Wildcat-Zirkular Nr. 40/41 - Dezember 1997 - S. 110-119 [z40zuasi.htm]


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Theorie nicht ohne Untersuchung;

Untersuchung nicht ohne Praxis

Antwort auf Asien, wir und die Revolution,
Wildcat-Zirkular Nr. 39, S. 61 ff.

Einleitung

Im letzten Zirkular sind gleich zwei Kritiken von etwa denselben GenossInnen erschienen: ein »offener Brief« an John Holloway, von dem sie einige Texte im letzten Jahr im Rahmen einer »Erneuerung der Theorie« übersetzt und im Zirkular veröffentlicht haben, und eine Kritik an unseren Texten und Berichten zu den Umwälzungen in Asien. Die beiden Kritiken sind unterschiedlich in Stil und Diktion; wir fühlen uns geehrt: der Brief an Holloway ist höflich und inhaltlich vernichtend; während die Kritik an uns sehr polemisch ist, aber unserer Aufgabenstellung weitgehend zustimmt.

Damit sind grundsätzliche Unterschiede in der Einschätzung unserer derzeitigen Aufgabenstellung noch nicht überwunden. Während die GenossInnen eine »Erneuerung der Theorie« für vordringlich halten und zwar auf einem sehr allgemeinen, umfassenden Level (und dafür auch einen vorübergehenden Verzicht auf Praxis in Kauf nehmen), lehnen wir es – bis zum Beweis des Gegenteils – nach wie vor ab, bisherige Einschätzungen für falsch zu halten und sehen deshalb den Bedarf für eine so weitgehende und grundlegende »Erneuerung« nicht. Was wir allerdings sehen, ist sozusagen die Notwendigkeit einer die meisten Bereiche umfassenden Aktualisierung unserer Einschätzungen; das gilt für die Behandlung der gewaltigen weltweiten Umwälzungen von Klassenverhältnissen genauso wie für eine Einschätzung der Situation in Westeuropa. Aber Aktualisierung fängt mit Untersuchung an; ein wie auch immer gearteter Rückzug aus der Praxis, aus dem wirklichen Klassenkampf und aus der Aktualität der Ereignisse, verbietet sich von selbst. Selbstredend wird eine Aktualisierung unserer Einschätzung eine Erneuerung der Theorie mit sich bringen; aber eine Erneuerung, die nicht aus unseren Köpfen, sondern aus der Entwicklung der Kämpfe kommt.

Zur Polemik

Da dies die erste Reaktion auf unsere Texte zu der Entwicklung in Asien ist, akzeptieren wir ihre Art und Weise, hoffen aber gleichzeitig, daß künftige Diskussionen genauer und mit weniger Reibungsverlust geführt wird. Es wäre blöd, offensichtliche Sachen immer wieder richtigstellen zu müssen. Ein wesentliches Stilmittel diesmal war der Versuch, unsere Argumente durch Verabsolutierung ins Absurde zu führen; sehr oft werden Wörter wie »nur« oder »völlig« unserer Meinung untergeschoben.

So unterstellt ihr z.B., ausgehend von unserer Bemerkung, daß »zur Zeit« die Musik nicht in Westeuropa und Nordamerika spiele (Zirkular 25, 65f), wir würden wie Marcuse davon ausgehen, die hiesige Arbeiterklasse sei »völlig integriert« oder schreibt, wir würden wie die Autonomie NF sagen, nur etwas »von außerhalb« könne revolutionär sein - nachdem wir ausgiebigst dargestellt haben, daß die Leute nicht im Kapitalismus gelandet sind - das waren sie schon vorher - sondern in der Fabrik!

Eines der vielen »nur«, die ihr uns unterstellt, ist besonders ärgerlich, weil besonders dumm: wir hätten gemeint, die Arbeiterklasse entwickele nur den Kapitalismus und damit würde die Revolution dem Kapitalismus völlig äußerlich gegenüberstehen. Eure Formulierung: »insofern ist der Klassenkampf (...) in der Entwicklung des Kapitals aufgehoben« ist natürlich schöner, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es bislang mit Kapitalismus, nur Kapitalismus und ganz und gar Kapitalismus zu tun haben. Ihr könnt nicht (zurecht) die Totalität der Gesellschaft betonen und uns gleichzeitig vorwerfen, wir würden der Arbeiterklasse bescheinigen, sie hätte bisher nur den Kapitalismus entwickelt - was wir nicht getan haben, aber hätten tun können.

Zum »Finanzkapital« [1]

Das Thema Finanzkapital ist uns leid – wir halten es für ziemlich unwichtig. Wichtig war es allerdings in den Texten von Karl-Heinz Roth [2] und – vereinzelt – in den Texten aus Open Marxism. [3] Und wichtig war es auch in der ganz normalen hiesigen »Standortdebatte«, wo es vor allem von den Gewerkschaften als Hauptbedrohung beschworen worden ist: Es wäre die Instanz, die letztendlich für unser Unglück verantwortlich sei, weil wir entweder zu »teuer« oder zu »aufsässig« seien.

Die Profitraten (nicht Ausbeutungsraten) in Asien sind höher, die Profitmasse ist in jeder Hinsicht sehr groß; der Unterschied in den Profitraten in Asien und den alten Metropolen ist die Folge von ungleichzeitigem Klassenkampf und unterschiedlichen Kampfgeschichten.

Tendenz zur weltweiten Durchschnittsprofitrate auf 2 Ebenen:

In beiden Fällen fließt Geld in der Bilanz in Richtung niedriger Profitrate; im zweiten Fall durch eine »Investition« angeschoben.

Direktinvestitionen aus den alten Metropolen gibts, stehen aber nicht im Zentrum; das Kapital kommt aus Asien.

Deshalb haben wir nicht bewiesen und wollen auch nicht beweisen, daß Geld in irgendeiner Form von hier nach Asien fließt, sondern wir behaupten im Prinzip das Gegenteil: Die Kapitalisten wollen den Leuten in Asien kein Geld schicken, sondern - in der Bilanz - dort absahnen.

Zuerst werden oder sind diese Geldflüsse natürlich Finanzkapital; sie müssen Währungs-, Aktienspekulation und andere Stromschnellen überwinden. Deshalb kann das Finanzkapital hier auftreten und sozusagen höhere Gewinne durch die Ausbeutung in Asien versprechen - mit höherem Risiko natürlich, die Verhältnisse dort sind nicht so stabil (siehe den Fastzusammenbruch der thailändischen Währung im Juni diesen Jahres, eine ziemlich direkte finanzspekulative Reaktion auf den Klassenkampf). Und es übt durch dieses Angebot Druck auf hier tätiges Kapital aus, zu versuchen, seine Profitrate durch die Erhöhung der Ausbeutungsrate zu erhöhen. Was uns auf der Oberfläche der Erscheinung also als »Finanzkapital« erscheint, ist in Wirklichkeit zu einem großen Teil der Aufstieg der neuen Arbeiterklasse in Asien und ihre noch erfolgreiche Ausbeutung, oder mit anderen Worten: das Finanzkapitalspiel wird bezahlt durch die Leute in Asien (und zunehmend auch in Afrika und möglicherweise wieder verstärkt in Lateinamerika); wer diesen einfachen Zusammenhang [4] nicht spürt, sollte vom altklugen Hantieren mit Wörtern wie »Derivate« und »monetäre Aggregate« vorläufig noch Abstand nehmen.

Asien

Wir haben vor mehr als einem Jahr einen Vorschlag zur Untersuchung der Entwicklung in Asien gemacht [5], ohne Resonanz. Seither haben wir mit geringen Kräften und ungenügenden Mitteln versucht, der Entwicklung wenigstens ansatzweise auf der Spur zu bleiben. Deshalb habt ihr völlig recht: wir sind mit unserer Untersuchung nicht sehr weit gekommen, wesentliche Einsichten fehlen immer noch. Wir hatten damals die Fragen gestellt: Bei einer »wirklichen Untersuchung«, die das »Making of the working class« zum Inhalt hat, ginge es darum, herauszufinden, »wie sich die ArbeiterInnen organisieren, wen sie politisch unterstützen, wie Kämpfe und Erfahrungen zirkulieren, welche Rolle intellektuelle Mittelschichten spielen uva.« Daneben haben wir noch Probleme zur Diskussion angemeldet, wie die Frage des National-Staats und der Halbproletarisierung. Das Alles haben wir nicht nur nicht bewältigt, sondern auch kaum angehen können.Das liegt nicht nur an unseren beschränkten Kräften, sondern es liegt vor allem daran, daß in den alten Metropolen keinerlei uns bekannte linke Diskussion gibt, die die Ereignisse in Asien überhaupt zur Kenntnis nimmt – leider einschließlich der Wildcat, jedenfalls bisher. Aber wir haben - wenn ihr so wollt - wenigstens versucht, dem Vorschlag von K.H. Roth zur Untersuchung der Welt gerecht zu werden; wobei wir allerdings, nicht ganz unerwartet, nicht auf »Proletarität« (was immer das sei), sondern auf Proletariat und Arbeiterklasse gestoßen sind.

Wir haben betont, daß es sich um eine Arbeiterschicht der ersten Generation mit hohem Frauenanteil handelt und möchten daher noch mal kurz ausführen, was wir unter »halbfeudalen Verhältnissen« verstehen.

Es geht uns dabei um den Hinweis, daß vorwiegend auf zwei Ebenen Umstände, Lebensbedingungen, Umgangsformen und kulturelle Verhaltensweisen, also Verkehrsformen vorherrschen, die eng verbunden sind mit dem Land, mit den Bauern, mit letztlich aus dem asiatischen Feudalismus überdauerten und vom Kapitalismus nur modifizierten, aber nicht umgewälzten Verhältnissen. Die eine Ebene ist das Leben auf dem Land selber, wo alltägliche Herrschaftsstrukturen noch weitgehend auf persönlichen und nicht kapitalistisch-verdinglichten Abhängigkeiten beruhen. Solches Leben mag in der Ferne zu vielerlei Ethno-Schwärmereien Anlaß geben [6], Leidtragende sind jedoch immer vor allem die Frauen und die Kinder.

Die andere Ebene ist die des Staates, dessen Funktionsweise und Struktur auf die Verwaltung einer mehrheitlich bäuerlichen (und deshalb relativ stabilen) Gesellschaft ausgerichtet war und immer noch ist, vor allem in China und Indonesien; aber auch in Indochina und z.T. auf dem indischen Subkontinent. Also Regimes, die die Instrumentarien der Repression beherrschen, aber über Mittel der politischen Integration weder verfügen noch verfügen wollen, zumindest der »Modernisierungsprozeß« weit hinter den Umwälzungen in der Gesellschaft hinterherhinkt.

Erneuerung der Theorie?

Bei der für euch notwendigen »Erneuerung der Theorie« bezieht ihr euch bislang vor allem auf die Texte der Zeitschrift Open Marxism, aus der ihr viel übersetzt habt. Wir wollen nicht bestreiten, daß manches davon auch uns angeregt hat. Aber wir könnten nicht sagen, daß wir entscheidend Neues entdeckt hätten, im Gegenteil: wir halten die »Theorie« von Holloway, Bonefeld et al. für erschreckend altes, überholtes Zeug - in neuen, aber falschen Schläuchen.

Das Zentrum der Kritik habt ihr selber in eurem Brief an den »lieben John« ausgeführt: seine unhistorische und übergesellschaftliche Vorstellung von »Arbeit«. Damit einher geht aber eine ebenso dünne Vorstellung von Arbeiterklasse (deren »Aufsässigkeit« wie ein running gag nicht als ein historisch aktives Element, sondern als Konstante durch fast alle Artikel torkelt) und viele andere falsche Begriffe mehr, die allesamt eine einzige Quelle haben: eine materialistische Analyse der Gesellschaft findet nicht statt.

Statt dessen wird mit »dialektischen« Begriffen hantiert, daß einem die Spucke wegbleibt. Wir werden immer gleich stutzig, wenn ein »Theoretiker« jenes berühmte Zitat aus den Grundrissen anführt [7], wo Marx den letzten Schritt der wissenschaftlichen Analyse darstellt: nämlich den »Aufstieg« von den einfachen Bestimmungen zur reichen Totalität des Konkreten. Dieses Zitat wird immer dann gern gebracht, wenn man sich den ersten, vorhergehenden Schritt ersparen will, nämlich eben den »Abstieg« vom chaotischen Ganzen zur Erfassung der »einfachen Bestimmungen«, ihrer Bedeutung, Zusammenhänge, Formen, Inhalte, Dimensionen usw. Das bedeutet Empirie, Bewältigung des Materials, Erfahrungen, und nicht zuletzt auch Eingreifen – alles vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus und mit dem Zweck der Revolution. Holloway unternimmt gleich den zweiten Teil, nämlich die »Rekonstruktion« des Konkreten. Deshalb kann er sich auch unbelastet von irgendwelcher Empirie eine Welt »neu zusammensetzen« [8]. Und das tut er dann mit z.T. bemerkenswerter Forschheit, so als ob es nie die Diskussion im Rahmen des und mit dem Operaismus, nie eine Diskussion über die »Arbeit« im Rahmen der Umweltschutzbewegung der 80er und vor allem nie den Niedergang des Leninismus gegeben hätte. Die Welt Holloways ist eine Kopfgeburt, und sowas nennt man üblicherweise: Idealismus. Bleibt er wenigstens ein Dialektiker? Auch da haben wir unsere Zweifel: es gibt einige, aber von ihm selbst als zentral dargestellte philosophische Anomalien, die die Dialektik geradezu ins Gegenteil verkehren.

Diesen entscheidenden Unterschied kann jemand, der sich nicht auf die wirklichen, lebendigen ArbeiterInnen bezieht, sondern die »Klasse« aus einer Formanalyse des Kapitals re-konstruiert, natürlich nicht festmachen. Open Marxism bietet eine Menge von wichtigen Einzelbeobachtungen, Formulierungen, manchmal auch Zusammenfassungen, die interessant und brauchbar sind. Ein neues Verständnis der Lage, eine »Erneuerung der Theorie« bringen sie nicht. Lediglich eine Neuformulierung eines intelligenten Leninismus in »operaistischen« Begriffen.

Wir können den Weg zur Revolution nicht erfinden, sondern nur in den realen Kämpfen finden. Das heißt ganz einfach, daß sich auch die Theorie nur im Rahmen des Fortgangs des Klassenkampfs erneuern kann. Wir halten also nichts von einer künstlichen »Erneuerung der Theorie«. Das hätte nur Sinn, wenn man davon ausginge, daß unsere bisherigen Einschätzungen falsch waren und/oder falsch sind. Das müßte nachgewiesen werden. Wenn wir sagen, Theorie kann sich nur mit den Klassenkämpfen erneuern dann bedeutet das dreierlei:

Massenarbeiter

Ihr fragt: was ist neu an der Sache mit Asien? Wir stellen uns die Frage so nicht, weil die Antwort auf der Hand liegt: Nichts! Alles!

Nichts: wir haben bislang den Begriff »Massenarbeiter« in Bezug auf Asien vermieden; aber natürlich erinnert viel an den neuen ArbeiterInnen an den europäischen Massenarbeiter der 60/70er Jahre: erste Generation, mobil, jung, große Fabriken, kaum Vermittlungsinstanzen, militante Kampfformen und z.T. auch vergleichsweise unbescheidene Forderungen/Ansprüche im Rahmen regelrechter Aufstände (Jakarta 1996, und in gewisser Weise auch Albanien 1997). Von daher ist es kein großes theoretisches Abenteuer, von den Massenarbeitern der 90er zu sprechen.

Alles: Dimensionen, auch relativ: waren »unsere« Massenarbeiter eigentlich kleine Minderheiten in den Gesamtgesellschaften oder in der Gesamtarbeiterklasse ihrer Zeit, sind die von heute mindestens große Minderheiten, wenn nicht gar Mehrheiten. Ihr relativer kultureller Sprung scheint uns oft größer, v.a. was die Frauen betrifft. Einerseits finden sie nicht die Kultur der alten Arbeiterbewegung und deren immerhin noch aktionsfähigen Organisationen vor (sondern in Indonesien und China nichts weiter als repressive Regimes; in Indien, Thailand, Phillippinen ist das etwas komplizierter), andererseits treffen sie in China auf einen älteren Teil der Klasse, der seinen Mut schon 89 bewiesen hat und ihn derzeit wiederzugewinnen scheint. Statt Sozialdemokratismus etc bietet sich Ethnizismus etc als Ideologie an. Aber gleichzeitig öffnet sich ihnen nicht nur ideologisch – »Globalisasi« – und kulturell die Welt als Aktionsfeld, sondern auch aufgrund der offensichtlichen produktiven Kooperation auf Weltebene (sie produzieren Sachen für den Weltmarkt und für das Weltkapital, die sie sich selber kaum leisten können – NIKE).

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie stellt auch nicht jeden Augenblick völlig neue Verhältnisse und Umstände her – wir wollen eigentlich nur darauf hinweisen, daß es vielleicht sein kann, daß die Kämpfe der europäischen Massenarbeiter nur ein erstes Wetterleuchten waren für einen ganz anderen Sturm, der auf uns zukommt...

Was tun?

Ihr habt recht, die Frage nach der Praxis stellt sich für uns nicht in Shanghai – jedenfalls nicht in erster Linie –, sondern im deutschsprachigen Raum. Wir freuen uns, daß ihr diese Frage wieder stellt. Ein kleiner Teil unserer vorläufigen Antwort ist, in Bezug auf die gewaltigen Veränderung der Welt, die wir festgestellt – wenn auch noch nicht ausreichend untersucht – haben, ist allerdings, daß es schon unser Job ist, die hiesige Arbeiterklasse über die KollegInnen woanders und deren Kämpfe zu informieren. Wir sollten uns immer um die fortgeschrittensten Kämpfe kümmern um zu lernen (und Theorie zu finden) und Erfahrungen zu verbreitern. Das dient dem doppelten Zweck: Einerseits zu zeigen, daß es nicht nur weltweite Konkurrenz, sondern weltweit dieselben Probleme gibt und zu zeigen, wie man sich woanders ihnen stellt; andererseits aber auch, um uns in die Lage zu versetzen, diese Entwicklungen/Kämpfe zu diskutieren/zu kritisieren. Das geht nicht ohne Beteiligung! Weshalb wir auch etwas entsetzt darüber waren, daß wir wenn nicht die einzige, wahrscheinlich aber die größte Kundgebung zu Albanien organisiert haben... Das bedeutet, wenn ihr wollt, auch ein bißchen sowas wie Solidaritätsarbeit (nicht mit Organisationen, sondern immer nur mit Kämpfen), immer mit dem Versuch, mit Entwicklungen/Kämpfen hier zu verbinden.

Der viel wichtigere Teil der Diskussion ist allerdings unsere Untersuchung der hiesigen Verhältnisse, da habt ihr völlig recht. Aber auch da scheint uns eine »Erneuerung der Theorie« mit Verlaub etwas früh. Unser Problem ist, daß uns im Moment schon eine genauere empirische Bilanz der technischen Zusammensetzung der Arbeiterklasse fehlt; aber gleichzeitig wir auch nicht sehen, daß sich da wesentliches, »völlig Neues« ereignet hat in den 90ern.

Immer noch: die Zentralität der Fabrik als Ort möglicher politischer Zusammensetzung

Ihr betont zurecht, daß es mal wieder Zeit wird zu gucken, »wie der gesellschaftliche Gesamtarbeiter heute eigentlich aussieht«, und bringt dann Beispiele: Selbständige, Bau, Migranten.

Wir jedoch sehen, entgegen aller neuer Ideologien und entgegen der z.T. verzweifelten Selbstverleugnung von Teilen der Arbeiterklasse, immer noch die Fabrik im Zentrum des Kapitalismus und seiner Überwindung. Und zwar die reale, wirkliche Fabrik im Sinne eines Ortes, eines Raumes, in dem direkte Kommunikation, spürbare Kooperation stattfindet und das Kapital einen Namen hat – nicht eine »diffuse« oder »virtuelle«. Wir dürfen nicht auf das Geschwätz über das Verschwinden der Arbeit (= Verschwinden der Fabrik [12]), hereinfallen. Selbst, wenn sich herausstellt, daß »manufacturing« hier rückgängig ist (weltweit ganz sicher nicht), dann verweisen wir darauf, daß andere Bereiche von Arbeit zunehmend fabrikmäßig organisiert werden: von den neuen Briefzentren der Post über Rieseneinkaufszentren bis zu den Programmierfabriken wie SAP. Und auch der Transportsektor ist um die Fabrik herum organisiert.

Der Unmut in der Fabrik richtet sich unmittelbar gegen das Kapital. Bewegungen, die nicht aus dem erzwungenen Zusammensein auf Arbeit entstehen, sind eher »politisch« und wenden sich an den Staat.

Unser dogmatisches Festhalten an der Fabrik scheint unserer negativen Einschätzung der Fabrikarbeiter zu widersprechen. Ihr unterstellt uns, daß wir uns »innerhalb der lokalen Arbeiterklasse keine revolutionären Initiativen mehr vorstellen können«. Was soll »revolutionäre Initiative« eigentlich heißen? Immer müßt ihr übertreiben. Wir haben es uns noch nie vorgestellt, daß aus unserem Eingreifen so direkt Revolution wird. Es ist kein Hobby, weiterhin in die Fabrik zu gehen. Wenn wir dort z.Zt. vor allem Leute treffen, die klassenkampfmäßig nicht so gut drauf sind, und dies auch sagen, bricht das zwar mit der Wildcattradition, über die Unzulänglichkeit der ArbeiterInnen den Mantel der Liebe zu breiten. Wir bilden uns allerdings immer noch ein, dort in der Fabrik etwas über die aktuelle Wirklichkeit des Klassenkampfes zu lernen und selbst immer etwas zur Entwicklung des Klassenkampfs beitragen zu können.

Erneuerung der Theorie

Es stimmt, wir sind nicht mehr auf dem Laufenden, weder theoretisch noch praktisch. Erneuern wir die Theorie, brauchen wir eh zur Auseinandersetzung mit dem neuen verbalradikalen Linkssozialdemokratismus. Aber machen wir das ernsthaft: nicht das Zusammenbasteln einer neuen Welt hilft uns weiter, sondern die Untersuchung der aktuellen, hierzulande wie weltweit – es gibt viel zu entdecken und es stellen sich viele Fragen. Aber wir sollten anfangen, wie es Revolutionäre tun: mit der Empirie, der Untersuchung. Viel ist auch da am Schreibtisch zu erledigen; aber es geht viel weiter. Leider ist im letzten Jahr nur wenig an halbwegs beteiligter, d.h. militanter Erfahrung im Zirkular rübergekommen - von uns wenig, aus Euren Gruppen sehr wenig! Immerhin haben die Essener regelmäßig was zu ihren Erfahrungen mit prekärer Arbeit berichtet. Das ist im Moment natürlich nicht sehr publikumswirksam - weil es »in der Arbeit« selten so richtig abgeht [13]. Mit wenigen, für die Beteiligten erfreulichen und andere kaum interessierende Ausnahmen. Das gilt auch für die Wildcat; man hätte anhand unseres Berichtes über Fisher-Gulde [14] wenigstens mal über die Parole »Jobs weg? Geld her!« diskutieren können.

Auch für wichtige Kämpfe weltweit gilt ähnliches; wir müssen, wie ihr zurecht betont, näher dran. Das heißt: Sprachen lernen; mal hinfahren, Kontakte aufbauen etc. Das geht dann aber nicht mehr so, daß eine kleine Gruppe sich um »die Welt« kümmert; wir erinnern an Zirkular 25.

Welt in Umwälzung (Zirkularredaktion Mannheim/Ludwigshafen), Okt. 97


Fußnoten:

[1] Dieser Abschnitt ist nur von Karl verantwortet. Siehe dazu: Karl, Hinter dem Horizont?, Wildcat-Zirkular 32, 5ff.

[2] in: Karl-Heinz Roth (Hrsg.), Die Wiederkehr der Proletarität, Dokumentation der Debatte; Köln 1994.

[3] John Holloway, Globales Kapital und Nationalstaat, Wildcat-Zirkular Nr. 28/29, und diverse Texte von ihm und Werner Bonefeld in Zirkular 30/31.

[4] Sogar unser gemeinsamer Lieblingsfeind, Joachim Hirsch, hat wenigstens das verstanden: »Einer bezahlt immer für die Gewinne, und im Moment sind das die Arbeitskräfte in der Peripherie.« (Blätter des iz3w, 9/96, S.22). Das mit der Peripherie ist Ideologie von vorgestern und zeigt, daß er nicht wirklich blickt, was los ist, aber er stellt sich wenigstens die proletarische Frage: Wer bezahlt?

[5] Welt in Umwälzung, Wildcat-Zirkular Nr. 25, Mai 1996.

[6] Ein ziemlich krasses Beispiel sind die »Glücklichen Arbeitslosen« im letzten Zirkular. Zuerst wollen sie uns erklären, wie sich »die Wirksamkeit« des Geldes dadurch vermehrt, daß es »in eine permanente Zirkulation« innerhalb der Großfamilie gesetzt wird (...) ohne die einfache Tatsache zu begreifen, daß »die Wirksamkeit« des Geldes auch in Dakar darin besteht, Arbeit zu kommandieren. Wenn Arbeit die Tätigkeit ist, mit der ich Geld verdienen oder Geldausgaben vermeiden kann, dann bestehen denn auch die »unklaren Ressourcen«, auf die unsere Glücklichen gerne zurückgreifen würden, aus der unbezahlten und nicht anerkannten Arbeit der Frauen und Kinder!

[7] John Holloway, Vom Schrei der Verweigerung zum Schrei der Macht: Zur Zentralität der Arbeit, in: Wildcat-Zirkular Nr. 34/35, S. 51.

[8] ebenda, S. 64.

[9] ebenda, v.a. S. 47 f.

[10] Das ergibt sich allein schon aus der begrifflichen Unterscheidung von »formeller« und »reeller Subsumtion« der Arbeit unter das Kapitalverhältnis!

[11] John Holloway, Krise, Fetischismus, Klassenzusammensetzung, in: Wildcat-Zirkular Nr. 34/35, S. 90.

[12] oder »Rückgang des städtischen Fabrikarbeiters«, wie ihr Holloway zitiert (Wildcat-Zirkular Nr. 39, S.38): das ist schlicht falsch!

[13] Woanders allerdings auch nicht!

[14] In Wildcat-Zirkular Nr. 28/29.


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