Globalisierung und Reformismus - Einstieg in eine überfällige Debatte
Die meisten Angriffe auf Lebens- und Arbeitsbedingungen sind in den letzten Jahren mit der »Standort-Problematik« und »Globalisierung« begründet worden. Es gibt eine regelrechte Schwemme von neuen Büchern, die vor einem »entfesselten Markt« oder dem »Terror der Ökonomie« warnen und dagegen das »Primat der Politik« einfordern. Es gibt kaum ein linkes Treffen, auf dem nicht über »Globalisierung« und »Neoliberalismus« als den größten Übeln der Menschheit geredet wird. Die Aufrufe der EZLN zur Bildung einer neuen Internationale stehen unter dem Motto »Gegen den Neoliberalismus« und prangern die »Globalisierung« an. (Vgl. R. Greeman: »Gefährliche Abkürzungen« in diesem Heft.)
Mit den jeweiligen Auffassungen von »Neoliberalismus« und »Globalisierung« werden dabei bestimmte politische Konzeptionen und praktische Vorschläge begründet. Daher haben wir zwei längere Texte aus der radikalen Linken intensiv diskutiert, die letztlich mit der »Globalisierung« begründen, daß wir heutzutage nur noch reformistische Politik machen können. Ohne es zu wollen, liegen sie damit voll im Trend, der sich in dem verbreiteten Ruf nach einem »Primat der Politik«, d.h. einem stärkeren regulierenden Eingreifen des Staates ausdrückt.
Wir gehen im folgenden auf manche Argumente sehr ausführlich ein, weil sie uns zur Zeit überall begegnen. Nachdem wir uns lange mit den theoretischen Aussagen der Texte beschäftigt haben, ist uns allerdings nicht mehr ganz klar, ob wir mit unserer Kritik den Nagel auf den Kopf treffen. Vielleicht wäre es genauso wichtig oder wichtiger, sich mit dem zu beschäftigen, was die Texte nicht sagen, weil die SchreiberInnen es für selbstverständlich halten (z.B. Annahmen über das, was »Kapital« ist, worin die Rolle revolutionärer Organisierung besteht, oder was revolutionäre Theorie leisten kann und muß).
Revolutionäre Theorie ...
Gerade beim Thema »Globalisierung« gibt es so etwas wie aktuelle Gedankenformen; d.h. Denkmuster, Auffassungen, die fast alle nachbeten - obwohl bei genauerem Hinsehen oft nicht klar ist, ob alle auch das gleiche meinen (Was ist z.B. Globalisierung? Auf welchen Ebenen findet sie statt? Ist das was Neues, oder gab es das schon immer?) Aber diese Auffassungen entstehen nicht zufällig und sind auch nicht nur der Dummheit oder Gemeinheit der Autoren geschuldet. Sie werden vom kapitalistischen Vergesellschaftungsprozeß selbst tagtäglich erzeugt - und so finden wir sie auch in der Linken (und bei uns selbst) wieder. Das hört sich erstmal bombastischer an als es ist: Leute werden unter Druck gesetzt, ihre Arbeitsplätze fallen weg, sie sollen mehr arbeiten usw. - und lesen dann einen Zeitungsartikel, der ihnen das alles erklärt: Globalisierung, Niedriglöhne, verschärfte Konkurrenz, Weltmarkt. Klingt doch erstmal alles logisch, oder? Letztlich sind das aber alles Auffassungen, die dich in deiner Rolle als Opfer von irgendwelchen großmächtigen Vorgängen festschreiben.
Alle (revolutionäre) Theorie wäre überflüssig, wenn die tatsächlichen, wesentlichen Zusammenhänge unmittelbar sichtbar wären. Das sind sie nur in Ausnahmesituationen, zum Beispiel in Zeiten zugespitzter Kämpfe und revolutionärer Kollektivität. Dann kann der Schein des Gegebenen tatsächlich schlagartig verschwinden, weil viele Menschen gleichzeitig erleben, daß und wie sie Geschichte und ihre eigene Gesellschaft selber produzieren. Im kapitalistischen Alltagsleben erscheint es dagegen als eine geradezu groteske und metaphysische Vorstellung, daß die Menschen ihre Gesellschaft produzieren oder die Arbeiterklasse den Gang der Entwicklung bestimmt.
Theorie (kritische, revolutionäre) ist also immer schon Kritik, an uns selbst und an anderen, an den uns spontan in den Kopf schießenden Vorstellungen, die so unweigerlich und falsch dort entstehen, wie sich Urin in der Blase sammelt. Daher brauchen wir für revolutionäres Handeln eine theoretische Kritik dieser Alltagsvorstellungen. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Distanzierung von sich selbst, dem Alltagsleben und -denken, ist eben die Bedingung, sich auch gegen die Umstände und Alltagsformen entscheiden zu können. In ihr löst sich der Widerspruch zwischen Materialismus (»das Sein bestimmt das Bewußtsein«) und revolutionärer Haltung (»wir greifen in die Geschichte ein«).
Deshalb haben wir die Texte von FelS (Berlin) und dem Blauen Montag (Hamburg) sehr ernst genommen; ernst, in dem Sinne, daß erstmal alles für sie spricht, weil sie dem entsprechen, was wir täglich erfahren, und daß es keineswegs leicht ist, über sie heute hinauszukommen, weil sich schwerwiegende Fragen dahinter verbergen, zu denen wir die Antworten nicht mal eben aus dem Ärmel schütteln können.
... entwickelt sich aus der Kritik des Vorgefundenen ...
Der Ausgangspunkt revolutionärer Theorie kann nicht sein: »erstmal erarbeiten wir uns eine Theorie, und dann wenden wir sie an«. Revolutionäre Theorie ist selbst nichts anderes als der Prozeß der Kritik, der Zerstörung der vorgefundenen Denkformen. Wenn bestimmte Denkmuster - z.B. zu Globalisierung, Staat, Kapital, Markt - immer wieder auftauchen, dann ist die Kritik an ihnen zentral für die Entwicklung von revolutionärer Theorie.
Revolutionärer Theorie geht es daher um etwas ganz anderes als etablierter Wissenschaft. Letztere will Menschen, Firmen oder dem Staat helfen, in der existierenden Gesellschaft zurechtzukommen; sie ist nützlich für die Zwecke, die sich innerhalb dieser Gesellschaft verfolgen lassen (dazu könnte auch die Frage gehören, wie eine Gruppe namens FelS oder Blauer Montag sich »erfolgreich« am politischen Geschäft beteiligen kann).
... und stellt die Frage, wie sich die Menschen selbst befreien können.
Und in diesem Sinne haben wir den Eindruck, daß unsere Kritik an den Texten teilweise vorbeigeht. Die Auseinandersetzung mit ihren theoretischen Argumenten ist wichtig, weil sie uns in der einen oder anderen Form immer wieder begegnen. Unklar bleibt allerdings, welchen Stellenwert diese Argumente für die politische Praxis der angesprochenen Gruppen haben. Sind sie tatsächlich der Ausgangspunkt für ihre Vorschläge und Versuche, oder dienen sie nur als theoretische Legitimation für eine bestimmte Art von Politik, bei der die eigene Gruppe und politische Organisierung im Mittelpunkt steht? Im Unterschied dazu messen wir revolutionäre Theorie daran, inwieweit sie den Schein der Entfremdung und Verdinglichung der Verhältnisse durchbricht und damit die Klasse als das potentielle Subjekt ihrer eigenen Geschichte freilegt.
FelS kann durchaus ein bißchen Analyse hinlegen (die sich an der Trendtheorie von Hirsch orientiert). Dies dient aber nur dazu, die eigene Organisierung als einzige Möglichkeit zu präsentieren, das Rad noch herumreißen zu können. Ähnlich sieht der Blaue Montag in dem Appell an einen Teil der Klasse, stellvertretend für einen anderen zu handeln, die einzige Möglichkeit zur Aufhebung einer Spaltung, die aus sich heraus stabil und unüberwindbar bleibt. Eine Theorie, die es nicht schafft, die Menschen aus ihrer Rolle als passive Opfer der Geschichte, der Globalisierung, des Kapitals oder anderer mystischer Mächte herauszuheben, paßt daher zu politischen und organisatorischen Konzepten, die den Verlauf der Geschichte von ihrem eigenen Eingreifen und der Einflußnahme auf den Staat abhängig machen.
In der Auseinandersetzung mit den beiden Texten ist uns klar geworden, wie wichtig die Kritik des gegenwärtig weit verbreiteten Reformismus ist - und daß wir dafür unsere Begrifflichkeit schärfen und eine ganze Reihe von Untersuchungen selber durchführen müssen - zum Beispiel über die »Globalisierung«. Ebensowichtig ist es, den Begriff der »Klasse« in neuer Weise zu fassen. Holloway und Bonefeld haben mit ihren Texten wichtige Anstöße dazu geleistet, die aber an entscheidenden Punkten zu kurz greifen oder in eine idealistische Überhöhung der »Subjektivität« umschlagen. (Vgl. unseren Offenen Brief an John Holloway in Zirkular Nr. 39.) In den beiden folgenden Kritikpapieren zu FelS und Blauem Montag können wir daher keine fertigen Antworten auf alle auftauchenden Fragen anbieten. Aber wir wollen vor dem leichtfertigen Gebrauch der gängigen Bilder und modischen Theorien warnen, um Ansatzpunkte für revolutionäre Theorie freizulegen.