Einwanderer und das »Bevölkerungsgesetz« im modernen Kapitalismus
Charles Reeve [1]
Widersprechen sich die Globalisierung der Ökonomie und die Verschärfung der Beschränkungen, die die Staaten den Migrationsbewegungen auferlegen? Dazu befragt protestierte ein sozialistischer Minister gegen die liberale Behandlung der Einwanderungskontrolle und fügte hinzu: »Wir müßten nicht nur die Migration kontrollieren (...) sondern vor allem Kapitalbewegungen und unlauteren Wettbewerb.« [2] In der Realität und durch den Zwang der historischen Umstände haben sich die Prioritäten also verkehrt: Der demokratische Staat konzentriert seine Anstrengungen im wesentlichen auf die Kontrolle der Einwanderung. Welche kapitalistischen Bedürfnisse rechtfertigen aber eine immer repressivere Einwanderungspolitik? Geht es darum, Wanderungsbewegungen insgesamt zu verhindern oder eher um den Versuch, eine Arbeitermobilität neuen Typs zu schaffen?
1.
Mehrere kürzlich veröffentlichte wissenschaftliche Arbeiten stellen die klassische Erklärung der Migrationsphänomene in Frage. In »The Mobility of Labor and Capital« [3] bietet die nordamerikanische Universitätsprofessorin Saskia Sassen eine originelle Analyse neuer Migrationsformen, indem sie die Bewegung der Arbeitskraft mit der des Kapitals in Beziehung setzt. Ihre Schlußfolgerungen werfen einige anerkannte Ideen über den Haufen.
Sassen erinnert zunächst daran, daß die Mobilität des Kapitals immer die Bedingungen für die Mobilität der Arbeitskraft hervorgebracht habe und die aktuelle Einwanderungsproblematik nur »die neue Version einer alten Fragestellung« sei. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt die Wirtschaftstheorie, die Wirkung des internationalen Handels auf die internationalen Kapital- und Migrationsbewegungen zu berücksichtigen. Bei dieser Gelegenheit wundert sich Sassen darüber, daß die meisten der aktuellen Studien zur Migration es vermeiden, den Zusammenhang zwischen der Mobilität von Kapital und Arbeitskraft zu behandeln: Und das zu einer Zeit, wo die Zirkulation des Kapitals und die Internationalisierung von Produktion und Arbeitsmarkt wesentliche Merkmale des modernen Kapitalismus sind. Heute gibt es »einen internationalen Raum, innerhalb dessen die Zirkulation von ArbeiterInnen genau so als einer der Ströme wie Kapital, Waren, Dienstleistungen und Information betrachtet werden kann.« [4] Sassen betont diesen Gesichtspunkt: (Ein-) Wanderung könne nicht länger als eine streng nationale Angelegenheit angesehen werden, sondern im Gegenteil als Ergebnis der Globalisierung von Tauschbeziehungen. Nur so werde man verstehen können, warum Bevölkerung (Dichte und Wachstum) und Armut nicht mehr zur Erklärung der neuen Wanderungstendenzen ausreichen. Daraus ergibt sich eine erste Schlußfolgerung: In der aktuellen Phase des Kapitalismus bestimmt der Rang einer Gesellschaft in der Internationalisierung der Produktion ihren Rang auf dem Weltarbeitsmarkt. Man hat Wanderungsbewegungen immer aus der Rückständigkeit der jeweiligen Länder erklärt. Sollte das jemals richtig gewesen sein, so ist es heute falsch. Die aktuelle Phase des Kapitalismus läßt einen direkten Zusammenhang zwischen Internationalisierung der Produktion und internationalen Wanderungsbewegungen deutlich werden.
In den 70er Jahren beschleunigten umfangreiche Investitionsströme in die armen Länder diese Internationalisierung. Sassen zeigt, daß genau die Länder, in die die US-amerikanische Industrie ihre Produktion auslagerte, zu den Hauptexporteuren von Arbeitskraft in Richtung USA wurden: Mexiko, die Philippinen, Südkorea und Taiwan. Auf diese Weise kommt man zur zweiten Schlußfolgerung: Die Investition fremder Kapitale schafft gleichzeitig Arbeitsplätze und Voraussetzungen für eine neue Auswanderung. Auf der Suche nach immer niedrigeren Produktionskosten haben die multinationalen Konzerne die intensive Landwirtschaft und die Exportindustrien mit hohem Arbeitskräftebedarf in die armen Länder verlagert. Diese Investitionen haben die Strukturen der traditionellen Gesellschaften und ihrer Ökonomien zerstört und damit eine massive Landflucht und vor allem die Proletarisierung junger Frauen ausgelöst. Diese Proletarisierung von Frauen - als neue und spezifische Entwicklung der Internationalisierung der Produktion - ist die Grundlage für die Destabilisierung der armen, patriarchalen Gesellschaften, bewirkt Arbeitslosigkeit bei den Männern und bringt ein Arbeitskräftereservoir hervor, das zur Auswanderung in der Lage ist. [5] Die Internationalisierung der Produktion hatte auch den industriellen Verfall der alten kapitalistischen Zentren zur Folge. [6] Aber Dezentralisierung und internationale Zerstreuung der Produktion gehen mit Kapitalkonzentration und Zentralisierung der Produktionskontrolle einher, betont Sassen. Denn wenn der Umfang der ausländischen Direktinvestitionen in den Volkswirtschaften die wachsende Internationalisierung der Produktion offenbart, so ist sie auch Ausdruck der wachsenden Kapitalkonzentration. Diese offensichtlich widersprüchliche Entwicklung charakterisiert das, was man heutzutage »globale« Ökonomie nennt. Mit ihr entsteht ein hochspezialisierter Dienstleistungssektors, der in einigen Großstädten der alten kapitalistischen Zentren konzentriert ist. Diese »Global Cities« der modernen Phase des Kapitalismus sind zu den Orten geworden, die auf Finanzen, Verwaltung, Information und Kontrolle einer dezentralisierten Produktion spezialisiert sind. Dieser moderne Dienstleistungssektor, der auf hohem technischen Niveau arbeitet, braucht eine neue Art billiger, flexibler und gehorsamer Arbeitskraft. Infolgedessen verändern sich städtische Struktur und Bevölkerung in diesen Riesenzentren. Dazu bemerkt Sassen, daß »die Entstehung eines informellen Sektors in den großen Städten eher das Ergebnis dieses neuen Entwicklungstyps ist als nur ein Produkt der hohen Arbeitslosigkeit oder sogar der starken Zufuhr neuer Einwanderer.« [7] Die Entwicklung von Niedriglohnsektoren ist kein Zeichen von Verfall, sondern ganz im Gegenteil das Erscheinungsbild der neuen kapitalistischen Dynamik. Sassen schlußfolgert: »Dequalifizierte Arbeitsplätze können zu den modernsten Sektoren der (neuen) Ökonomie gehören, und rückständige Sektoren dieser selben Ökonomie können Trägerinnen ihres Wachstums sein.« [8]
Bis zu den 80er Jahren war der US-amerikanische Kapitalismus der weltgrößte Kapitalexporteur. Seitdem hat sich die Situation vollkommen umgedreht, und 1981 sind die USA selbst zum größten Kapitalimporteur geworden. Laut Sassen erklärt sich das daraus, daß »mehrere der hochindustrialisierten Regionen wieder mit den Industriezonen der Dritten Welt auf der Ebene von Direktinvestitionen konkurrenzfähig geworden sind, unabhängig davon, ob die Investitionen aus dem In- oder Ausland kommen.« [9] Wie man gesehen hat, hat die vor sich gehende Globalisierung eine Zentralisierung von Kontrolle und Verwaltung des Kapitals mit sich gebracht. Nachdem sie in einer ersten Periode dezentralisiert wurde, kehrt ein Teil der Industrieproduktion in die entwickelten Länder zurück, und zwar auf Kosten der armen Länder. [10] Nachdem ihre Strukturen durch exportorientierte Produktionszonen zerstört worden sind, laufen sie jetzt Gefahr, erneut vom produktiven Kapital verlassen zu werden. [11] Das zeigt, wie falsch es ist, Globalisierung und Vereinheitlichung der kapitalistischen Entwicklung gleichzusetzen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Die Globalisierung ist die moderne Form der ungleichen Entwicklung. Die aktuelle Entwicklung beweist auch, daß die multinationalen Konzerne, die die Weltwirtschaft beherrschen, an ihre Nationalstaaten und ursprünglichen Märkte gebunden bleiben. [12] Sassen bietet mehrere Erklärungen für diese Rückkehr der Fabrikproduktion in die kapitalistischen Länder an: technische Vorteile, Protektionismus, die Nähe großer Märkte [13] und letztendlich die Kosten der politischen und sozialen Instabilität in den neuen Entwicklungsländern. [14] Dazu kommt in den alten kapitalistischen Zentren die Anwesenheit einer neuen eingewanderten Arbeitskraft, die billig, flexibel und den neuen Ausbeutungsformen sowie der Fabrikproduktion perfekt angepaßt ist. Die aktuelle Periode des Kapitalismus, »Globalisierung« genannt, verstärkt die Tendenz zur Verarmung proletarisierter Schichten sowohl in den Gesellschaften der Dritten Welt als auch in den alten Zentren.
Auf diese Weise wird ein Weltarbeitsmarkt erkennbar, der die Bedingungen für den Aufschwung internationaler Wanderungsbewegungen geschaffen hat. Gleichzeitig hat die Stärkung der inneren Staatsmacht die Kontrolle dieser Wanderungsbewegungen im nationalen Rahmen erlaubt und einen Arbeitskrafttyp mit einem Sonderstatus hervorgebracht. Seit dem 19. Jahrhundert, so Sassen, »ist jede Migrationspolitik eines Nationalstaats an seine Stellung innerhalb der Weltwirtschaft gebunden.« [15] Die institutionellen und rechtlichen Unterschiede, die die Lebensbedingungen der eingewanderten Arbeiter festlegen, haben hauptsächlich das Ziel, die Reproduktionskosten der Arbeitskraft zu senken - indem an ihrer Ausbildung und ihren Sozialkosten gespart oder Arbeitslosigkeit und gegebenenfalls soziale Unzufriedenheit exportiert wird. Der Import von Arbeitskraft geht immer mit kapitalitischer Expansion einher. Deshalb wurde während des Wiederaufbaus im Nachkriegseuropa massiv zur Einwanderung aufgefordert. Heute nutzen die entwickelten Länder diese Arbeitskraft, indem sie aus einem internationalen Arbeitsmarkt schöpfen, der sich immer weiter ausdehnt. Die neue Einwanderung konzentriert sich jetzt auf die städtischen Riesenzentren, wo die Kontrolle der Weltwirtschaft zentralisiert ist und billige, flexible Arbeitskräfte gefordert sind. Überall in den entwickelten Ländern wird die Einwanderungspolitik im Sinne einer Verschärfung diese Sonderstellung überprüft, indem der Aufenthaltsstatus der Einwanderer stärker angreifbar gemacht wird, und zwar so weit, daß er sogar geleugnet wird. [16] Die auf Dauer angelegte Einwanderung entspricht nicht mehr den aktuellen Erfordernissen des Kapitalverwertung. Die Nationalstaaten versuchen also eine Rotationsmigration zu institutionalisieren, bei der Unsicherheit die Normalsituation ist. Daraus folgert Sassen: »Wenn man die aktuelle Situation der internationalen Wanderungsbewegungen mit denen zu Anfang des Jahrhunderts vergleicht, stellt man fest, daß es eine wachsende Tendenz gibt, MigrantInnen als Ware zu behandeln.« [17]
2.
Der Übergang von Binnenwanderungen und Zuwanderung aus den Kolonien zu internationalen Wanderungsbewegungen ist immer mit einer stärkeren Komplexität des kapitalistischen Systems einhergegangen. Der Fall Frankreich ist beispielhaft: Nachdem der französische Kapitalismus auf Binnenwanderungen vom Land und auf Wanderungsbewegungen aus den Kolonien zurückgegriffen hatte, verschlang er im Verlauf seiner Ausweitung in der Nachkriegszeit die Arbeitskraft von armen Bauern und Proletariern aus den südeuropäischen Ländern. In diesem Fall sind die Bewegungen der Arbeitskraft der Kapitalbewegung vorangegangen. Aber sie haben das Zusammenwachsen der europäischen Ökonomien und die Schaffung eines vereinigten Wirtschaftsraums angekündigt. In dieser Entwicklung fielen die schwachen Ökonomien der Dritten Welt immer weiter unter die Kontrolle der großen kapitalistischen Konzerne des »harten Kerns« von Europa. Ihre produktive Infrastruktur wurde beschnitten, und die kleinen lokalen Märkte wurden in den Gemeinsamen Europäischen Markt integriert. Der Massenauswanderung folgte auf diese Weise die Ankunft von Volkswagen und Renault, von Philips und Bouygues [18], der großen Landwirtschaftskonzerne, von Carrefour [19] oder Ikea. Innerhalb Europas sind die Beziehungen zwischen Kapitalbewegungen und Bewegungen von Arbeitskräften gut sichtbar, sobald es sich aber um Einwanderungen aus Asien oder Afrika handelt, werden die Verhältnisse unklarer. Trotzdem ist der andauernde Einwanderungsstrom aus Nord- und Schwarzafrika nach Frankreich nicht unabhängig von der Geschichte des französischen (Neo-) Kolonialismus und der weiterbestehenden Interessen des französischen Kapitalismus in diesen Regionen zu verstehen. Außerdem waren die ökonomischen Nebenwirkungen dieser Einwanderung lebenswichtig für die von Paris eingesetzten lokalen Regimes; daher auch die Bedeutung der zwischenstaatlichen Beziehungen in der französischen Einwanderungspolitik.
Die Erwartungen vieler dieser eingewanderten ArbeiterInnen an die französische Gesellschaft speisen sich aus historischen Verbindungen und kulturellen Bezügen, die durch den Kolonialismus geschaffen wurden. Auf diese Weise wird der Wunsch nach Integration in die französische Gesellschaft zu einem mächtigen Mobilisierungsfaktor. Das konnte man an den Kämpfen der »Sanspapiers« (1996-1997) gut sehen, wo die Forderung nach sozialen Rechten für die Kinder der illegalen EinwandererInnen der Bewegung Zusammenhalt und Entschlossenheit verschaffte. Aber dieser Anspruch wird von der Staatsgewalt auch zur Spaltung eingesetzt. Er schafft es, die Bewegungen von der Ebene der Ausbeutung abzulenken und sie auf humanitäre Ziele und die Verteidigung formeller Rechte zu reduzieren. Die Kollektivität in den Kämpfen wird nach Integrationskriterien gespalten, die sich im wesentlichen auf die Rechte von Familien und Kindern stützen. Das erklärt übrigens auch, warum die politische Klasse in Frankreich ständig zwischen Repression durch Integration und Repression ohne Integration schwankt. Deshalb ist die Familien- und Kinderproblematik das wichtigste bei allen Reglementierungsvorstellungen für die Einwanderung und jeder neuen Maßnahme des Staates, die den Aufenthalt der EinwandererInnen noch unsicherer machen soll. Schließlich ist das auch der Grund, warum in Frankreich jeder Versuch, die EinwandererInnen als bloße Arbeitskräfte zu behandeln, zu einem Riesenkonflikt und zu einem politischen Destabilisierungsfaktor für die gesamte Gesellschaft wird. Die dynamischen Sektoren des Kapitalismus brauchen künftig eine Einwanderung neuen Typs: prekär, flexibel und mit minimalsten Rechten ausgestattet. Der französische Staat muß also eine neue Einwanderungspolitik einführen, die den aktuellen Ausbeutungserfordernissen entspricht. Dazu muß er sich mit den Lasten der Vergangenheit auseinandersetzen und jede Menge Ausflüchte suchen. Einerseits muß er weiterhin die hartnäckigen Eingliederungsforderungen der ImmigrantInnen seiner alten Kolonialstaaten berücksichtigen. Andererseits kann er versuchen, aus dem Einflußverlust des französischen Kapitalismus in Afrika einen Nutzen zu ziehen. Die Einwanderungspolitik des französischen Staates könnte sich schließlich von den Zwängen freimachen, die durch die zwischenstaatlichen Beziehungen aus der Entkolonisierungsperiode entstanden sind.
3.
Im Kapitalismus richtet sich die Wanderungsbewegung der ArbeiterInnen nach den Bedingungen für den Verkauf und Kauf der Ware Arbeitskraft. Genau wie die Kapitalbewegung ist diese Bewegung nur innerhalb der Marktgesetze »frei«. Heutzutage ist die Verunsicherung der Bedingungen der EinwandererInnen die freieste Form, die die Zirkulation der Menschen als Ware annimmt. Dabei ist es wichtig zu sehen, daß in den entwickelten Ländern die Modernisierung der Einwanderungspolitik mit der Reform des Wohlfahrtsstaats einhergeht. Bekanntlich mchen die Sozialausgaben in den großen modernen Staaten nur einen kleinen Teil des Staatshaushalts aus. [20] Die Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme und der Ausschluß weiter Teile der armen Bevölkerung hat vor allem das Ziel, die globalen Arbeitskosten zu verringern und so die Kapitalrentabilität zu verbessern. Ein Angriff auf den Soziallohn hat nur in dem Maße Sinn, wie er eine Senkung der des direkten Lohns nach sich zieht. Die Infragestellung der früheren Arbeitsgesetzgebung, die Auflösung der Garantien der Arbeiterklasse alten Typs und die Prekarisierung der Stellung der EinwandererInnen sind weitere Maßnahmen, um eine neue Arbeitskräftereserve zu günstigen Preisen zu schaffen. Bei der Senkung der Sozialleistungen geht es um dasselbe. Das ist der Zweck der Reform des amerikanischen »Welfare«, der heute ein Proletariat auf den Arbeitsmarkt wirft, das zu Tarifen entlohnt wird, die konkurrenzlos sind - egal ob es sich dabei um LohnarbeiterInnen in armen Ländern handelt oder um illegal Eingewanderte, die in den USA arbeiten. [21] Überall in den entwickelten Ländern werden Einsparungen bei den Reproduktionskosten der Arbeiterklasse gemacht. Die Ausweitung des Arbeitsmarktes auf den gesamten Erdball und die Schaffung einer neuen flexiblen Einwanderung tragen dazu bei. Die Einschnitte in das öffentliche Gesundheitswesen zeigen, daß das kapitalistische System diese Ausgaben nicht mehr als sozial notwendig und Bestandteil der Unterhalts- und Reproduktionskosten der Arbeitskraft ansieht. Sie sind in dem Maße überflüssig, wie jeder eingewanderte prekäre Arbeiter gemäß den Notwendigkeiten der Produktion nach Belieben ersetzt, rausgeschmissen oder ausgewiesen werden kann. [22]
Aus der Untersuchung der Bewegung des Kapitals hatte Marx gefolgert, daß jeder Periode der kapitalistischen Entwicklung ein »Bevölkerungsgesetz« entspräche. Heute kommandieren die kapitalistischen Erfordernisse nach Arbeitskräften die Einwanderungspolitik und erklären das Schicksal, das eingewanderten Jugendlichen in den westlichen Ländern vorbehalten ist. Seite an Seite mit den endgültig aus der Produktion rausgeschmissenen Proletariern und genau wie die BewohnerInnen der US-amerikanischen Ghettos und der Slums der Dritten Welt sind diese Jugendlichen ein Teil der überflüssigen Bevölkerung in der aktuellen Phase der Kapitalverwertung. [23] Abgestellt, marginalisiert und kriminalisiert kann diese Jugend nicht mehr fordern, in die Ränge des Proletariats alten Typs erhoben zu werden, das selbst durch den Verfall der industriellen Produktion dezimiert ist. Die Bedingungen ihrer Elterngeneration (DauereinwandererInnen mit legalem Status) gibt es nicht mehr oder sind für sie nicht annehmbar, und die der neuen prekären Migration sowieso nicht. Wie Sassen sagt: Der neue Einwanderertyp muß immer mehr auf seine Qualität als Ware reduziert werden, und die wenigen formellen Rechte, die mit dem früheren Einwandererstatus verbunden waren, müssen aufgehoben werden. Die menschlichen Lebensbedingungen des unvollkommenen Staatsbürgers, die ihnen zugestanden worden waren, werden ihnen in Zukunft abgesprochen. Die Jugendlichen aus der Einwanderergeneration, die Fuß gefaßt hat und mit formellen Rechten ausgestattet ist, stellen ein Problem für die soziale Ordnung in den modernen kapitalistischen Ländern dar, die die Reproduktions-, Unterhalts- und Kontrollkosten der Klasse als Belastung ansehen. In Frankreich haben die Reformen des Staatsbürgerrechts und der ständige Rückgriff auf solche Praktiken wie die »Doppelbestrafung« [24] genau diese Jugend im Auge, die zur proletarischen Überbevölkerung gehört.
»Ein Staat hat innerhalb eines gewissen Rahmens öffentlicher Freiheiten die Legitimation, das Verhältnis zwischen seinen Staatsbürgern und seinen Ausländern zu reglementieren«, bekräftigte ein hoher sozialistischer Funktionär. [25] Anders ausgedrückt, er hat das Recht, eine Kategorie von Arbeitskräften mit separatem Status zu schaffen. Die Legalisierungspraxis [26] ist für den Staat zu der Methode geworden, mit der er die neue flexible und prekäre Rotationsmigration steuert. Die Legalisierung zielt nicht so sehr auf den Arbeitsmarkt sondern auf soziale Befriedung ab, sie dient als Sicherheitsventil: »Der Staat muß nachsichtig sein, weil sonst die Gefahr besteht, daß sich eine Kategorie von Rechtlosen und folglich eine potentiell explosive Situation entwickelt.« [27] Darüber hinaus hängt jegliche Legalisierungspolitik vor allem vom Kräfteverhältnis ab, das durch die Kämpfe der eingewanderten ArbeiterInnen entsteht, und nicht etwa von einer angeblichen »Großzügigkeit« des kapitalistischen Staates. Die Legalisierungspraxis erkennt an, daß die illegale Einwanderung zu einem unumkehrbaren und ständigen Tatbestand im gegenwärtigen Kapitalismus geworden ist. Die »Legalisierungspolitik« ist die Rechtfertigung der Illegalität.
Die wachsende Willkür des demokratischen Systems hängt mit der modernen Form des »Bevölkerungsgesetzes« zusammen. Die für die Repression notwendigen Ausgaben werden vom System als unabdingbar für die Stabilität der sozialen Beziehungen betrachtet. Die formelle Demokratie versteckt die soziale und ökonomische Ungleichheit, auf die sich der Kapitalismus gründet. Jetzt beginnt eine Epoche, in der die politische Macht versucht, diesen formellen Rahmen auf das nötigste zu reduzieren; und wo der Reformismus sich als Verteidiger des kleineren Übels und der »am wenigsten schlechten Lösung« [28] definiert. Also ist die Arbeitskraft eine ganz besondere Ware in dem Sinne, daß der Arbeiter, der sie verkauft, nie sein Recht auf Menschlichkeit aufgibt. Er selber sieht sich nie auf die Ware reduziert, die ihn existieren läßt. Der eingewanderte Arbeiter investiert um so mehr alle Energie in die Verwirklichung seines Plans, zu überleben und sich in die Gesellschaft zu integrieren, in der er seine Arbeitskraft am teuersten verkaufen kann. Egal wo er seine Arbeitskraft verkauft, er tut es nur, um dort leben zu können. Die Tendenz des modernen Kapitalismus, die MigrantInnen wie Waren zu behandeln, bringt eine neue Art von Klassenwiderstand hervor. Genau in diesem Zusammenhang müssen die Kämpfe der eingewanderten ArbeiterInnen verstanden und unterstützt werden, die sich weigern, ihr Leben auf die Schwankungen des Warenaustauschs reduzieren zu lassen.
Fußnoten:
[1] Dieser Text erscheint auf französisch in der neuen Zeitschrift Oiseau-tempête. Kontakt über: Ab irato, B.P. 328, F-75525 Paris Cedex 11.
[2] Chevènement-Interview in: Le Monde, 26.6.1997 (Chevènement ist Innenminister in der aktuellen sozialistisch-kommunistisch-grünen Regierung Frankreichs).
[3] Saskia Sassen, The mobility of Labor and Capital, Cambridge University Press 1994. Siehe auch Nigel Harris, The New Untouchables - Immigration and the New World Order, Tauris, London 1995.
[4] Sassen, a.a.O., S. 3.
[5] Diese Entwicklungen entwerten die traditionelle männliche Identität. Ohne Arbeit ist der Mann nicht mehr in der Lage, eine Familie zu gründen. Auswanderung wird zur einzigen Möglichkeit, Arbeit zu finden und diese Identität zurückzugewinnen; siehe »Tomorrow's second sex«, in: The Economist, London, 28.9.1996.
[6] Zwischen 1969 und 1972 gingen in den USA 22 Mio. Industriearbeitsplätze verloren.
[7] Sassen, a.a.O., S. 129.
[8] Sassen, ebenda.
[9] Sassen, a.a.O., S. 171.
[10] Sassen untersucht die Bekleidungs- und Elektronikindustrie in New York bzw Los Angeles.
[11] Vgl. Le Monde, 24.6.1997, Nike findet die asiatischen Löhne langsam zu hoch.
[12] Die multinationalen Konzerne kontrollieren 90 Prozent der internationalen Kapitalbewegungen. Die US-Multis verkaufen 70 Prozent ihrer Waren in den USA.
[13] Die USA und Kanada bilden den ersten Weltmarkt.
[14] Die immer größere Unzufriedenheit der Arbeiter, Streiks und gewalttätige Demonstrationen (Vietnam, China, Indonesien) beunruhigen die Konzerne, die sich in Asien niedergelassen haben, siehe Le Monde, 24.6.1997. Der Generalstreik in Südkorea von 1997 zeigt, daß die Senkung der Produktionskosten in diesen Ländern an ihre Grenzen gestoßen ist. In Mexiko - wo die Neuzusammensetzung der politischen Klasse mit starken sozialen Unruhen einhergeht - konzentrieren die Multis ihre Investitionen in den grenznahen Gebieten zu den USA.
[15] Sassen, a.a.O., S. 34
[16] Anfang der 80er Jahre lag die Schätzung über die Anzahl illegaler EinwandererInnen in den USA zwischen drei und zwölf Millionen - im Verhältnis zu einer Einwohnerzahl von 230 Millionen.
[17] Der Export der Ware Arbeitskraft ist für Länder wie die Phillipinen oder Mexiko lebenswichtig geworden (mehr als 600.000 Personen pro Jahr).
[18] Großer Baukonzern.
[19] Supermarktkette.
[20] In den USA leben 14 Prozent der Bevölkerung unterhalb der offiziellen Armutsgrenze; Sozialhilfe und Lebensmittelmarken machen drei Prozent der Staatshaushalts aus.
[21] Nach dem neuen »Workfare-System« werden die Arbeitslosen, statt vom Staat Sozialhilfe zu bekommen, in Privatfirmen oder öffentliche Arbeiten gesteckt, wo sie weiterhin dieselbe Summe bekommen: 1,5 $ pro Stunde bei einem Mindestlohn von 5,5 $.
[22] In den USA entzieht das neue Einwanderungsgesetz (verabschiedet von der demokratischen Administration) den legalen EinwandererInnen die staatlichen Sozialleistungen in den Bereichen Gesundheit, Erziehung und Lebensmittelmarken.
[23] Die Folgen dieses Tatbestands hat Viviane Forester überrascht entdeckt und zur Grundlage ihres Buchs »L'Horreur Économique« gemacht: Ein echter Aufschrei der Angst seitens der humanistischen, gutgesonnenen Linken. Der außergewöhnliche Erfolg des Buches ist nicht durch die Banalität des Textes erklärbar, er drückt vielmehr eine fatalistische Unruhe gegenüber der Ökonomie aus, die als Fetisch der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet wird.
[24] Ausweisung aus Frankreich für die Jugendlichen aus Einwandererfamilien, wenn sie eine Gefängisstrafe abgesessen haben.
[25] Le Monde, 19.7.1997.
[26] Wir haben in diesem Abschnitt den französischen Begriff »régularisation« mit »Legalisierung« übersetzt, weil uns das gebräuchlicher und verständlicher erscheint als eine »Eindeutschung« des Begriffs als »Regularisation«.
[27] Le Monde, 11.6.1997, Leitartikel.
[28] Die Modalitäten der Legalisierung und die Veränderungen der Einwanderungsgesetze werden von Universitäts- und anderen »Experten« ausgearbeitet. Diese Arbeiten drücken in ihren Schlußfolgerungen unterschiedslos eine reformistische Fremdenfeindlichkeit aus: sie definieren ein »akzeptables Niveau« von Einwanderung!