»In den Ghettos sind die Drogen zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor geworden«
Interview mit Curtis Price
[Charles Reeve und Sylvie Deneuve, von denen wir schon des öfteren Artikel im Zirkular hatten, sind im Frühjahr '97 durch die USA gereist und haben dabei mehrere Interviews gemacht, die sie unter dem Titel: Dissonante Stimmen aus Amerika (Voix dissonantes d'Amérique) zusammengefaßt haben. Daraus haben wir im folgenden das erste Interview übersetzt. Die anderen behandeln zum größten Teil die neue Immigration in die USA. Wenn jemand Lust hat, was fürs Zirkular zu übersetzen, schicken wir sie ihr/ihm gern zu. Die Interviews wurden in Englisch (teilweise wohl auch Spanisch und Portugiesisch geführt), sie sind aber nur in Französisch niedergeschrieben.]
Baltimore, 20. April 1997
Baltimore, der große Hafen der Ostküste, liegt bereits im Süden der Vereinigten Staaten. Hier rennt man fast nie. Mit dem Zug vier Stunden von New York entfernt ist die Nonchalance der Gaffer eher erholsam. Eingeklemmt zwischen die Autobahnzubringer, die es von den riesigen Ghettos trennen, ist das historische Zentrum provinziell und wenig belebt. In Baltimore sind 70% der Bevölkerung schwarz. Nach den großen Revolten der 60er Jahre hat der Beton als Sicherheitsgürtel gedient. Inmitten des Gewirrs von Schnellstraßen wurde eines der größten Zuchthäuser des Bundesstaates errichtet, es ist eine graue und kalte Erinnerung an das Ausmaß des nordamerikanischen Knastuniversums. Mit einer Million Einwohnern hat Baltimore all die Merkmale einer amerikanischen Stadt am Ende dieses Jahrhunderts: Niedergang der Industrie, prekäre Jobs, sinkende Löhne, Marginalisierung und Verarmung der großen Mehrheit der schwarzen Bevölkerung. Die offiziellen Berichte sprechen von 50 000 Drogenabhängigen und 18 000 Festnahmen im Jahr wegen Drogen. Baltimore hat auch eine der höchsten Raten heranwachsender Mütter im Land.
Zusammen mit schwarzen GenossInnen hatte Curtis vor einigen Jahren eine radikale Straßenzeitschrift gemacht, Street Voice [1], die davon erzählt, wie schwer das Leben ist, von Drogen, Obdachlosen, Aids, minderjährigen Müttern, Knast und anderen Gefängnissen - anders gesagt von dem Amerika, das in den Statistiken des Wirtschaftsaufschwungs und des Jobwunders nicht vorkommt. Curtis, mit seiner Ruhe des Southeners, hat alle Zeit der Welt und viel Energie. Ewig wütend, hat er damit angefangen, eine zweite radikale Zeitschrift zu veröffentlichen, Collective Action Notes [2], die vor allem über die weltweiten Kämpfe spricht und die soziale Emanzipation diskutiert. Wen wundert es also, daß Curtis die Hälfte der Bewohner in der Stadt kennt? Die respektable Hälfte, selbstverständlich. Nicht die Bullen, die Knastwärter, die Spießer, die Wachleute, die Barbesitzer und die Finanzleute. Unterwegs treffen wir alte Bekannte. Sean ist gerade aus dem Knast gekommen und erklärt Curtis, daß er rumbummelt und einiges im Viertel peilt. Er hat eine Leidenschaft für Einrichtung und scheint sich besonders für die schönen bourgeoisen Wohnstätten im Südstaatenstil zu interessieren. Ed, der früher mit dem Team von Street Voice herumhing, hat gerade einen kleinen Job im Empfang eines sozialen Zentrums gefunden. Er ist prekär wie alle modernen Jobs, aber Ed hat sich bereits einen schönen Timberland-Blousson und ein super Handy geleistet. Curtis beruhigt mich: keine Panik, es handelt sich bloß um eine einfache, spontane »Enteignungs«-Aktion aus dem Auto eines Reichen, das Handy wird so lange halten, wie das Abo bezahlt ist. Durch Collective Action Notes hat Ed Wind bekommen vom Kampf der »sans papiers« in Paris. »Wo sind sie her? An dem Tag, wo wir uns hier mit ein paar tausend Leuten auf der Straße versammeln, werden sie Angst kriegen«, sagt er mit einem strahlenden Lächeln. »Im Moment geht das nicht, wir sind zu sehr vom Elend niedergedrückt. Jeder muß sich aus der Klemme ziehen, aber die Sache ist noch nicht zu Ende!« fügt er hinzu. Man ruft ihn. »Entschuldigt mich, ich muß eine Kleinigkeit erledigen.« Und weg ist er.
Schließlich finden wir eine Bar, wo wir uns bei einem Bier setzen können. Curtis bestellt seinen Mittagsburger. Er hat uns einiges mitzuteilen.
Frage: In einer »alternativen« Zeitschrift protestiert ein Jugendlicher gegen die Forderung, die weichen Drogen zu entkriminalisieren. Er ist Hauslieferant für Grass und macht geltend, daß ihn die Legalisierung arbeitslos machen würde, während er zur Zeit etwa 100 Dollar am Tag verdient, was alles in allem nicht schlecht ist ... insbesondere, wenn man es mit dem US-Mindestlohn vergleicht, der bei 5 1/2 Dollar die Stunde liegt. Welchen Platz nimmt die Ökonomie der Droge in den proletarischen Vierteln und insbesondere im Leben der schwarzen Gemeinschaft ein? Wie sehen die Leute den Drogenhandel?
Antwort: Die Vorschläge des jungen Manns sind interessant, weil es wieder einmal um die Frage der Legalisierung geht. In den Vereinigten Staaten stellt man sich heutzutage die Drogenfrage oft als Problem Verbot gegen Legalisierung. Die beiden Lager betrachten die Droge als Randproblem: etwas, das stört, ein Problem, das existiert, das aber nicht Teil des gesellschaftlichen Lebens ist.
Für mich gibt es eine realistischere Art, die Dinge zu sehen. In unseren Tagen ist die Ökonomie der Drogen ganz einfach zu einer wirtschaftlichen Branche geworden. In den armen Vierteln der großen Städte ist sie sogar die vorherrschende Ökonomie geworden. Eine Anekdote: Als wir das Projekt Street Voice herausgebracht haben, waren wir auf der Suche nach Büroräumen. Wir haben zu Beginn in den armen Vierteln von Baltimore gesucht, denn wir dachten, dort seien die Preise niedriger. Aber es war unmöglich, etwas zu finden, alles war weg... Es gab einen regelrechten Boom an wirtschaftlichen Aktivitäten, obwohl von außen betrachtet nichts daraufhindeutete. Schließlich haben wir Räume in einem eher schicken Bürogebäude gefunden, im historischen Stadtzentrum. Hier waren die Mieten erschwinglich, weil es im Viertel keinerlei Aktivität mehr gab. Ein kleines Zeichen, das einen Anhaltspunkt dafür gibt, welche Auswirkungen die Drogenökonomie in den armen Vierteln der amerikanischen Städte hat.
Wenn es um Drogen geht, führen die Bewohner der armen Viertel einen doppelten Diskurs. (...) Vor allem dann, wenn jemand von außen kommt und sie fragt, was sie vom Drogenhandel halten. Man wird natürlich sofort antworten, daß man dagegen ist, daß man die damit verbundene Gewalt nicht mag, daß die Droge eine Plage ist, daß man den Drogenhandel aus dem Viertel verbannen müsse usw. Aber hinter diesem Gerede aus Gemeinplätzen gibt es eine andere Realität. Heutzutage sind die Drogen für mehr und mehr Leute eine unverzichtbare Einkommensquelle. Nehmen wir etwa folgendes Beispiel: eine alleinerziehende Frau, die vom Mindesteinkommen oder sogar von noch weniger leben muß. Wenn einer ihrer Söhne regelmäßig mit Geld in den Taschen heim kommt und sie mit einigen hundert Dollar im Monat unterstützt, wird sie das natürlich akzeptieren, auch wenn sie keinerlei Zweifel über die Herkunft des Geldes hat. Heutzutage halten die Abfälle aus dem Drogengeschäft die Stadtviertel am Leben und machen einen Bestandteil der Einkünfte fast aller Familien aus. Der Drogenhandel ist eine zusätzliche Einkommensquelle für viele Leute, die eher schlecht als recht überleben.
Heutzutage wird so viel Reklame gemacht mit der amerikanischen Wirtschaft, die Jobs produzieren würde. »Was macht es aus, wenn sie schlecht bezahlt sind, Hauptsache Jobs!« Aber dieser sogenannte Aufschwung geht an den Bewohnern der armen Viertel vorbei. Einerseits aus rein geografischen Gründen, denn die Ghettos sind abgetrennt von den weit entfernten Vororten, wo die meisten der Jobs entstehen. In den Vereinigten Staaten sind die öffentlichen Verkehrssysteme auf ein Minimum reduziert, man muß mit dem Auto fahren, und in den Ghettos haben sehr wenige Leute ein Auto. Darüberhinas brauchst du ein sauberes Führungszeugnis, selbst wenn es unqualifizierte Jobs sind ... Und man weiß, daß 70% der unter 35jährigen Männer im Ghetto Probleme mit der Polizei hatten oder noch haben. Aus all diesen Gründen (und aus anderen) würden nur wenige Unternehmer jemanden einstellen, der aus diesen Stadtvierteln kommt. Sogar dann, wenn sie keine andere Wahl hätten, würden sie es nicht tun, so stark verankert sind die Sicherheitsklischees im Kopf der Unternehmer: das sind schlechte Arbeiters, Nichtstuer, Diebe usw. Unter Berücksichtigung des industriellen Niedergangs der Städte haben diese Jugendlichen keine andere Wahl als mit dem Drogenhandel verbundene Aktivitäten. Das ist ein weltweites Phänomen! Das hat nichts mit Nischenwirtschaft zu tun. In diesen Vierteln der großen Städte ist es ganz einfach eine Lebensweise geworden!
Warum wird der Drogenkleinhandel vor allem von Jugendlichen kontrolliert?
Aus mehreren Gründen. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre hat die Polizei die alten Verteilernetze aufgerollt, die unter der Kontrolle älterer Händler waren. Diese hatten ihre illegalen Aktivitäten klassisch organisiert: sie hatten Routine dabei, einen regulären wirtschaftlichen Ablauf zu managen. Resultat des berühmten Kriegs gegen die Droge: diese Netze wurden zerstört und die Leute landeten im Knast. Dadurch entstand ein Vakuum, das dann Jugendliche aufgefüllt haben. Heutzutage liegt die Kontrolle über die Kleindealerei bei Leuten zwischen 16 und 25 Jahren. Für jemand, der nur die Perspektive auf einen Job zum Mindestlohn hat, stellt sich das als lukrative Tätigkeit dar. Selbst für Leute, die nur subalterne Rollen spielen: den potentiellen Käufer mit dem Verkäufer in Kontakt bringen, Alarm geben, wenn die Polizei aufkreuzt. Alle können einige hundert Dollar in der Woche verdienen. Sicher, mit enormen Risiken, aber mit wenig Anstrengung. Die jungen Dealer oder diejenigen, die weiter oben in der Hierarchie sind, können leicht auf mehrere hundert oder sogar tausend Dollar am Tag kommen. Auf diese Art sind Jugendgangs wohlhabend geworden und geben ihre Einkünfte für überschwenglichen Konsum aus: Schmuck, Autos usw. Das sind diejenigen, die am besten leben im Ghetto.
Eine Studie in der Stadt Washington hat gezeigt, daß mehr als die Hälfte der Heranwachsenden in diesen Stadtvierteln auf die eine oder andere Weise mit dem Drogenhandel zu tun hatte. Ein Großteil hatte einen kleinen Teilzeitjob und die Droge erbrachte die notwendige Aufstockung. Die Studie zeigte auch, daß die Jugendlichen, die eine besser bezahlte Arbeit gefunden hatten, sagen wir für zehn Dollar die Stunde, den Drogenhandel aufgegeben hatten. Denn er ist sehr riskant: die Quote an Arbeitsunfällen liegt bei 80% (...) Da die Gewalt sehr ausgeprägt ist, kann man von einem auf den anderen Moment auf der Strecke bleiben. Es ist eine sehr riskante Tätigkeit. Wenige halten längere Zeit durch. Einigen gelingt es, rechtzeitig abzuspringen, viele landen im Knast, oft mit langen Strafen. Andere werden umgebracht, wieder andere schwer verstümmelt. Verglichen mit einem anderen Job wird man im Drogengeschäft nicht alt.
Im Gegensatz dazu sind die Konsumenten weniger jung. Das ist wieder so ein Feld, wo die Desinformation der Medien durch und durch wirkt. (...) Die Medien sprechen von jungen Drogenabhängigen, die für all die Gewalt verantwortlich wären. Aber die Untersuchungen zeigen, daß heutzutage die junge Generation sehr viel weniger Drogen konsumiert als mit ihnen handelt, daß es einen deutlichen Unterschied gibt zwischen Verkauf und Konsum. Die meisten von denen, die diese Arbeit machen, konsumieren vor allem Marihuana oder Bier. Sehr wenige hängen auf harten Drogen. Das Crack zum Beispiel wird konsumiert von älteren Leuten, die über 25 sind. Die Jungen bauen ihr Verkaufsnetz auf ausgehend von ihren eigenen Familien, den älteren Nachbarn, den nächsten Bekannten. Auf jeden Fall reicht die Nachfrage der armen Gemeinschaft nicht aus, um die Ökonomie der Droge aufrechtzuerhalten. Das Kokain zum Beispiel wird in großen Mengen, und das ist bekannt, vor allem von den weißen Mittelschichten konsumiert. Das Bild des Drogenabhängigen an der Straßenecke im Ghetto ist am leichtesten zu propagieren, weil das sichtbar ist. Aber es ist der Konsum der Mittelschichten in den besseren Vierteln, der in Wirklichkeit die Nachfrage aufrechterhält.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch was zur Entwicklung des Systems der Hauslieferung, den runners, sagen. Du wohnst in einem entlegenen, sauberen Vorort oder in einem schicken Viertel in der Großstadt und du möchtest Koks, ohne im Ghetto herumlatschen zu müssen. Dann schließt du alleine (oder zusammen mit Freunden) einen Vertrag mit einem »runner«, der die Ware auftreibt und nach Hause liefert. Das sind die »neuen Jobs«, die durch diese Tätigkeit geschaffen werden!
Gibt es eine Beziehung zwischen der Rap-Musik und dieser wirtschaftlichen Tätigkeit?
Rap ist ein Reflex der Wirklichkeit, die die Ghettojugend erlebt. Unvermeidlicherweise transportiert er die Werte dieser neuen Unternehmermentalität. Du findest im amerikanischen Rap eine starke Verurteilung der Polizeirepression. Das ist normal, auch in dem Maß, wie die Aktion der Polizei diese illegale kommerzielle Tätigkeit bedroht. Ich finde aber, daß man insgesamt den politischen Inhalt des Rap überbewertet. Zynisch gesagt: Stell dir Al Capone in den 30er Jahren als Rapper vor. Natürlich würde er gegen die Brutalität der Polizei schreien. Aber all das verrät nicht einen Hauch von gesellschaftlichem Bewußtsein. Denn schließlich ziehen sich einige von ihnen auf ihre Weise heraus. Sie »haben Erfolg« nach den herrschenden Kriterien der amerikanischen Gesellschaft: sie haben Geld, die äußeren Zeichen des Reichtums, die Güter, die ihn symbolisieren - Autos, Schmuck -, sie gefallen den Frauen.
Alle kennen Public Enemy, eine Rap-Gruppe, die als sehr politisch angesehen ist. Als die Reform des Sozialstaats angekündigt wurde, hat Bill Stephney, einer der Gründer der Gruppe, einen Artikel geschrieben, der in mehreren bundesweiten Zeitungen veröffentlicht wurde. Darin unterstützte er den Abbau der Sozialhilfe, das sagte er frei heraus. Selbst die Republikaner hätten sich nicht getraut, so weit zu gehen. Dieser Typ erklärte, daß es einen Unterschied zwischen »schwarzem Volk« und »Negern« gäbe: die ersten arbeiteten ehrlich, während die zweiten Nichtstuer seien, die auf den Scheck vom Sozialamt warten. Er stellte die ganzen reaktionären Klischees heraus: »Wenn man nur will, kann man sich selber herausziehen«, »jeder für sich« usw. Steht das im Widerspruch zu den Parolen von Public Enemy gegen die Brutalität der Polizei? Ich glaube nicht! Man findet diesen Geisteszustand in vielen Rap-Texten, welche den kapitalistischen Unternehmer im Innern der Community lobpreisen.
Im Mai 1996 hat dieser Typ einen neuen Angriff gestartet. Als Ehrengast einer Konferenz schwarzer Reaktionäre zeigte er sich empört über das, was der »schwarzen Familie« zustoße und forderte die Rückkehr zu den moralischen Werten, insbesondere zur Institution der Heirat. Ihm zufolge ist der Sozialstaat daran schuld, der den Vater durch den Sozialhilfescheck ersetzt habe. Diese reaktionären Vorschläge sind kein isolierter Fall. Eazy-E, Mitglied der durch den Song »Fuck the Police« berühmt gewordenen Gruppe NWA, war sogar (inzwischen ist er gestorben) öffentlich in die Republikanische Partei eingetreten. Bei vielen Gruppen und auf den Seiten der Fan-zines wird mehr und mehr über moralische Werte geredet - oft in Form einer Rückkehr zur Spiritualität, zur Religion.
Es wäre falsch zu behaupten, der Rap insgesamt sei eine konservative Musik; die Realität ist komplizierter. Aber es wäre genauso falsch, in ihm eine radikale Musikströmung zu sehen und diese Aspekte zu verschweigen. Ich denke dabei insbesondere an die Trotzkisten, die vor einigen Jahren eine Broschüre über »Die revolutionären Wurzeln des Rap« veröffentlicht haben. Heutzutage ist der Rap vor großem Publikum in den Vereinigten Staaten vor allem anderen ein Reflex dieser Kultur des Drogenunternehmers, nicht viel mehr. Er drückt kein tiefergehendes gesellschaftliches Bewußtsein aus. Zum Beispiel hatte die Rap-Musik während des Golfkriegs nichts zu sagen. Vielleicht haben ein paar marginale Gruppen Texte dazu gemacht, aber in den Medien ist nichts davon rübergekommen.
Ich rede nicht von allen Rap-Gruppen. Die neuesten der letzten Generation kenne ich nicht, Wu Tang Gang usw. Die Gruppen, die den Rap aufgebracht haben, wie Run DMC, LL Cool J und andere waren aus den nicht so armen Vierteln gekommen. Das Leben dieser Typen hatte wenig mit dem der Kids zu tun, die ihre Langeweile in baufälligen Gegenden durch die Straßen tragen. Andererseits sind die Hauptkonsumenten der Rapmusik die weißen Kids aus den wohlhabenderen Vororten. Ihre Kaufkraft bringt die Gruppen in die Hitparaden. Auch diese Kids langweilen sich und lehnen ihre gesellschaftliche Herkunft ab. Die amerikanischen Vororte sind finstere und sterile Orte, wo alles kontrolliert und grau ist. Diese Kids identifizieren sich mit dem Rapstil, sie finden darin eine Provokation, einen gewissen rebellischen Geist außerhalb der Norm. Das ist ein Aspekt der Revolte der Heranwachsenden aus der weißen Mittelschicht gegen die Lebensart, die man ihnen vorschlägt.
Der Platz, den der Rap in der Plattenindustrie einnimmt, erklärt sich aus seiner Popularität in der Mittelschicht. Die Soziologen nennen das Phänomen Whigger (Kunstwort aus White und Nigger): die weißen Kids aus der Mittelschicht übernehmen den Lebensstil der Ghettokids. Aber dabei geht es darum, sich so anzuziehen, Verhaltensweisen anzunehmen, und das ist etwas anderes als auf den Ghettostraßen eingesperrt zu leben, sich kontrollieren zu lassen, von den Bullen zusammengeschlagen zu werden. Dennoch wäre es ungenau, überall sehr klare Trennungslinien zu ziehen. Die berühmte Hip-Hop-Kultur ist gesellschaftlich sehr verbreitet. In den Vierteln bestimmer amerikanischer Städte, in New York zum Beispiel, findest du eine richtige multirassische Hip-Hop-Kultur. Aber das sind Ausnahmen. Die Regel ist, daß sich die weißen Kids aus den Vororten des tiefen Amerika mit dem Rap identifizieren. Eine gewissermaßen mythische Identifikation.
Es wird viel vom sexistischen Frauenbild in der Hip-Hop-Kultur geredet. Welche Rolle spielen die Frauen in der Drogenökonomie?
Diese Ökonomie wird von Männern beherrscht. Das Gewalt- und Brutalitätsniveau ist so hoch, daß Frauen praktisch ausgeschlossen werden. Dennoch haben sie gewisse Funktionen inne. Man benutzt sie zum Beispiel als »Maulesel« (schon der Name sagt viel über den Sexismus in diesem Milieu) für den Transport der Ware zwischen den großen Städten, zwischen New York und den anderen Städten an der Ostküste zum Beispiel. Eine junge Schwarze, schick und anständig gekleidet, erregt natürlich weniger Aufmerksamkeit von seiten der Polizei als ein junger Schwarzer. Außerdem spielen die Frauen eine Rolle bei der Geldwäsche. Seit zehn, fünfzehn Jahren haben Dutzende und Aberdutzende Schönheits- und Frisiersalons in den armen Vierteln aufgemacht. Das hat sicher auch was mit Mode zu tun, aber die meisten dieser Lokale sind leer, ohne Kundschaft. ... Das ist vor allem ein Mittel, das verdiente Geld in den legalen Kreislauf zurückzubringen.
Zum Abschluß möchte ich auf die 60er und 70er Jahre zurückkommen. Damals waren die Armut und die Zersetzung der gesellschaftlichen Bindungen nicht so ausgeprägt wie heute. Die Drogenökonomie war begrenzter. Die Polizei konnte Repressionsstrategien aufstellen, versuchen, die Netze zu unterwandern, sie zu manipulieren, zu zerstören und damit zeitweise ein Vakuum zu schaffen. Heute hat die Breite der Drogenökonomie diesen Rahmen gesprengt. Sie befriedigt eine Nachfrage, aber sie sichert das Überleben von breiten Bevölkerungsschichten, die seit 20 Jahren immer ärmer geworden sind.
Es ist heute undenkbar geworden, sich an den Drogenhandel heranzuwagen. Er ist nicht mehr vertikal und hierarchisch organisiert, sondern sehr dezentral und polypenartig. Wenn man einen Zweig abschneidet, wächst ein neuer. Das bringt uns zum Ausgangspunkt zurück. Die Drogenökonomie ist kein Nischengeschäft wie das Glücksspiel, oder nur ein Laster. Sie ist eine Branche der Volkswirtschaft. Die Handelsprofite aus dem Drogengeschäft versorgen die klassischen Bankkreisläufe. Der Luxuskonsum profitiert davon. Die offiziellen Institutionen, die Staaten selbst sind an der Versorgung des Markts beteiligt. Deshalb kann der sogenannte »dreißigjährige Krieg« gegen die Droge für wohlmeinende Liberale als gewaltige Niederlage erscheinen. Man könnte aber auch im Gegenteil denken, daß dieser Krieg ein anderes Ziel hatte: das Ghetto zu kriminalisieren und zu durchmischen. Gerade haben zwei Journalisten ein Buch über die Drogen in den Ghettos von Baltimore veröffentlicht; darin kommen sie zum Schluß: »Krieg oder nicht, jeden Tag sind zwanzig- oder dreißigtausend Drogenabhängige auf den Straßen. Wenn man die zehn oder zwanzig abzieht, die festgenommen werden, dann hat jeder der anderen seine tägliche Dosis. Davon abgesehen ist der Krieg gegen die Droge nichts als ziellose und unnütze Gewalt, eine unproduktive Politik, welche die Okkupation unserer Ghettos durch den Staat mit einschließt, auf die gleiche Art wie sie Belfast, Soweto oder Gaza besetzt haben. (...) Es fing an mit dem Kampf gegen die Droge und endete mit der Unterdrückung derjenigen, die sie konsumieren.« (D. Simon/E. Burns, The Corner, Baltimore 1997)
Kommen wir zur falschen Debatte Legalisierung oder Verbot zurück. Beide Seiten nähern sich dem Problem vom Standpunkt der Verteilung. Wenn man das ganze von einem allgemeineren Standpunkt aus betrachtet, stellen sich andere Fragen. Die Droge macht, wie der Alkohol, das gesellschaftliche Elend sichtbar. Je mehr das Elend zunimmt, die Armut, das Unglück und die Unzufriedenheit mit dem Leben, und je mehr die Leute versuchen, daraus auszubrechen. Auf diese Fragen gibt niemand Antwort.
Stattdessen diskutiert man über Fragen wie die, ob Drogen im Geschäft verkauft werden dürfen oder nicht und ob sie der Staat besteuern soll oder nicht. Alkohol wird seit 50 Jahren frei verkauft. Das hat nicht einen Aspekt der Frage gelöst. Offensichtlich löst das die andere Frage nicht. In dieser Debatte stellt niemand solche Fragen. Vielleicht denken die Teilnehmer der Debatte, daß wir in einer wunderbaren Welt leben und nehmen nicht zur Kenntnis (oder tun so als wüßten sie nicht), daß die Leute zur Droge geflüchtet sind, weil sie ausbrechen wollen, weil es ein Problem mit dieser Gesellschaft gibt. Der Beweis dafür ist, daß viele von denen, die für Straffreiheit plädieren, Apostel der Marktwirtschaft sind. Ich habe einige Konferenzen zu der Frage verfolgt: der vorherrschende Diskurs war der von Milton Friedman und des entfesseltsten Neoliberalismus. Ich habe sogar gehört, das Problem mit der Droge bestehe nur darin, daß der Handel damit nicht frei sei!
Fußnoten:
[1] Street Voice, 101 W, Read St., # 421, Baltimore, MD 21201, USA
[2] Collective Action Notes, P.O. Box 22962, Baltimore, MD 21203, USA