Vom Klassenkampf zur »sozialen Frage«
Kritik am einleitenden Artikel der Arranca Nr. 10 mit den Schwerpunkten Neoliberalismus, Globalisierung und Sozialabbau
Die Zeitschrift Arranca hat im September 1996 einen längeren Artikel der Gruppe FelS veröffentlicht, in dem diese ausgehend von einer Analyse der Weltlage Konsequenzen für politische Initiativen zieht. [1] Die Gruppe hält gegen alle Anfeindungen von Autonomen und Antideutschen an einer revolutionären Organisierung fest, die sich am Bedürfnis der breiten Massen nach einem besseren Leben orientiert. Der Artikel in Arranca stellt damit einen der wenigen Versuche innerhalb der radikalen Linken dar, sich auf die sozialen Umwälzungen zu beziehen. Deshalb wurde er von vielen Leuten diskutiert, die sich aus den Prozessen, die gemeinhin als »Sozialabbau« bezeichnet werden, nicht einfach heraushalten wollen und von der Nabelschau der »Krise der Linken« die Schnauze voll haben.
Beim Versuch, die Veränderungen in der Welt zu verstehen, stoßen viele auf die Texte von Joachim Hirsch, der mit dem »nationalen Wettbewerbsstaat« [2] einen Begriff geprägt hat, der überall in der linksradikalen Diskussion und auch in Arranca auftaucht. Hirsch tritt am Ende seiner Analyse für eine bessere, demokratischere Regulierung der Globalisierung ein; eine revolutionäre Umwälzung lehnt er als unrealistisch ab. Und das ist auch die Haltung der meisten autonomen Gruppen, die versuchen, etwas zur »sozialen Frage« zu sagen. Warum ist der Bezug auf die »Gesellschaft« mit einem Verlust der eigenen Radikalität verbunden? Warum verliert die negative Kritik an Kraft? Es geht gerade heute darum, die gängigen Begriffe und Konzepte zu überprüfen, zu kritisieren und gegen ihre Erfinder zu kehren, um wirklich radikale Theorie zu denken, die auch Möglichkeiten aufzeigt, die über die jetzigen Sackgassen hinausweisen.
Der Text von FelS geht beim flüchtigen Lesen runter wie nix, alle gängigen Schlagwörter fallen - und werden nirgends hinterfragt (Was ist eigentlich »Globalisierung«?). Mit dem Fortgang der Argumentation verengt der Text allerdings den für eine radikale Praxis übrigbleibenden Handlungsspielraum. Im Vorwort zu Heft 10 begründet FelS nochmal, warum die »soziale Frage« von Beginn an eine zentrale Rolle in ihrer politischen Aktivität gespielt habe. Ihnen gehe es um eine aktive Beteiligung am Aufbau eines »sozialen Widerstandes hier in Deutschland«. Und weiter unten: »Welche Auswirkungen wird die neue Arbeitsorganisation auf die Subjekte und ihre Kommunikation untereinander (z.B. Solidarität) haben?«. Dies liest sich zunächst wie ein anspruchsvoller Untersuchungsansatz: Perspektiven des sozialen Widerstands aus den Widersprüchlichkeiten der sich verändernden Arbeitsorganisation zu entwickeln. Wir werden sehen, inwieweit FelS diesen Anspruch einlösen kann. Aber die Achse unserer Kritik sei hier schon mal skizziert: Gerade weil sie es nicht schaffen, weder in den historischen Teilen (»Fordismus/Keynesianismus«), noch in ihrer Analyse der aktuellen Situation (»Neoliberalismus/Globalisierung«), an diesen im Vorwort aufgeworfenen Fragen festzuhalten, können sie den Klassencharakter dieser Gesellschaft nur mit dem aus der bürgerlichen Diskussion übernommenen und dementsprechend entmündigenden Begriff der »sozialen Frage« benennen. FelS macht sich am Schluß zum Sachverwalter der Armen und Ausgegrenzten, denen zuvor die Möglichkeit zu gemeinsamem Handeln abgesprochen wurde [3]. Die Lücke zum »handlungsfähigen Subjekt« wird von FelS mit taktischen Forderungen geschlossen, die »einerseits mobilisieren, andererseits aber auch radikal aufzeigen, wo wir hinwollen (...)« [4]. Hier scheint eine gewisse Nähe zu leninistischen Organisationskonzepten und der traditionellen Vorstellung von »Übergangsforderungen« durch. Im Text selber bleibt unklar, ob die theoretischen Schwächen auf dieser praktischen Orientierung beruhen, oder die schlechte Praxis aus schlechter Theorie folgt.
Wie stellt FelS sich und uns die Welt vor?
Zusammenfassung ihrer zentralen Argumente
Der Arranca-Artikel stellt uns die Welt so dar, wie sie uns tagtäglich während der Tagesschau, durch unseren Sozialkundelehrer und auch verschiedene linke Theorien in den Kopf geknallt wird. Theoretisch bezieht sich FelS dabei immer wieder auf die Regulationstheorie, den heute tonangebenden Ansatz linker Politikwissenschaft [5]: Die Regulationisten hatten sich in den 70er Jahren dem Problem gestellt, daß die »marxistischen Theorien« zwar in den weltweiten Kämpfen der ArbeiterInnen in den 60/70er Jahren die Ursache der kapitalistischen Krise erkennen konnten, dieser Zusammenhang zwischen kapitalistischer Entwicklung und Klassenkampf aber mit dem Andauern dieser Krise - und dem gleichzeitigen Abflauen der ArbeiterInnenkämpfe - zunehmend schwerer zu erkennen war. Sie suchten nach Erklärungen für die Erschöpfung des Profitabilitätszuwachses und untersuchten die Veränderungen des Verwertungsprozesses. In der Folge verlegten sie ihre Analyse auf die Gesamtheit der »ökonomisch-staatlichen Institutionen«, was letztlich dazu führte, die »Entwicklungen von der Seite des Kapitals als Zentrum und Motor der gesellschaftlichen Gesamtbewegung« zu betrachten. [6] Diese Sichtweise hat FelS übernommen: Die Entwicklung der Gesellschaft erscheint als Folge von politischen Maßnahmen der herrschenden Klasse, und die Bevölkerung taucht nur dann auf, wenn sie sich gegen Verschlechterungen wehrt. Der Markt ist der Macher, er diktiert die Lebensbedingungen, der Staat greift regulierend ein.
FelS zufolge hat er dies Anfang der 30er Jahre erstmals getan, seit der historischen Wende durch den US-amerikanischen New Deal und den europäischen Faschismus. [7] Folglich müßte davor der »freie Markt« gewirkt haben: »Kern der neuen Politik war, daß der Markt sich nicht selbst überlassen bleibt, sondern der Staat direkter als bisher interveniert«. [8] Auch wenn sich FelS nicht ganz sicher ist (»direkter«), liegt hier der Kern ihrer Argumentation. Der keynesianisch regulierte Kapitalismus sei Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre in die Krise gekommen: durch die Verweigerung der Menschen, durch die Beseitigung von Arbeitsplätzen mittels neuer Technologien und die Automatisierungswelle. [9] Ende der 70er Jahre setzte dann laut FelS in den USA und Großbritannien die neokonservative bzw. neoliberale Wende ein.
Der Text faßt den Neoliberalismus als Kampfprojekt mit dem Ziel der gesellschaftlichen Umverteilung auf Kosten der Unterschichten. Mit dieser Entwicklung seien dem Reformismus die Grundlagen entzogen. Ihre politische These ist, daß der Neoliberalismus nur durch soziale Bewegungen weltweit unter Druck gesetzt werden kann, daß es aber nirgendwo (gemeint ist: in der BRD) Andeutungen für die Herausbildung eines gesellschaftlichen Subjekts, noch eines dementsprechenden politischen Projekts gebe. Ihre Schlußfolgerung ist in Anlehnung an Hirschs Thesen zum »nationalen Wettbewerbsstaat« ein Plädoyer für einen radikalen Reformismus, worunter sie verstehen, mit leicht vermittelbaren Forderungen für eine Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Unterschichten zu kämpfen. Eine solche Politik sei im Zeitalter der Globalisierung zwangsläufig antikapitalistisch.
Der Verfasser stützt seine Vorschläge im wesentlichen auf drei Argumente:
1) Das Zeitalter des Keynesianismus/Fordismus, das zwar kein Paradies für die ArbeiterInnen oder »Unproduktiven« gewesen sei, aber ihnen immerhin das »Existenzrecht« garantiert habe, sei durch eine Politik des Neoliberalismus abgelöst worden. Der grundlegende Unterschied zwischen Neoliberalismus und Keynesianismus bestehe darin, daß die nationalstaatliche Wirtschaftspolitik sich jetzt darauf reduziere, dem Kapital gute Verwertungsbedingungen zu verschaffen, während sie gegenüber den ArbeiterInnen nichts mehr zu verschenken habe, keine »reformistischen Spielräume« besitze. Auch in der BRD sei der Sozialpakt aufgekündigt worden, der lange Zeit den Aufstieg zum europäischen Führungsstaat flankiert habe.
2) Die Globalisierung der Ökonomie führe nicht zum Entstehen einer globalen Gesellschaft. Denn die auf dem Weltmarkt konkurrierenden Kapitale bräuchten eine ungleiche Entwicklung der Nationalstaaten, um gegenüber den Konkurrenten Extragewinne einfahren zu können. Aufgabe der Nationalstaaten sei es, diese Unterschiede und die Spaltungen zu organisieren; dabei setzten manche auf Billiglohnvorteil, andere auf den Vorteil des technologischen Fortschritts und des »sozialen Kompromisses«. Während der Kapitalismus bisher immer vereinheitlichend gewirkt und zur Herausbildung eines kollektiven Subjekts geführt habe, treibe er nun eine nie dagewesene Segmentierung und Vereinzelung voran.
3) Nach dem Niedergang der sozialistischen Staaten haben sich sowohl der sozialdemokratische Keynesianismus als auch die realsozialistischen Staaten im Bewußtsein der Massen als unterlegen erwiesen. Das Fehlen einheitlicher Lebensbedingungen führe zu Entsolidarisierung. Stattfindende Kämpfe wie der Generalstreik in Frankreich oder Massendemos in Italien für die Frühverrentung gehen von den noch garantierten Arbeiterschichten aus und führen nicht zur Herausbildung eines Gesamtprojekts; Jugendliche in den Vorstädten haben allein die Möglichkeit des Riot, der von der Repression erdrückt werde; illegale Migranten haben keine Möglichkeiten der Organisierung.
Unsere Kritik wollen wir entlang der folgenden Thesen entwickeln:
1. Keynesianismus und Fordismus
Auch der keynesianische Nationalstaat hatte keine andere Funktion, als möglichst gute Verwertungsbedingungen für das Kapital sicherzustellen. Der Artikel macht einen falschen Gegensatz zwischen »Markt« und »Staat« auf, die nur zwei komplementäre Seiten der kapitalistischen Ausbeutungsgesellschaft sind. Der Kapitalismus hat zu keiner Zeit als »Marktwirtschaft« funktioniert.
2. Neoliberalismus und Segmentierung
Globalisierung ist die kapitalistische Reaktion auf die Klassenkämpfe im Keynesianismus. Es geht dabei nicht um einen Kampf zwischen »Nationalstaaten« und »weltweitem Kapital«, sondern um eine Konkurrenz zwischen verschiedenen kapitalistischen Strategien (»rheinisches« gegen »angelsächsisches« gegen staatskapitalistisches Modell) gegenüber den ArbeiterInnen. Die »Segmentierung« ist kein Kennzeichen des Neoliberalismus, sondern begann schon in den 20er Jahren mit der Durchsetzung der fordistischen Ausbeutungsmethoden und der Einbindung der Gewerkschaften.
3. Politische Vorschläge und Reformismus
Die Etikettierung der veränderten Organisation der Ausbeutung als »Neoliberalismus« ist schon Teil einer reformistischen Strategie, die um eine Mitwirkung in der Politik kämpft. Die Formulierung einer »sozialen Frage« kann nur zu wohlfahrtsstaatlichen Modellen führen, statt an den wirklichen Klassenkämpfen anzusetzen.
Zu 1.: Fordismus und Keynesianismus
Das Papier beginnt mit einem »Rückblick« auf den Keynesianismus, der als direktere Intervention des Staates in den Markt beschrieben wird. Dieser »Richtungswechsel« in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wird mit »drei sehr verschiedenen Ursachen« erklärt:
»a) war er ein Eingeständnis, daß die Marxsche Theorie der zyklischen Krisen im Kapitalismus richtig war, denn nach der Weltwirtschaftskrise 1929/30 drängte auch das Kapital darauf, mit direkten staatlichen Eingriffen Zusammenbrüche des Marktes wie nach dem schwarzen Freitag (Kollaps der US-Börsen) zu verhindern;
b) war er eine Folge der neuen, auf dem Fließband beruhenden ('fordistischenş) Produktionsweise: Die Massenherstellung von Autos, Kühlschränken etc. mußte auch verkauft werden, was wiederum nur möglich war, wenn die Arbeiterlöhne deutlich stiegen;
c) war er ein Zugeständnis an die revolutionäre ArbeiterInnenbewegung und die Drohung eines Umsturzes: Durch den Pakt mit den Gewerkschaften erkaufte sich das Kapital eine lang andauernde innenpolitische Stabilität.« [10]In den 70er Jahren sei der Keynesianismus durch das zunehmende Verweigerungsverhalten gegenüber dem Lebens-, Arbeits- und Konsummodell der Massengesellschaft in die Krise gekommen. Als Antwort darauf habe es zunächst in Großbritannien und den USA eine neokonservative/-liberale Wende gegeben, die in der BRD wegen der großen Stabilität des sozialpartnerschaftlichen Modells etwas später und sehr viel bescheidener stattgefunden habe. Da dieses allerdings in Kontinuität stehe zu den nationalistischen Sozialpartnerschaftsmodellen, könne es heute auch nicht darum gehen, den Status quo »Sozialstaat« einfach nur zu verteidigen. [11]
Trotz dieser Einschränkung schimmert im gesamten Artikel eine verklärende Sichtweise des Keynesianismus und vor allem der »goldenen Jahre« nach dem Zweiten Weltkrieg durch, wie sie der Regulationstheorie folgend heute bis weit in die Linke hinein üblich geworden ist - als habe es sich dabei um einen nichtkapitalistischen Staat gehandelt. Diese Einschätzung abstrahiert u.a. davon, »daß die Einführung der keynesianischen Politik der Höhepunkt eines langanhaltenden, grausamen, blutigen und gewaltsamen Konflikts war, wie es ihn so in der Weltgeschichte noch nicht gegeben hatte.« [12]
FelS behauptet, die Einführung des Keynesianismus habe »drei sehr verschiedene Ursachen« gehabt. Wir nehmen im folgenden die Argumentation von John Holloway [13] auf, um zu zeigen, daß es einen ganz wesentlichen inneren Zusammenhang zwischen ihnen gibt: den Klassenkampf. Diesen Zusammenhang nicht zu sehen, führt zu einer Sichtweise, die zwischen produktiver Arbeiterklasse und unproduktiven Migranten, Globalisierung dort und Nationalstaat hier trennt. Welche weitreichenden politischen Konsequenzen dies hat, werden wir weiter unten sehen.
Revolution und Weltwirtschaftkrise
Die revolutionäre Drohung einer weltweiten Arbeiterklasse, die ihre Höhepunkte in der Revolution in Rußland und Mexiko 1905 hatte und ihr vorläufiges Ende mit dem Sieg der Bolschewiki 1917 fand, hatte die alte Weltordnung erheblich durcheinandergebracht und war auch nach dem Ersten Weltkrieg nicht geschlagen. Erst nachdem die IWW (Industrial Workers of the World) in den USA vernichtet waren, die bewaffneten ArbeiterInnen in Deutschland niedergeschossen waren und der Generalstreik in England 1926 zerschlagen war, eröffneten sich Möglichkeiten für eine institutionelle Integration als Arbeiterbewegung. Allerdings wurden sich die Kräfte der alten Ordnung darüber nicht einig. Während die einen auf militärische Repression setzten, leiteten andere Kapitalisten auf Fabrikebene eine gigantische, kreditfinanzierte Rationalisierungsoffensive ein, die die alten Arbeiteravantgarden aus ihren Positionen verdrängte und Arbeitslosigkeit produzierte. Gegen die Auffassung, der Börsenkrach von 1929 und die darauf folgende Weltwirtschaftskrise sei eine gewöhnliche »zyklische Krise im Kapitalismus« [14] gewesen, sieht Holloway darin eine Spätfolge der revolutionären Drohung, die durch die Aufnahme von Krediten und von fiktivem Kapital an der Börse nur aufgeschoben, aber nicht gelöst worden war. Der Anspruch auf das Produkt zukünftiger Ausbeutung, der mit dem Kredit verbunden ist, war auf absehbare Zeit nicht einlösbar, weil die tatsächliche Mehrwertproduktion nicht Schritt gehalten hatte. Der Kollaps der New Yorker Börse führte weltweit zu Firmenzusammenbrüchen und zur Flucht in nationalstaatlichen Protektionismus. Jetzt, da das Ende des Kapitalismus bevorzustehen schien, wurden sich die Herrschenden weltweit einig, daß eine solche Stufe von Vergesellschaftung der Arbeit, wie sie die moderne Massenproduktion mit sich bringt, eine Neuorganisierung der gesellschaftlichen Ordnung notwendig mache.
Dabei war die Form der Mehrwertabpressung selbst, die moderne Fabrik, von den Bolschewiken bis zu den Faschisten unumstritten. Die institutionalisierte Arbeiterbewegung hatte sich schon immer als Wegbereiter des technischen Fortschritts begriffen. In den modernen Produktionsmethoden sah sie die Zukunft, die den ArbeiterInnen billige Konsumgüter zur Verfügung stellen konnte. Hier war die Kompromißlinie, auf der den Gewerkschaften später eine zentrale Rolle bei der Regulierung von Konflikten zugewiesen werden konnte. Hier liegt der Kern der Dynamik, die in den USA zur Arbeitspolitik der Roosevelt-Regierung führte.
Der New Deal in den USA, der die Arbeiterklasse in ihrer institutionalisierten Form politisch anerkannte, war kein friedlicher Kompromiß, sondern wurde erst unter dem Druck einer militanten Streikwelle Mitte der 30er Jahre in der gesamten Industrie (»Sit-Down-Streiks«) zu einer strategischen Option der Herrschenden. Der wirtschaftliche Erfolg war allerdings nur von kurzer Dauer. 1937 brach die Konjunktur ein, 1939 gab es über zehn Millionen Arbeitslose in den USA. Die wesentliche Restrukturierung wurde erst durch den Krieg zustande gebracht.
Dabei war das Konzept des New Deals, an dem heute der Charakter des Fordismus festgemacht wird, keineswegs das einzige politische Modell für die neuen Produktionsstrukturen gewesen. Auch in den USA hatten Teile der Herrschenden wie Hoover auf korporatistische Lösungen gesetzt, was erst mit der Wahl Roosevelts und vor allem durch die Arbeiterkämpfe verhindert werden konnte. [15] In Deutschland setzte sich dagegen das faschistische Modell durch, das auf neue Formen der Wirtschaftsplanung und wissenschaftliche Arbeitsorganisation setzte, die sich direkt in die Kriegswirtschaft überführen ließen.
Fordismus
Fordismus wird von FelS als Massenherstellung von Autos, Kühlschränken usw. beschrieben, die wachsende Arbeitereinkommen erfordere, um diese Waren verkaufen zu können.
Fordismus ist aber kein statisches Modell effektiver Ausbeutung von gut bezahlten ArbeiterInnen an Fließbändern: der Fordismus enthält eine Kampfgeschichte, die beispielhaft an der Auseinandersetzung des Kapitalisten Ford mit seinen ArbeiterInnen umrissen werden soll. Fordismus galt bis in die Nachkriegszeit als ein autoritäres Produktionssystem, das objektiv über das Fließband durchgesetzt wurde, aber auch durch ein System aus Angst und Gewalt, ausgeübt durch die Schläger des Werkschutzes, flankiert wurde. Die Zerstückelung des Arbeitsprozesses in kleine Teilschritte machte es möglich, ungelernte Arbeiter einzustellen. Aber zunächst liefen die Arbeiter in Scharen davon; die Fluktuation ging erst mit der Einführung des 5-Dollar-Tageslohns zurück, der an persönlich und politisch einwandfreie Lebensführung gekoppelt war. Dies ermöglichte Ford eine enorm selektive Personalpolitik, mit der er Sozialisten, Wobblies oder Gewerkschaften aus seinen Fabriken heraushalten konnte. Erst 1941 kapitulierte Ford vor dem Streik der Automobilarbeitergewerkschaft und unterschrieb den ersten Tarifvertrag. Damit begann eine Epoche der Einbindung der Gewerkschaft in die Unternehmensstrategie, die diese lange Epoche des »vorgewerkschaftlichen« Fordismus beendete. [16]
Krieg, der größte aller Keynesianer...
Der Zweite Weltkrieg hat die Welt auf den Kopf gestellt. Als er zu Ende war, stand zum ersten mal seit 50 Jahren das Ende des Kapitalismus nicht mehr unmittelbar auf der Tagesordnung. Auch wenn die unmittelbare Nachkriegszeit eine Phase voller Aufruhr war, hatten Millionen von Toten und die Spaltung der Welt in zwei Blöcke in den Industriestaaten die Basis für eine scheinbar stabile Nachkriegsordnung geschaffen, die erst in den 60er Jahren aufbrach.
In der BRD basierte diese Ordnung auf der effektiven Ausbeutung der ArbeiterInnen und einer ungekannten Ausweitung des Staates, der als Sozialstaat die Verfügbarkeit der Arbeitskraft garantierte. Doch schon während der ersten Krise 1966/67 funktionierten die keynesianischen Rezepte staatlicher Wirtschaftslenkung nicht. Gegen die Ursachen der Krise - militante Arbeiterkämpfe und ein breites soziales Verweigerungsverhalten - funktionierte das alte Mittel der Ökonomisierung der Konflikte nicht mehr.
FelS referiert zwar diese Krisenursachen, scheint sie aber nicht in ihrer Tragweite zu verstehen: als Beginn einer langen Krisenperiode, die bis heute nicht beendet ist. Denn eine Seite weiter wird angemerkt, das Kapital habe diese Sozialpartnerschaft aufgekündigt, obwohl das Konzept doch gut funktioniert habe. Keynesianismus und Fordismus sind bei FelS stabile Gesellschaftsplanungsmodelle, von der darin enthaltenen Klassenkampfdynamik ist nichts mehr zu sehen. Auch die Einführung der Sozialversicherung im 19. Jahrhundert wird nur als spürbare Verbesserung der Lebensbedingungen beschrieben. Kein Wort von der Streikwelle Ende der 1880er Jahre, den erst kurz zuvor aufgehobenen Sozialistengesetzen, der Enteignung selbstorganisierter Rentenkassen der Gewerkschaften und den weitreichenden Folgen der dadurch erfolgten Verstaatlichung der Arbeiterbewegung.
Damit werden die »Unterklassen« auf materielle Bedürfnisse nach Essen, Wohnung und Arbeit reduziert. Sind diese gesichert, scheint es keinen Grund für Revolten zu geben. Damit resigniert FelS vor obrigkeitsstaatlichen Modellen, die die Lebensbedingungen der Massen verbessern (dazu weiter unten).
Zu 2.: Neoliberalismus und Segmentierung
Übermacht des globalen Kapitals und Verlust des Subjekts
In der öffentlichen Diskussion wird der Begriff »Neoliberalismus« gebraucht, um ein verändertes Verhältnis von »Staat und Wirtschaft« zu benennen. In Anlehnung an Hirsch schreibt FelS von einer Machtverschiebung in diesem Verhältnis, die sie als politisch gewollten Prozeß beschreiben: »Mitte bis Ende der 70er Jahre setzte dann zunächst in Großbritannien eine neokonservative/-liberale Wende ein, die eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft nach sich zog: massiver Sozialabbau, Kampf gegen die Gewerkschaften und Rückzug auf die monetaristische Theorie...«. [17] Die (Neo-) Liberalisierung geht also vom Staat aus, aber gleichzeitig erscheinen die Staaten als die Opfer einer Entwicklung, der sie nichts entgegenzusetzen haben, einer Gewalt, der sie sich nur bestmöglich anpassen können. »Das Kapital sucht diejenigen Orte, an denen die jeweils interessantesten Vorteile miteinander kombiniert werden. Nationalstaatliche Wirtschaftspolitik hat somit kaum noch reformistische Spielräume, sie reduziert sich darauf, möglichst gute Verwertungsbedingungen für das Kapital sicherzustellen...«. [18]
Welche anderen Aufgaben hat denn nationalstaatliche Wirtschaftspolitik sonst gehabt? Die neue »anti-neoliberale Ideologie« diskutiert den »Neoliberalismus (...) wie eine Abweichung von der kapitalistischen Politik (...) und nicht als das Resultat des Scheiterns interventionistischer Regulierungen zur Sicherung der privaten Kapitalrentabilität.« [19]
In der aktuellen Diskussion um Globalisierung wird davon gesprochen, daß das Kapital freier geworden sei, daß es nicht mehr an einen (Stand-) Ort gebunden sei, sich vom Nationalstaat gelöst habe. Wenn die Ausbeutung in den Betrieben funktioniert und entsprechende Profite abwirft, scheint das Kapital an eine Firma (VW) oder an eine Nation (BRD) gebunden zu sein. Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als hätte der Sozialstaat der 50er und 60er Jahre die Menschen vor dem Weltmarkt beschützt, sein Kapital an sich gebunden und gezähmt, wie es auch bei Arranca anklingt. [20] Die Kämpfe der 60/70er Jahre zerrissen das beschauliche Bild einer keynesianisch gesteuerten Nationalökonomie und kickten das produktive Kapital als zerknüllten Geldschein hinaus in die Welt. Die rasante Entwicklung des Finanzkapitals in den Jahren danach beruhte auf der Unmöglichkeit, profitable Verwertungsbedingungen in der Produktion zu finden.
Wenn die Rolle des Nationalstaates sich heute zunehmend darauf reduziert, »möglichst gute Verwertungsbedingungen sicherzustellen«, stellt sich die Frage, welche Funktionen der keynesianische Nationalstaat darüber hinaus gehabt haben soll. Statt zu begreifen, daß Staat und Markt (bzw. Kapital) nur zwei komplementäre Seiten der kapitalistischen Klassengesellschaft sind, werden Staat und Kapital zu den widerstreitenden Subjekten gemacht und damit die verdinglichte Trennung zwischen »Politik« und »Ökonomie« übernommen: »Der Marktliberalismus Reagans und Thatchers läutete auch in den Beziehungen der kapitalistischen Zentren zu den hochverschuldeten 'Trikontstaatenş eine neue Phase ein. Die steigenden Zinssätze auf den internationalen Finanzmärkten hatten in den 70er Jahren allgemein zu einer explosionsartigen Aufblähung der Schulden der Dritten Welt (...) geführt.« [21]
Die Arbeiterklasse kann dann nur noch als das Opfer eines neuen Verhältnisses von Politik und Ökonomie auftauchen, das sich nach den globalen Kapitalerfordernissen zu richten hat. Es wird nicht gefragt, warum Reagan oder Thatcher die Geldpolitik änderten oder was hinter den steigenden Zinssätzen steckt. Die Konflikte innerhalb des Staatenverbunds oder zwischen Staat und Kapital erscheinen als ausschlaggebend für die Veränderungen. Die Menschen erscheinen nur noch als Opfer ihrer eigenen verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnisse - damit ist auf theoretische Weise die Frage nach Befreiung verbaut und durch die schlechte Alternative zwischen »mehr Markt« oder »mehr Staat« ersetzt worden.
In der aktuellen Diskussion verkörpert vor allem der Begriff der »Globalisierung« die Verdinglichung und Entfremdung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Niemand kann genau sagen, was »Globalisierung« ist - aber alle scheinen sofort zu verstehen, was gemeint ist. Dies »Gemeinte« ist nichts anderes als eine anonyme, unfaßbare, dingliche Macht, der wir alle ausgeliefert erscheinen: die Staaten, die ArbeiterInnen, die Menschen. Wenn dann mit »Globalisierung« die Errichtung einer neuen stabilen Ausbeutungsordnung verstanden wird, wie es bei Hirsch und Arranca geschieht, entsteht das Gegenteil von revolutionärer Theorie. Statt die Produziertheit der Verhältnisse und das Handeln der Menschen freizulegen, werden die Verkehrungen und Verrücktheiten dieser Verhältnisse theoretisch zementiert.
Wir können hier noch keine ausführliche theoretische Kritik des Globalisierungsbegriffs leisten, aber wir können andeuten, in welche Richtung sie zielen muß. Statt den Schein der Übermacht und des Ausgeliefertseins zu festigen, müssen wir fragen, wo die neuen Abhängigkeiten des Kapitals von der Arbeiterklasse liegen, welche Schwachstellen und Bruchpunkte in der Entwicklung des globalen Kapitalverhältnisses entstehen. Wenn ArbeiterInnen quer über Kontinente hinweg zusammenarbeiten, liegen darin auch neue Möglichkeiten, das Kapital global zu bekämpfen. FelS deutet selbst diese Möglichkeit an: »Der Streik von mexikanischen oder tschechischen AutoarbeiterInnen hat direkte Konsequenzen, er kann sich auf die Arbeitsbedingungen von Betrieben hier unmittelbarer auswirken als ein Konflikt, der in der BRD stattfindet.« Auch der LKW-Fahrer-Streik in Spanien vom März '97 ist ein Beispiel dafür, daß die Globalisierung nicht unbedingt die Stabilität des Kapitals stärkt. [22] Daß die angeführten Streiks und Mobilisierungen noch zu keiner länderübergreifenden Zirkulation der Kämpfe geführt haben, sondern meist an Gruppen-, Betriebsinteressen oder nationalen Gegensätzen stehen geblieben sind, sollte uns nicht dazu verleiten, die im Kapital als Verhältnis liegende Widersprüchlichkeit auszublenden und zu vergessen. [23]
Weil FelS von der Übermacht des Kapitals ausgeht, können sie auch die Frage nach einem Subjekt der Veränderung nur negativ beantworten. Im Triumphzug der Globalisierung hinterläßt »ihr« Kapital nur noch eine segmentierte Masse von »sozial Schwachen« und »Kapitalarmen«. Die IWW blitzen kurz als mögliche Organisationsform der Zukunft auf, aber gerade dieser Hinweis geht an der historischen Realität vorbei. Die organisatorischen Erfolge der Wobblies beruhten gerade nicht auf einer durch den Kapitalismus vereinheitlichten Klasse, deren Fehlen FelS heute bedauert: »Es gibt praktisch keine erwähnenswerte Bevölkerungsgruppe mehr, die einheitliche Lebens- und Arbeitsbedingungen besitzt (...). Mit der Automatisierung der Arbeit sind die für den Fordismus charakteristischen Massenfabriken verschwunden oder zumindest sehr viel weniger zahlreich geworden«. [24] Die Stärke der IWW lag eher in ihrem Konzept der »direkten Aktion«, in ihrer Verweigerung gegenüber einer Institutionalisierung der Kämpfe. Die Zirkulation der Kampferfahrungen und die Präsenz an den Orten der Ausbeutung vereinheitlichte die Kämpfe - trotz der enormen Mobilität, den vielen unterschiedlichen Herkunftsländern und Sprachschwierigkeiten. [25]
Segmentierung ist kein Phänomen des Neoliberalismus oder Postfordismus.
FelS stellt ganz richtig die Frage, was eine veränderte Arbeitsorganisation für die Klassenkämpfe von heute bedeutet. Es ist allerdings fraglich, ob die Analyse der »Segmentierung« die Frage nach den Subjekten von Kämpfen in der neuen Arbeitsorganisation, wie sie im Vorwort noch gestellt worden ist, beantworten kann.
»Segmentierung« ist ein Begriff aus der soziologischen Debatte, der ursprünglich die Nichtdurchlässigkeit zwischen Arbeitsmärkten sowohl innerhalb eines Landes als auch innerhalb von Großbetrieben für unterschiedliche Arbeiterschichten (qualifizierte, unqualifizierte, ausländische, junge, weibliche usw.) beschreibt. Historische Untersuchungen widerlegen die Vorstellung, daß eine ursprünglich einheitliche Arbeiterklasse durch verschiedene Maßnahmen des Kapitals gespalten wurde. Die Segmentierung begleitete die Periode rascher Kapitalakkumulation nach dem Zweiten Weltkrieg. In den großen Firmen hatte der Prozeß schon in den 20er und frühen 30er Jahren mit neuen effektiven Ausbeutungsmethoden begonnen. Die Konsolidierung der Segmentierung geschah in den 50er Jahren. Von ihrer Herkunft, Ausbildung, Erfahrung, Kampftradition her unterschiedliche »Teile« der Arbeiterklasse wurden in unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen, Betrieben, Branchen, Abteilungen usw. ausgebeutet, wobei objektive Unterschiede und Konkurrenzverhältnisse zwischen diesen »Teilen« eine wichtige Rolle spielten und auch von Kapitalisten immer wieder gegen die Vereinigung als Klasse ausgespielt wurden. Viele dieser Spaltungslinien hielten sich über Generationen, andere konnten durch Kämpfe aufgehoben werden. Die betriebssyndikalistische oder nationalistische Politik der Gewerkschaften trug stark zu dieser Segmentierung bei.
In den 60er Jahren, als es FelS zufolge aufgrund einheitlicher Arbeits- und Lebensbedingungen ein »Massensubjekt« gegeben haben soll, beklagten die kritischen Segmentierungstheoretiker die mangelnden Beschäftigungschancen für Frauen, Jugendliche oder Schwarze/Ausländer. Prozentual war der in der heutigen Fordismus-Diskussion gern angeführte gut verdienende, dauerhaft beschäftigte männliche Fabrikarbeiter keineswegs die Mehrheit. Für Frauen haben all diese Bedingungen damals wie heute nicht gegolten. Dies wird leicht übersehen, wenn heute von der »vielfältigen Aufspaltung« anhand unterschiedlicher arbeitsrechtlicher Verhältnisse die Rede ist. [26]
FelS argumentiert, zu Beginn der Industrialisierung seien die vereinzelten Bauern aus der Landwirtschaft herausgelöst und in die Fabriken getrieben worden. Hier und in den Massenunterkünften seien sie so vom Kapital zu einem »kollektiven Subjekt zusammengeschweißt worden«. [27] Die kapitalistische Entwicklung selbst habe somit vereinheitlichend gewirkt, insbesondere, als die Fließbänder eingeführt und der »Massenarbeiter« entstanden sei.
Die Herausbildung des »Massenarbeiters« in Italien zeigt aber gerade das Gegenteil: Als sich in den 50er Jahren Hunderttausende von Jugendlichen auf die Reise nach Norden machten, um in den Klitschen und großen Fabriken zu arbeiten, wurden sie von den gewerkschaftlich organisierten (Fach-) Arbeitern des Nordens als Konkurrenz empfunden, die ihre Stellung im Betrieb untergraben sollte. Lange Jahre galten sie als die unwissenden Bauerntölpel, die nicht einmal Italienisch sprachen, nicht wußten, wie man sich im Betrieb solidarisch verhält, und die sich an gewerkschaftlichen Streiks nicht beteiligten. Die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse, die Ende der 60er Jahre ihren Höhepunkt in massenhaften Streiks und Fabrikbesetzungen fand und in der sich neue radikale Kampfinhalte herausbildeten, war ein langjähriger Prozeß auch innerhalb der Klasse selbst - sie war nicht das automatische Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung, von Massenunterkünften und Fließband. Das gleiche kann auch für die BRD beschrieben werden - von den rassistischen Angriffen auf die italienischen Immigranten über ihre Beteiligung in den Kämpfen der 60er Jahre bis hin zu ihrer Integration in die Gewerkschaften.
Ähnliche Prozesse einer raschen Industrialisierung und Durchsetzung des Kapitalverhältnisses finden heute in weiten Teilen Asiens statt - und genau dort hat sich auch eine kämpferische ArbeiterInnenbewegung entwickelt. Der Blick über Europa hinaus zeigt, daß die »Globalisierung« keineswegs nur zur unendlichen Aufspaltung der ArbeiterInnen führt. [28]
Zu 3: Vom Klassenkampf zur »sozialen Frage«
Wir haben es beim Neoliberalismus nicht mit einem fertigen Akkumulationsmodell zu tun, das FelS schon als durchgesetzt vorwegnimmt. Der Neoliberalismus kann wie jede kapitalistische Strategie nur das aufgreifen, was im Verhalten der ArbeiterInnen bereits angelegt ist, um daraus Gewinn zu schlagen: die Ablehnung, von der Ausbildung bis zur Rente im gesicherten Vollzeit-Job zu ersticken, wird zur Flexibilisierung der Arbeit; der Wunsch, keinen nervigen Meister oder Chef über sich zu haben, erscheint in neuer Selbständigkeit; das Bevorzugen eines Langzeitstudiums gegenüber der Arbeit gerät zu »lebenslangem Lernen«; das Nichtvertrauen in staatliche Absicherungen läßt Privatversicherer boomen usw. Ob sich daraus ein stabiles Modell kapitalistischer Akkumulation konstruieren läßt, ist alles andere als entschieden. Die Schwierigkeiten der Kapitalisten, die sich politisch im fortwährenden Streit um das bessere soziale Organisationsmodell und ökonomisch in immer wieder auftretenden Geldkrisen und Börsen-Crashs ausdrücken, sind nicht gelöst. Wenn wir davon ausgehen, daß das Kapital gesiegt hat, landen wie bei Positionen, die »das Schlimmste verhindern« wollen.
Den Feind als »Neoliberalismus« und nicht mehr als »Kapitalismus« zu bezeichnen, ist bereits der erste Schritt zu einer reformistischen Sichtweise, die auf Beteiligung an staatlicher Politik setzt. [29] Kein Wunder, daß der Text von FelS, der nun über ein Jahr alt ist, sich in vielen Punkten mit der bürgerlichen Kritik am »rein marktorientierten Kapitalismus« deckt, wie sie mittlerweile auf den Seiten von »Zeit« und »Le Monde diplomatique« geübt wird.
FelS steckt in der Zwickmühle. Auf der einen Seite sehen sie, daß der Neoliberalismus weder durch Regierungs- und Konzeptwechsel, noch nationalistisch zu stoppen ist: »Globalisierung und Weltmarktkonkurrenz sind damit der (vorläufige?) Tod des Reformismus« [30], sondern nur von sozialen Bewegungen von unten bekämpft werden kann. Sie übernehmen unhinterfragt Hirschs Einschätzung, daß es keine reformistischen Spielräume mehr gebe, obwohl es durchaus Autoren gibt, die das anders sehen [31], und schließen merkwürdigerweise daraus, daß reformistische Politik heute wieder wie in den Anfängen der Arbeiterbewegung antikapitalistisch sein müsse.
Von Klasse spricht der Text lediglich in Zusammenhang mit »illegalen Immigranten«, die aus sehr unterschiedlichen Situationen kommen und die sich auf unterschiedlichste Weise in den deutschen Arbeitsmarkt einzubringen versuchen. Aber gerade sie seien unfähig zu gemeinsamem Handeln: »Die illegalen MigrantInnen sind somit die neoliberale Arbeiterklasse schlechthin: globalisiert, weil sie aus allen Teilen der Welt zuwandern, miserabel bezahlt, völlig in der Hand von Staat und Kapital, betroffen vom Rassismus der 'einheimischenş Arbeiterklasse, in den Statistiken unsichtbar und zudem praktisch nicht in der Lage, sich zu organisieren.« [32] Eine so charakterisierte neoliberale Arbeiterklasse kann nur nach einem Retter verlangen, der sie organisiert und zusammenbringt: »Umso wichtiger ist es, konkrete soziale Forderungen zu benennen, die einerseits Leute mobilisieren, andererseits radikal aufzeigen, wo wir hinwollen, weil sie mit der bestehenden Markt- und Leistungslogik brechen.« [33]
Darauf folgt eine Liste von Forderungen wie die Festschreibung von Mieten, ein Existenzgeld von 1500 DM, Recht auf einen Arbeitsplatz, eine 25-Stunden-Woche, deren antikapitalistischer Gehalt darin bestehe, daß sie über die »existierende Sachzwanglogik« hinausgehen und innerhalb des Kapitalismus nicht durchzusetzen seien. Andererseits sollen die Forderungen »realistisch« bleiben, weil anders eine Mobilisierung der Menschen nicht erreicht werden könnte. Mal abgesehen von der Frage, ob Menschen jemals über abstrakte »Forderungen« in Bewegung gekommen sind, lädt gerade dieser »realistische« Charakter der Forderungen zur Beteiligung am politischen Geschäft ein und ordnet sich dem staatlichen Politikverständnis unter. Die Forderung nach einem »garantierten Mindesteinkommen« konnte schon immer in die Debatten um die Umstrukturierung des Sozialstaats, also der staatlichen Organisierung des Arbeitszwangs, integriert werden. [34] Daß FeLS diese Forderungen für im Kapitalismus nicht erfüllbar hält und was ganz anderes will, löst das Problem nicht. Das hieße nämlich: die Forderungen sind nur taktisch, es geht gar nicht um reale Verbesserungen, sondern darum, die Massen zum Nachdenken zu zwingen - damit sie eine Revolution daraus machen. Damit wird aber wie in allen leninistischen Modellen das Wesen des revolutionären Prozesses - Selbstbefreiung und Selbstveränderung - zugunsten einer pädagogischen Bevormundung aufgegeben.
Das zweite Standbein der vorgeschlagenen Initiative sind Bündnisse mit »Leuten mit wenig Knete« bis hin zu einzelnen Gewerkschaften, und zwar unter dem Verzicht auf große Parolen, denn »der Begriff 'Revolutionş stiftet, wenn es keine genauere Begriffserklärung gibt, mehr Verwirrung als Klarheit«. [35]
Das Verhängnis liegt bereits darin, daß FelS als Grund für ihre Beschäftigung mit den sogenannten »Unterklassen« die »soziale Frage« anführt. Hinter diesem Ausdruck versteckte das Bürgertum des 19. Jahrhunderts seine Angst vor den Revolten und Aufständen des frühkapitalistischen Proletariats und der Herausbildung eines Klassenkampfs. Weitsichtige Politiker forderten sozialpolitische Maßnahmen, weil ihnen klar wurde, daß sich proletarische Revolutionen nicht allein mit Militär und Polizei verhindern lassen.
Daß der Klassencharakter dieser Gesellschaft in linken Publikationen zunehmend nur noch als »soziale Frage« auftaucht, zeigt, wie sehr diese »Unterklassen« in der Linken nur noch als Opfer und Objekte von Politik wahrgenommen und behandelt werden - auch wenn sie der Revolution das Wort reden. Zur dieser Problematik schrieb ein Genosse vor einiger Zeit treffend: »Es wird so getan, als gebe es eine Wohnungsfrage, eine Arbeitsplatzfrage oder Lohnfrage, also genau in der Art und Weise, in der die bürgerliche Politik sozial bewegte Verhältnisse in Abstraktionen verwandelt, um sie sich zum eigenen Objekt zu machen. Ungewollt begibt man sich so auf das Niveau einer Klassenanalyse, die das Klassenhandeln vom Niveau der materiellen Bedürfnisbefriedigung abhängig macht, eine Art umgedrehte Verelendungstheorie, in der nunmehr der Rassismus und Rechtsradikalismus zur unmittelbaren Konkurrentin der Linken wird. Es ginge darum, so heißt es dann, die soziale Frage nicht den Rechten zu überlassen. Die 'soziale Frageş, in dieser abstrakten Weise gestellt, ist aber nichts anderes als die Frage nach den Bedingungen kapitalistischer Wohlfahrt des Proletariats. Und auf der Suche nach Antworten auf diese Fragestellung ist jede Linke - ob revolutionär oder reformistisch - dem Rassismus und Rechtsradikalismus hoffnungslos unterlegen.« [36]
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß FelS versucht, die aktuellen Entwicklungen in der Welt zu analysieren, um darauf praktische politische Initiativen aufzubauen. Aufgrund einer Analyse, der es nicht gelingt, die Mystifikationen der kapitalistischen Entwicklung theoretisch zu zerstören, sehen sie aber nur noch einen winzigen politischen Ausweg: das politisch stellvertretende Ansetzen an den Grundbedürfnissen der Massen. Daher gehen sie nicht von einer Untersuchung dessen aus, was die Ausgebeuteten selber tun, wie sie das Kapitalverhältnis in widersprüchlicher Weise konstituieren und zugleich in Frage stellen. Stattdessen suchen sie aus einer Organisationslogik heraus nach einem Objekt, das ihren Vorstellungen entspricht und sie als Vermittler braucht - und thematisieren deren Situation als »soziale Frage«.
Fußnoten:
[1] Die Gruppe FelS (Für eine linke Strömung), Herausgeber der Arranca, entstand Anfang der 90er Jahre in Berlin aus einer Kritik an der Politik der Autonomen als neues Organisationsprojekt. Theoretische Auseinandersetzung mit linken Organisationskonzepten und Theorien auf der einen Seite und Orientierung an »sozialen Kämpfen« und die Zusammenarbeit mit Antifasist Gençlik, einer damals wichtigen Organisation von jungen Leuten der zweiten Generation von ImmigrantInnen aus der Türkei, auf der anderen Seite zeichnen die Gruppe aus als selten gewordenen Versuch, theoretische Diskussionen mit radikaler Praxis zu verbinden. Sie haben in den letzten Jahren immer wieder neue Organisationsbemühungen und Kampagnen unternommen, die sie in der Folge kritisiert und revidiert haben. Nach dem Scheitern eines eigenen Organisationsprojekts war die Gruppe eine Zeitlang Mitglied der AA/BO (Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation). Die Mitarbeit im »Berliner Bündnis gegen Sozialkürzungen und Ausgrenzung« und die Unterstützung von Kämpfen von Immigranten und Flüchtlingen, u.a. durch einen Stadtteilladen in Berlin-Friedrichshain, waren ihre letzten praktischen Projekte. Der Artikel, den wir im folgenden kritisieren wollen, ist die Ausarbeitung eines Arbeitsgruppenpapiers auf dem EZLN-Kongreß im Juni 1996 in Berlin.
[2] Joachim Hirsch, Der nationale Wettbewerbsstaat, Berlin 1995. Siehe hierzu auch die Kritik von Werner Bonefeld in Wildcat-Zirkular Nr. 39.
[3] Arranca 10, S. 7.
[4] Arranca 10, S. 10.
[5] Genauer gesagt fallen sie bei ihrer Analyse noch hinter die Regulationsschule zurück, da bei ihnen das handelnde Subjekt der Staat ist mit seinen Regulierungsversuchen, während die Regulationsschule von einem sich selbst regulierenden System von verschiedenen Akteuren ausgeht.
[6] Siehe dazu den Aufsatz von Ferruccio Gambino: Kritik am Begriff des Fordismus, wie ihn die Regulationsschule benutzt, in: Wildcat-Zirkular Nr. 28/29.
[7] Arranca 10, S. 5.
[8] Ebd.
[9] Arranca 10, S. 5.
[10] Arranca 10, S. 5.
[11] Arranca 10, S. 6.
[12] John Holloway, Der Abgrund tut sich auf: Aufstieg und Niedergang des Keynesianismus, in: Wildcat-Zirkular Nr. 28/29, S. 21.
[13] Ebd.
[14] Arranca 10, S. 5.
[15] Siehe dazu Ferruccio Gambino, a.a.O.
[16] Siehe Ferruccio Gambino, a.a.O.
[17] Arranca 10, S. 5.
[18] Arranca 10, S. 8.
[19] Charles Reeve, Sturmwarnung, in: Wildcat-Zirkular Nr. 25.
[20] In seiner Kritik an den Thesen von Ingrao/Rossanda bestreitet Riccardo Bellofiore den realen Gehalt dieser Vorstellung. In manchen Punkten sei der Kapitalismus des keynesianischen Zeitalters, der eine unter der US-Hegemonie vereinheitlichte Weltwirtschaft darstellte, sogar globaler als die heutige Phase gewesen. Ricardo Bellofiore, Lavori in corso, in: Wildcat-Zirkular Nr. 27.
[21] Arranca 10, S. 5.
[22] Siehe hierzu den Artikel: Der LKW-Fahrerstreik in Spanien, in: Wildcat-Zirkular Nr. 34/35.
[23] Auch das Fließband galt bei seiner Einführung als endgültiger Sieg des Kapitals über die ArbeiterInnen, da es die zentrale Stellung der alten Facharbeiter im Arbeitsprozeß aushölte und damit ihre sozialistischen Ideale von Arbeiterkontrolle in der Fabrik zerstörte. Es dauerte Jahre, bis es ArbeiterInnen schafften, das Fließband als besonders wirksames Kampfmittel gegen das Kapital einzusetzen.
[24] Arranca 10, S. 7.
[25] Siehe Gisela Bock, Die »andere« Arbeiterbewegung in den USA von 1905 - 1922. Die Industrial Workers of the World, München 1976.
[26] Siehe hierzu David Gordon / Richard Edwards / Michael Reich, Segmented Work, Divided Workers. The Historical Transformation of Labor in the United States, Cambridge u.a. 1982.
[27] Arranca 10, S. 7.
[28] Siehe hierzu die Artikel in Wildcat-Zirkular Nr. 25 und 30/31.
[29] Dies wird von Richard Greeman in seinem Brief an die Freunde der Zapatisten ausführlicher herausgearbeitet, der in diesem Wildcat-Zirkular in Übersetzung abgedruckt ist.
[30] Arranca 10, S. 8.
[31] Vgl. Bellofiore in Wildcat-Zirkular Nr. 27.
[32] Arranca 10, S. 7.
[33] Arranca 10, S. 10.
[34] Siehe hierzu unsere Diskussionbeiträge zu diesen Forderungen in den Wildcat-Zirkularen Nr. 6, 18 und 19, sowie die Kritik an den Thesen zum Sozialstaat der Gruppe Blauer Montag in diesem Zirkular.
[35] Arranca 10, S. 9.
[36] Martin Rheinländer, Die Rassismusfalle, in: Wildcat-Zirkular Nr. 14, S. 50.