Brief an alle Freunde der Zapatisten oder
»Gefährliche Abkürzungen«
von Richard Greeman [1]
Liebe Freunde:
Ich bin eben vom Zweiten Interkontinentalen Kongreß gegen Neoliberalismus und für die Menschlichkeit, der in Spanien stattfand und von der zapatistischen Bewegung ins Leben gerufen wurde, zurückgekehrt [2]. Der zweite Kongreß (1997) fand an verschiedenen Orten Spaniens statt, als ein Folgetreffen nach dem Ersten Interkontinentalen Kongreß letztes Jahr in Chiapas, Mexico, der auf Einladung der Zapatisten stattgefunden hatte. Es ist ganz passend, daß die Organisationsbemühungen um die erste wirklich internationale Antwort auf die brutale Offensive des globalen Kapitals gegen die Arbeits- und Lebensbedingungen der Armen und Unterdrückten der Welt unter dem Zeichen der Zapatistas stehen.
Die Besetzung einiger Städte im entfernten Chiapas am 1. Januar 1994 durch die Zapatisten - dem Tag, an dem das gegen die Arbeiter und die Umwelt gerichtete Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) in Kraft trat - kann nur mit dem »Schuß, den die ganze Welt hörte« vom 18. April 1776 verglichen werden. Der Widerstand einiger obskurer Farmer aus Lexington und Concord vor gut zweihundert Jahren enthüllte die Schwäche des damals herrschenden weltweiten monarchischen Systems der Tyrannei und besiegelte dessen Schicksal. Ebenso setzten die Aktionen der Bauern in Chiapas einen Prozeß in Bewegung, der bereits das weltweite Finanzsystem erschütterte und den Untergang des Systems der Einparteien-Staatstyrannei in Mexico besiegelte.
Die Zapatisten fordern von allen Rebellen und Revolutionären der Welt Aufmerksamkeit, das ist kühn und bescheiden zugleich. Kühn in ihrem unausgesprochenen Ruf an die gesamte »Menschheit«, ihrem Beispiel zu folgen und Widerstand zu leisten gegen das, was ihr Wortführer »Neo-Liberalismus« nennt. Bescheiden insofern, daß sie alle und jeden aufrufen, nach Lösungen zu suchen. O-Ton Subcomandante Marcos: »Unsere historische Rolle ist vielleicht darauf beschränkt, Schwächen hervorzuheben und eine neue Art von Diskussion und Partizipation zu eröffnen.« [3]
Obwohl das diesjährige Treffen in Spanien etwas unorganisiert war, war ich erfreut über die Atmosphäre der Offenheit, das Fehlen von Sektierertum und die Sensibilität gegenüber kulturellen Unterschieden, die das Treffen prägten. Als ein alternder Aktivist der 1950er Generation fand ich es besonders erfrischend, an dieser großartigen Bemühung teilzunehmen, eine Politik des Widerstands in einer Atmosphäre von Zusammengehörigkeit, gegenseitigem Respekt und Menschlichkeit »neuzuerfinden«. Erfrischend, weil ich jede Menge vielversprechende Bewegungen erlebt habe, die zerstört wurden durch autoritäre Machtkämpfe zwischen ideologischen Avantgardisten. Diese drängten ihre festgelegte (und manchmal geheime) Parteilinie anderen Gruppen auf, die darum kämpften, mittels Erfahrungen und Konsens Fortschritte zu machen in Richtung Selbstbestimmung
. [4] Während des Treffens hörte ich viele interessante Ideen sowohl über alternative Ökonomie und Widerstandsformen als auch über aktuelle Versuche des Widerstands gegen Globalisierung und die Tendenz, daß das Leben zunehmend zur Ware gemacht wird
. Jedoch spürte ich auch eine große Verwirrung über die grundlegenden Fragen, wer denn genau die Menschheit sei und ob wir nur »gegen den Neoliberalismus« sein sollten oder gegen den Kapitalismus selbst. Als ich schließlich abfuhr, war ich besorgt darüber, daß die Benutzung des Begriffs »Neoliberalismus« als ideologische Abkürzung bei der Beschreibung des Systems, gegen das wir uns stellen, sich als ungenau, irreführend und möglicherweise gefährlich herausstellen könnte. Wenn ich so darüber nachdenke, ist vielleicht der beste Beitrag, den ich zu der von den Zapatisten eingeleiteten »neuen Art von Diskussion« leisten kann, wenn ich versuche, die Spaltung zwischen den Generationen zu überwinden und meine Befürchtungen zu erklären.
Erstens finde ich die Benutzung des Begriffs »Neoliberalismus« statt »Kapitalismus« ungenau. Genauer gesagt bezieht sich der Begriff »Neoliberalismus« entweder auf eine ökonomische Theorie oder auf eine Politik, die jene Theorie zur Grundlage hat. Zum Beispiel werden die Theorie des freien Marktes der Chicagoer Schule und die Privatisierungspolitik von Margaret Thatcher und ihren ausländischen Schülern beide korrekt als »neo-liberal« bezeichnet. Das Wort »Kapitalismus« hingegen bezeichnet ein komplettes ökonomisches und politisches System.
Das kapitalistische System der Lohnarbeit, Warenproduktion, Ausbeutung und Entfremdung ist mindestens fünfhundert Jahre alt und basiert von Anfang an auf der globalen Ausbeutung (1492!). Dieses kapitalistische System hat sich zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten verschiedene Theorien, Strategien und politische Formen zu eigen gemacht. Diese reichen von Merkantilismus, Freihandelspolitik, Protektionismus, Monopol-Imperialismus, Wohlfahrts-Kapitalismus bis zum Staatskapitalismus (mit diversen Formen, wie Japans Feudal-Kapitalismus, dem stalinistischen »Kommunismus«, dem Nazi-Faschismus), und jetzt dem Neoliberalismus - alles ohne Veränderung des kapitalistischen Wesens: der Selbst-Expansion des Kapitals durch die Aneignung von unbezahlter Arbeitszeit.
Zweitens finde ich die Benutzung des Begriffs »Neo-Liberalismus« an Stelle des Begriffs »Kapitalismus« irreführend. Weil er nahelegt, daß wir versuchen sollten, die herrschenden Mächte dazu zu zwingen, eine andere Theorie (z.B. Neo-Keynesianismus) oder eine andere Wirtschaftspolitik (z.B. sozialstaatlichen Kapitalismus) zu übernehmen, in der Hoffnung, daß unter einer solchen Politik der Unterdrückung der Menschlichheit und der Zerstörung der Natur Einhalt geboten oder sie zumindest deutlich eingeschränkt wird. Wenn dieser Versuch erfolgreich wäre, wäre es sicher eine saubere Abkürzung. Sie würde uns von der Notwendigkeit befreien, über die fürchterliche Aussicht nachdenken zu müssen, daß wir den Zusammenbruch des kapitalistischen Weltsystems und seine Ausmerzung durch die Kräfte einer neuen Menschlichkeit, mit all den Umwälzungen und Leiden, die diese Aussicht mit sich bringt, miterleben sollen.
Aber ich habe die Befürchtung, daß diese Hoffnung eine Illusion ist. Sie führt auch dazu, die Gedanken der Menschen darauf zu konzentrieren, sich den aktuellsten Erscheinungen des Kapitalismus entgegenzustellen (Verschlankung, Konzernfusionen, Umstrukturierung, Dogmatismus des freien Marktes, Globalisierung) [5], während vernachlässigt wird, seine wesentliche Natur als das System der Lohnarbeit und des Warenaustauschs anzugreifen, wo der Profit dadurch entsteht, daß das Kapital unbezahlte Arbeit stiehlt.
Außerdem verführt das »Gegen-den-Neoliberalismus-sein«, insofern »Neoliberalismus« gleichbedeutend ist mit »Freihandel« und »Globalisierung«, fälschlicherweise zu der Annahme, daß die Menschheit unter einer Art von nationalem Kapitalismus besser dran wäre. Eine solche Auffassung ist eine offene Einladung an örtliche Aktivisten in jedem Land, sich mit protektionistischen Elementen in den »patriotischen« besitzenden Klassen zusammenzutun, die ebenfalls gegen den »Freihandel« und die Durchdringung durch »das internationale Kapital« sind. Auf diese Weise müssen wir, da sie schließlich auch »gegen den Neoliberalismus« sind, die Ausbeuter am Ort, seien sie Grundbesitzer, Fabrikanten oder Manager von Staatsunternehmen, auf die Seite der »Menschlichheit« rechnen.
Abgesehen davon, daß sie den fundamentalen Konflikt zwischen Reichen und Armen in jedem Land ignoriert, führt diese protektionistische, »patriotische Allianz«-Version des »Gegen-den-Neoliberalismus-seins« direkt in den Krieg. Da jede patriotische nationale kapitalistische Ökonomie mit jeder anderen konkurriert, werden die Reichen unvermeidlich die Armen in ein brudermörderisches Schlachten gegen die »imperialistischen Ziele« einer anderen kapitalistischen Gruppe mobilisieren. Zum Beispiel benutzten Hitlers »Nationalsozialisten« diese Art Propaganda, um das deutsche Volk gegen den »Würgegriff« des internationalen jüdischen Kapitalismus und das britische Empire zu wenden, während die japanischen Militaristen auf die nationale Einheit gegen das Eindringen des weißen europäischen Kapitals drängten.
Solche Illusionen sind gefährlich. Geld kennt weder Rasse, Hautfarbe noch Nationalität. Der Kapitalismus war von Anfang an global entlang der internationalen Handelsrouten des späten Mittelalters, und die Börse war noch nie für ihren Patriotismus bekannt. Noch kann der Kapitalismus »reformiert« werden. Wenn man darum kämpft, daß der Kapitalismus sein Wesen ändert, dann ist das etwa so realistisch wie der Versuch, einen Haifisch zum Vegetarismus zu bekehren - und etwa genauso ungefährlich. Der Kapitalismus ist von seinem Wesen her nicht eher in der Lage, die unbarmherzige Ausbeutung von Menschen und Umwelt aufzugeben, als der Hai Blut und Fleisch aufgeben kann. Wie der vegetarische Hai verhungern würde, so würde das kapitalistische Unternehmen oder die Nation, die darin scheiterte, ihren Arbeitern das absolute Minimum zu zahlen und das Maximum an Schufterei zu entziehen, durch die Konkurrenz unbarmherzigerer »Haie« auf dem Weltmarkt eliminiert werden.
Mir ist bewußt, wie furchteinflößend es ist, die Tatsache zu akzeptieren, daß der einzige Ausweg für die Menschheit darin besteht, das kapitalistische System komplett auszumerzen. Die Abkürzung, »gegen den Neoliberalismus« zu sein, fühlt sich viel einfacher, sicherer an und scheint mehr im Trend zu liegen. Aber ist es fair, Leute aufzurufen, sich uns anzuschließen und in das Meer des gesellschaftlichen Kampfs einzutauchen, ohne die Warnung auszuhängen: »Gefahr! Gewässer voller Haie!«?
Genau diese Warnung gab die sozialreformerische Arbenz-Regierung 1954 nicht an die Menschen in Guatemala aus. Arbenz entwaffnete sie, die CIA marschierte ein, und das Ergebnis waren Jahrzehnte rechten Terrors. Allendes Leute nahmen 1970 bis 1973 in Chile dieselbe Abkürzung, mit denselben katastrophalen Ergebnissen. Wann wird man das je verstehen?
Wenn es den Anschein hat, ich übertriebe die Bedeutung dieser Frage, dann kommt das daher, daß ich schon lange genug lebe und Zeuge des tragischen Schicksals zweier Generationen von radikalen AktivistInnen wurde. Deren Kämpfe scheiterten auf katastrophale Weise, weil sie vor der Hürde Antikapitalismus scheuten und es angenehmer und modischer fanden, ideologische Abkürzungen zu nehmen und sich selbst als »gegen« etwas Unmittelbareres und Greifbares zu definieren. Ich beziehe mich auf die Antifaschisten aus der Generation meiner Eltern und die Antiimperialisten aus meiner eigenen.
Die Antifaschisten schafften es 1936 bis 1939 nicht, den Faschismus in Spanien zu stoppen (noch sonstwo in Europa). Sie weigerten sich, dem Faschismus als einer extremen Form des Kapitalismus in der Krise entgegenzutreten. Statt dessen nahmen sie eine Abkürzung, die Volksfront gegen den Faschismus. Diese pro-kapitalistische Allianz stalinistisch-kommunistischer, sozialdemokratischer und liberaldemokratischer Parteien, Gewerkschaften und Kulturorganisationen war breit, mächtig und eindrucksvoll. Aber nachdem all die wundervollen Folk Songs gesungen waren und die Märsche marschiert, schlossen die Kommunisten einen Pakt mit Hitler (nachdem sie die antikapitalistische Revolution der spanischen Arbeiter und Bauern niedergeschlagen hatten) [6], während die europäischen Sozialisten und Liberaldemokraten (Léon Blum u.a.) die bürgerliche spanische Republik ausverkauften und dann in München gegenüber Hitler klein beigaben. Es kostete 20 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg, um Hitler 1945 zu stoppen, und jetzt ist der Faschismus wieder auf dem Vormarsch. Was für eine Abkürzung!
Ganz ähnlich scheiterten die Antiimperialisten der sechziger Jahre daran, den Imperialismus zu stoppen. Statt ihm als einem Aspekt des kapitalistischen Systems entgegenzutreten, nahmen sie jede denkbare Abkürzung von der Unterstützung kapitalistischer Friedenskandidaten wie US-Senator »Clean for Gene« McCarthy bis zum Bejubeln staatskapitalistischer Diktatoren wie Ho Chi Minh, Enver Hoxa, Mao Tsetung, Kim Il Sung, Oberst Gaddafi (alle echte Antiimperialisten). In jenen hitzigen Tagen der Kampagnen, Märsche und roten Brigaden hatte niemand Zeit, der Minderheit unter uns zuzuhören, die verstanden hatte, daß »Imperialismus« keine Politik ist sondern die Essenz des Kapitalismus (seit 1492!), die sah, daß der sogenannte »Kommunismus« nur ein anderer Name für einen totalitären, bürokratischen Staatskapitalismus war und daß die »nationale Befreiung« bedeuten könnte, zu kämpfen und zu sterben, damit ein fremder Unterdrücker durch einen im Lande geborenen ersetzt wird.
Dreißig Jahre später sind die »langen Märsche« meiner antiimperialistischen Generation am Ziel angekommen; die im Untergrund Lebenden sind wieder aufgetaucht und dürfen mitansehen, wie die Führer des »befreiten«, »kommunistischen«, »antiimperialistischen« Vietnam, China und Osteuropas schamlos ausländische Kapitalisten in ihr Land einladen, um ihre Arbeiter unter Schwitzbudenbedingungen auszubeuten, die der »revolutionäre« Ein-Parteien-Staat möglich macht. Diese neue Allianz gegen die Arbeiter wurde durch den absolut ernst gemeinten Kommentar des Leitartiklers der New York Times zur Annexion Hong Kongs auf den Punkt gebracht: »Lang lebe das Vermächtnis Maos und Merrill Lynch!« [7]
Sicher, »Antiimperialismus« war einfacher zu erklären als »Antikapitalismus«. Was für eine Abkürzung!
Die Frage ist heute, ob unser Gebrauch des »Anti-Neoliberalismus« als Ersatz für »Antikapitalismus« zu einer weiteren gefährlichen Abkürzung führen kann.
Ich verstehe, wie der Ausdruck von unserer Bewegung übernommen wurde, als Übersetzung aus einem lateinamerikanischen Kontext, in dem eine reichhaltige Kultur mitschwingt. Ich sympathisiere auch mit dem Bestreben, nicht ideologisch erscheinen zu wollen. Doch ich frage und sorge mich auch, warum wir Radikalen uns dagegen sträuben, den treffenden Begriff, »Kapitalismus«, zu benutzen, wenn sogar konservative Bücher und Leitartikler keine Scheu haben, das »K-Wort« zu benutzen, um das System zu beschreiben, unter dem wir leben. Tatsächlich preist sich das populärste Wirtschaftsmagazin der USA selbst an als »Forbes: Kapitalistisches Handwerkszeug«.
Die einzige Erklärung, die ich für die nahezu phobische Vermeidung des »K-Worts« gehört habe, ist die, daß ein gewisser Karl Marx es benutzte, und wir wollen nicht als »Marxisten« bezeichnet werden (das wollte Marx auch nicht!!!). [8] Sicher, für viele Menschen heute ist der Marxismus starr, besudelt und, was das schlimmste ist, veraltet. Also erfinden wir das Rad des »Kapitalismus« neu und benennen es unbeholfen um in »jenes neoliberale runde Ding, das rollt«. Wenn wir dieser Logik weiter folgen, sollten wir es auch vermeiden, Begriffe zu benutzen wie »Evolution«, »das Unbewußte« und »Schwerkraft«. Schließlich sind Darwin, Freud und Newton ebenfalls starr, besudelt und veraltet. Und wir wollen die Anhänger der Schöpfungslehre, der Willensfreiheit und der Theorie der Erde als Scheibe nicht ausschließen oder beleidigen und schon gar nicht als »elitär« erscheinen.
Scherz beiseite, die schlimmste Art elitär zu sein besteht für mich darin, von oben herab mit Leuten zu reden und unbequeme Wahrheiten mit einem Zuckerguß zu versehen. Ich erinnere mich noch an die kommunistenfreundlichen französischen Antiimperialisten der fünfziger Jahre, die die Wahrheit über das russische Gulag vor den französischen Arbeitern verbargen, »um nicht Billancourt in die Verzweiflung zu treiben« [9]. Wenn die linken Intellektuellen in den fünfziger Jahren die Ehrenhaftigkeit besessen hätten, die Wahrheit über den Stalinismus zu sagen, dann säßen vielleicht heute nicht die neoliberalen Pariser »Neuen Philosophen« im Sattel, und die Arbeiter in Billancourt würden nicht für Le Pens Nationale Front stimmen - wie das viele aus Verzweiflung tun.
Die Dinge bei ihrem wirklichen Namen nennen. Das ist meiner Meinung nach der Anfang von Weisheit und Integrität, ob du mit einem Kind über Tod und Sexualität redest oder mit Menschen, die im Kampf stehen, über den Kapitalismus.
Auf jeden Fall gibt es sowas wie »nicht-ideologisches« Vokabular nicht. Jeder Ausdruck offenbart den ihm zugrunde liegenden ideologischen Kontext. Die überwältigende Medienideologie der heutigen Zeit ist der Anti-Marxismus, und dieser vorherrschende Kontext fordert, daß wir solch »abgedroschene« und veraltete Wörter wie »Kapitalismus« vermeiden. Und so reden wir von Postmodernismus, Postindustrialismus, Postfordismus, Globalisierung, Neoliberalismus - irgendwas, um den Makel jenes armen, ungelesenen, veralteten und zwanzig mal diskreditierten Philosophen zu vermeiden, der als erster, und höchst akkurat, das kapitalistische System analysierte: Marx.
Merkwürdigerweise sind die besten, zwingendsten Beobachtungen über die gegenwärtige Situation, die ich in unseren von den Zapatisten inspirierten Bewegungen gehört habe, nicht mehr als 1997er Updates dessen, was Marx 1867 in seinem Buch über das Kapital schrieb. Dort analysierte Marx die grundlegenden Gesetze des Kapitalismus wie die Konzentration des Reichtums, die Verbreitung der Armut und das Andauern der Massenarbeitslosigkeit (das nannte er »das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation«).
Darüberhinaus war Marx an der politischen Front in der Lage zu sehen, daß die Essenz des Nationalstaats (ob demokratisch oder monarchisch) in der Gewalt lag, den »besonderen Abteilungen der bewaffneten Männer, Gefängnisse usw.«, die für die Zwecke der Repression organisiert wurden, um den Status quo zugunsten der Reichen aufrechtzuerhalten. Er beobachtete, daß kapitalistische Regierungen wie eine Art »Zentralkomitee« der Bourgeoisie handeln, das im Interesse des Kapitals herrscht und seine inneren Streitigkeiten schlichtet. Heute sehen wir, wie sich Armeen, Polizeikräfte, Gefängnisse und andere repressive Apparate in jedem Land vervielfältigen. Wir werden uns zunehmend bewußt, daß riesige legale und illegale finanzielle Zuwendungen die »demokratische« Politik überall dominieren, während »Reformen« lediglich die Macht der großen Interessen und ihrer Schmiergeldfonds über gewählte Beamte stärken.
Schließlich zeigte Marxens originelle Analyse der »sogenannten ursprünglichen Akkumulation des Kapitals« wie, beginnend mit 1492, das Kapital nicht durch die harte Arbeit und Sparsamkeit der Kapitalisten geschaffen wurde, sondern durch den Gebrauch bewaffneter Streitkräfte, um die eingeborenen Völker der vorkapitalistischen Länder zu »berauben, versklaven und in den Minen zu begraben« - ein globaler Prozeß, der sich heute bis zu einem Punkt beschleunigt, wo nicht nur eingeborene Völker, sondern die Umwelt selbst bedroht ist.
Aus diesen Analysen folgerte Marx, daß das globale Kapital seine Expansion niemals aufhören könne, bis es die gesamte Erde übernommen und jeden Menschen in einen abhängigen Konsumenten von Waren verwandelt hätte, ob als Lohnsklave oder Angehörige/r der, wie er es nannte, »industriellen Reservearmee«. Des weiteren begann Marx gegen Ende seines Lebens zu sehen, daß die Bindung vorkapitalistischer Völker an ihre kommunale Kultur und Ökonomie (z.B. der Mir der russischen Bauern) sowohl Widerstand gegenüber der Degradierung durch den Kapitalismus, als auch die Keimzelle einer zukünftigen Gesellschaft repräsentierte. Kurz vor seinem Tod sah Marx den Aufstieg riesiger mächtiger Konzerne und erkannte, daß sich der Kapitalismus selbst in sein eigenes Gegenteil verwandeln könnte, vom Wettbewerb zum Monopol, von der nationalen Rivalität zu internationalen Konzernen, tatsächlich zu einer einzigen kapitalistischen Ökonomie, ohne seine Essenz zu verändern: den unstillbaren Hunger nach unbegrenztem Profit, beruhend auf der Ausbeutung der Arbeit und der Erde.
Nichtsdestotrotz bleibt der Name Marx 1997 verflucht, während seine Analysen der Erwerbslosigkeit, der Verelendung, der Konzentration und Akkumulation, der Globalisierung des Kapitals dem Beobachter immer offensichtlicher werden (und in der Praxis der Kapitalisten und Börsenanalytiker allgemein akzeptiert werden!). Dieser Bannfluch ist so stark, daß sogar Subcomandante Marcos in seinem kürzlich in Le Monde Diplomatique (August 1997) abgedruckten Manifest »Der Vierte Weltkrieg hat schon begonnen« genau sechs dieser Punkte von Marx entwickelt, ohne einmal Marx oder seine Theorien zu erwähnen. Mit dem Ergebnis, daß wir, wenn wir das »siebte Teilchen« von Marcos' Puzzle erhalten, nicht mehr sicher sind, ob der »Vierte Weltkrieg» der Krieg zwischen den Reichen und den Armen ist oder der Krieg zwischen dem globalisierenden Neoliberalismus und der »nationalen Souveränität«.
Sicher sind Konzepte wie das des Neoliberalismus erleuchtend und nützlich beim Beschreiben von Aspekten unseres modernen Zustands. Aber wir dürfen nicht zulassen, daß sie zum Ersatz werden, zu ideologischen Abkürzungen wie Antifaschismus und Antiimperialismus. Wenn wir uns davor scheuen, uns dem zentralen Problem des Kapitalismus zu stellen, nämlich als System der Ausbeutung, wenn wir dabei versagen, den Feind bei seinem Namen zu nennen, dann, so fürchte ich, werden unsere Bewegungen in der nächsten Krise feststellen, daß sie ideologisch entwaffnet sind. Zum Beispiel werden nach dem nächsten Börsenkrach opportunistische kapitalistische Politiker anfangen, gegen den »Neoliberalismus« aufzutreten, um Stimmen zu erhalten, und Wall Street mag zulassen, daß sie gewählt werden, damit sie die Massen ruhig halten und unsere Bewegungen kooptieren können. Was wird es dann bedeuten, »gegen den Neoliberalismus« zu sein?
Tatsächlich sind schon heute die einzig konsistenten Gegner der Globalisierung in Frankreich und den USA die halbfaschistischen Nationalisten Le Pen und Pat Buchanan. Sie stehen sicherlich dafür, die »nationale Souveränität« gegen den Neoliberalismus zu verteidigen. Es ist wohl bekannt, daß »Politik seltsame Bettgenossen macht«. Wie kann unsere Bewegung es vermeiden, mit diesen Leuten im selben Bett zu landen (zum Beispiel beim Kampf gegen Fabrikschließungen), wenn wir zögern, klar aufzutreten und offen gegen den Kapitalismus Stellung zu beziehen? Ich war in meinem Leben zweimal Zeuge sogar noch seltsamerer Allianzen, und darum erfinde ich hier nicht einfach Paradoxa, um clever zu dazustehen.
Hier ein weiteres Beispiel: 1949 wurde Mao Tse-Tungs »kommunistisches« chinesisches Regime auf der Grundlage einer weiteren Abkürzung errichtet: Maos Theorie des »Blocks der vier Klassen«, der die Arbeiter und Bauern hinter den »patriotischen Landbesitzern« und der »nationalen Bourgeoisie« vereinte im Kampf für die nationale Souveränität gegen die ausländischen Kapitalisten. Die Arbeiter erhielten unter Mao nie ihre Rechte, und das heutige »kommunistische« China lädt den ausländischen Kapitalisten ein sie auszubeuten, während die Partei die »nationale Souveränität« mit ihren Ansprüchen auf Hong Kong und Taiwan sichert.
Schlußfolgerung:
Was ich an unserer von den Zapatisten inspirierten Bewegung liebe, ist das allgemeine Verständnis, daß es das böse, geldbestimmte System des Warenaustauschs ist (einschließlich der Lohnarbeit selbst), das abgeschafft werden muß, wenn wir wie menschliche Wesen leben wollen, wie es die Indianer von Chiapas mit schrecklich wenig Aussicht auf Erfolg zu tun versuchen. Dieser Humanismus hebt sich von früheren Bewegungen (sozialistischen, kommunistischen usw.) ab, die oft innerhalb des kapitalistischen Spiels stecken blieben, indem sie einfach mehr für die Arbeiter forderten oder indem sie annahmen, daß wenn der Staat nur den Markt ersetze, der Kapitalismus anders wäre. Was das angeht, so ist unsere zapatistische Analyse - auf der Grundlage der humanistischen Philosophie vorkapitalistischer indigener Menschen, deren Revolte eine Verweigerung der Lohnarbeits-Warengesellschaft ist - tausendmal näher an den ursprünglichen Ideen von Marx als die Analyse der meisten selbsternannten »Marxisten« [10]. Und all den Anhängern des Wohlfahrtsstaats, den Sozialdemokraten, Verstaatlichern und »Kommunisten« mit ihren bürokratischen Allheilmitteln, sind wir Lichtjahre voraus.
Die Leute von Chiapas haben verstanden, wie Marx selbst das tat, daß das Kapital kein Ding ist, sondern ein Verhältnis zwischen Menschen - ein Machtverhältnis, das es der einen Person ermöglicht, erst anderer Leute Land zu stehlen und dann ihre Arbeit zu stehlen und diesen Diebstahl unter dem »freien und gerechten Austausch« von Geld für Arbeitskraft zu verstecken. Wie der ursprüngliche Marx verstehen sie, daß dieses perverse, durch Geld vermittelte Verhältnis ausgerottet und durch neue menschliche Verhältnisse ersetzt werden muß, die auf Gleichheit, Kooperation und Gemeinschaft beruhen.
Aber kann die Menschheit dieses Ziel erreichen, ohne das Tier beim Namen zu nennen, dem wir uns entgegenstellen und das wir überwältigen müssen - Kapitalismus?
Ich weiß die Antwort nicht, aber ich denke, diese Frage ist es wert, daß wir uns damit beschäftigen. Auf jeden Fall bin ich persönlich es leid, zusehen zu müssen, wie Bewegungen versuchen, Haie zu Vegetariern zu machen, und ihre Beine abgebissen bekommen. Ich habe es satt, so angestrengt zu versuchen, »breit«, »unideologisch« und »relevant« zu erscheinen, daß wir am Ende Abkürzungen nehmen, die sich als Straßen zur Hölle erweisen. George Bernard Shaw hatte recht: »Die Straße zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten.«
Mit solidarischen Grüßen
Richard Greeman
Fußnoten:
[1] Richard Greeman ist am ehesten bekannt als Übersetzer der Romane von Victor Serge. Seit den 1950er Jahren war er aktiv in der US-amerikanischen und französischen Bürgerrechts-, Arbeiter- und Antikriegsbewegung, in der Lateinamerikasolidarität sowie in internationalen revolutionären Bewegungen wie Socialisme ou Barbarie und News & Letters tätig. Sein jüngstes Projekt ist »Die unsichtbare Internationale ... Sie ist überall«, das demnächst im Internet erscheint. Du kannst ihm schreiben unter: 16, rue de la Teinturerie, F-34000 Montpellier, Frankreich oder per e-mail: richard.greeman@hol.fr, falls er seinen Rechner dazu kriegt, mit ihm zu kooperieren.
[2] Der Autor schrieb den Text auf der Rückreise und mußte Marx daher aus dem Gedächtnis zitieren. Die Übersetzer haben nicht alle Stellen gefunden. Um die Veröffentlichung nicht zu verzögern, wurde auf weitere Überprüfung verzichtet.
[3] Subcomandante Marcos zitiert in Depuis les montagnes du sud-est mexicain (Paris, Ed. de l'insomniaque, 1996), S. 27. Übersetzung R. Greeman.
[4] Zum Beispiel die zerstörerische Rolle der verschiedenen Maoisten, Trotzkisten, Stalinisten, Weather People und Revolutionary-Movement-Fraktionen in den USA, die den SDS (Students for a Democratic Society) stürmten und versenkten und sich um die Kontrolle der Bewegungen gegen den Vietnamkrieg in den 60er Jahren zankten.
[5] Keine dieser neoliberalen Erscheinungen ist dermaßen neu. Zum Beispiel Globalisierung: 1996 produzierte Asien nur 22% der Weltwarenproduktion, im Gegensatz zu 29% im Jahr 1900. Ganz ähnlich waren Lohnkürzungen, Aussperrungen und Monopole um 1900 so verbreitet wie heutzutage.
[6] Ken Loachs neuer Film "Land und Freiheit" erzählt diese Geschichte sehr genau, desgleichen damals Schriftsteller wie George Orwell und Victor Serge (aber wer hörte darauf?).
[7] N.Y.Times, 3.6.1997. Merrill Lynch ist der größte Händler an der Wall Street.
[8] Marx sprach sich in seinen Briefen vehement gegen das Etikett »Marxist« aus und gegen das sektiererische System, das daraus folgte. Auch wenn Marx offiziell der ersten Internationalen Arbeiter-Assoziation als ihr Generalsekretär vorsaß, blieb die Internationale in Wirklichkeit doch eine Organisation mit vielfältigen Strömungen, sonderbarerweise ähnlich dem, was wir 1997 wiedereinzuführen versuchen. Nur eine Minderheit in Marxens Internationaler stimmte mit seinen Ideen überein, und die Mutualisten (Anhänger Proudhons, der gegen Streiks, Frauenrechte und Juden war) stimmten oft Marxens Vorschläge nieder.
[9] »ne pas désespérer Billancourt«; Im Pariser Vorort Billancourt steht die alte Renault-Fabrik.
[10] In einer kürzlich erschienenen Flugschrift richten drei verschiedene Autoren äußerst scharfe kritische Aufmerksamkeit auf das Problem der Manipulation des Images der Indianer-Rebellion in Chiapas: Sylvie Deneuve, Marc Geoffroy, Charles Reeve: Au-delà des passe-montagnes du sud-est mexicain. Deutsch in: Wildcat-Zirkular 22, S. 21 ff.