunistischen Wirtschaftsdoktrinen dahinschwinden, entwickeln sich im Land Schwerindustrie und Produktion. Und es entsteht eine Arbeiterbewegung, die Forderungen nach Gleichheit, Respekt und einem größeren Anteil am nationalen Reichtum stellt.
Ausländische Investitionen schaffen mehr und besser bezahlte Arbeitsplätze. Der Lebensstandard in den Städten steigt, wenn auch nur bescheiden. Doch immer mehr Arbeiter fühlen sich zu Zahnrädern in einer Maschine reduziert, die vom ausländischen Geld und seinen vietnamesischen Geschäftspartnern gesteuert wird.
Weniger als 3000 Personen traten 1994 im ganzen Land in den Streik. Zwei Jahre später legte allein in Ho-Chi-Minh-Stadt die vierfache Anzahl die Arbeit nieder. Dieser Trend hält an.
»Wir beschweren uns oft bei unseren Vorgesetzten, daß wir keine Maschinen sind, sondern menschliche Wesen,« sagt Ho Thi Thanh. Sie ist Gewerkschaftsvertreterin beim streikgeplagten Nikezulieferer Sam Yang Co., einer südkoreanischen Fabrik vierzig Kilometer von Hanoi entfernt. Im letzten Monat schlug ein Vorarbeiter einer Arbeiterin eine Schuhsohle um die Hüften, um sie anzutreiben. Das war eine Neuauflage eines vielbeachteten Vorfalles im letzten Jahr. Damals schlug eine Abteilungsleiterin einem Arbeiter eine Gummisohle auf den Kopf. Ein vietnamesisches Ad-hoc-Tribunal verurteilte die Frau zu einer Bewährungsstrafe von drei Monaten. Nike hat angeblich interveniert und besteht jetzt auf der Einhaltung der Arbeitsgesetze in allen Nikefabriken. Diese sind jedoch für Journalisten nicht zugänglich, außer bei angemeldeten und genehmigten Führungen.
Thanh sagt, daß es immer noch massive Probleme bei Sam Yang gibt. Es gibt immer noch keine Betriebsvereinbarung, deshalb können Arbeiter willkürlich gefeuert werden und zwar ohne daß die Gewerkschaft eingreifen kann. »Wenn man sich beschwert, suchen die Vorgesetzten nach Entlassungsgründen.«
Ähnliche Probleme werden von Fabriken in Ho-Chi-Minh-Stadt, der Hauptstadt Hanoi und der Hafenstadt Haiphong berichtet. Außer über direkte Mißhandlungen beklagen sich viele Arbeiter, sowohl aus ausländischen als auch staatlichen Firmen, über schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne.
Am Rande von Ho-Chi-Minh-Stadt malochen tausende von jungen Männern und Frauen in der staatseigenen An Lac Schuhfabrik. Schon von außen kann man den ohrenbetäubenden Lärm der Nähmaschinen hören. Innen kämpfen Ventilatoren vergeblich gegen die stickige Hitze an. Die Sommersonne brennt auf das Wellblechdach, die Temperaturen im Gebäude können auf vierzig Grad steigen. Die Frauen sitzen zusammengepfercht neben den Fließbändern, an denen täglich 7000 Paar Schuhe für Adidas, Fila und All-Star hergestellt werden. Für diese Arbeit gibt es 20 Cents in der Stunde, den von der Regierung festgelegten Mindestlohn.
Obwohl Arbeiteraktivisten im Westen solche Löhne in den Mittelpunkt der Kritik stellen, ist diese Bezahlung nach vietnamesischem Standard nicht schlecht, räumt Thanh ein. Das so erzielte Jahreseinkommen von ca. $600 ist halb so hoch wie das Durchschnittseinkommen in Ho-Chi-Minh-Stadt, aber viermal so hoch wie in ländlichen Gegenden. Die Beschwerden der Beschäftigten beziehen sich mehr auf die Arbeitsbedingungen.
Für Vietnams Einparteienregierung ist die Besänftigung der Arbeiter ein Eiertanz zwischen Ideologie und Pragmatismus. In vielen Fällen haben ausländische Investitionen Fabriken gerettet, die unter der Planwirtschaft dahindämmerten. Vor dem Fall Südvietnams im Jahr 1975 produzierte An Lac Schuhe für Bata, einen kanadischen Schuhkonzern. Mit dem kommunistischen Sieg wurde An Lac zum Lieferanten von Schuhoberteilen für die Sowjetunion. Als die Sowjetunion 91 zusammenbrach, blieb An Lac auf 70000 unverkauften Schuhoberteilen sitzen. Investitionen aus Taiwan und Südkorea Mitte der 90er Jahre retteten die Fabrik. Bestellungen von großen Schuhherstellern aus aller Welt gingen ein.
»Seit die ausländischen Arbeitgeber nach Vietnam gekommen sind, gibt es mehr Jobs,« sagt Thanh, die Sam-Yang-Arbeiterin. »Aber es gibt auch Probleme.«
AP, 22.6.97