Die neuen Arbeitsverhältnisse
und die Perspektive der Linken
Einleitende Thesen
Das folgende Referat hat Karl Heinz Roth im Januar 1998 auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz der Zeitung »Junge Welt« gehalten.
Wer über neue Arbeitsverhältnisse diskutieren will, sollte aus Gründen der Unterscheidung und der begrifflichen Genauigkeit erst einmal mitteilen, was er/sie unter den alten Arbeitsverhältnissen verstanden wissen möchte.
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Bis gegen Ende der 1970er Jahre waren die Arbeitsverhältnisse im allgemeinen durch doppelt freie Lohnarbeit mit existenzsichernden Einkommen, tarifvertraglich festgelegten Arbeitszeiten (Achtstundentag) und einem garantierten Eigentumsersatz zur Absicherung der individuellen Existenzrisiken gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität und Alter (Sozialversicherung) bestimmt. Als Reproduktionsform war die proletarische Kernfamilie vorherrschend. Sie war durch eine rigide geschlechts- und generationsspezifische Arbeitsteilung zwischen Männern, Frauen, Kindern und Alten geprägt.
Die ökonomische Grundlage dieser Arbeits- und Lebensverhältnisse bildete ein von der Arbeiterbewegung im Verlauf von etwa 60 Jahren erkämpfter Status quo mit den herrschenden Klassen. Der Kapitalismus wurde durch Vollbeschäftigungsgarantien gezügelt. Diese modifizierte Variante des Akkumulationsregimes setzte sich nach dem zweiten Weltkrieg weltweit durch (Keynesianismus im Westen und in den Schwellenländern, Staatskapitalismus im Osten, neokoloniale Entwicklungsdiktaturen in der Peripherie).
Dieser Zustand war aber auch in den vier Ausnahmejahrzehnten des Vollbeschäftigungskapitalismus mehr Modell als Wirklichkeit. Und er hatte extreme Kehrseiten, die es verbieten, etwa unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklungen von einem »goldenen Zeitalter« der Arbeiterklasse zu sprechen. Die Arbeitsqual und der Despotismus der taylorisierten Fabrik waren berüchtigt. Der Alltag war grau und durch eine eintönige Lebensperspektive geprägt, aus der es nach der ersten beruflichen Festlegung meistens kein Entrinnen gab. Die Beziehungen zur Sozialversicherung waren entfremdet: Wer sie in Anspruch nehmen mußte, weil er/sie den Normen der »Leistungsgesellschaft« nicht mehr genügte, wurde oft ausgegrenzt. Zusätzlich prägten sexistische und rassistische Hierarchisierungen den Arbeitsalltag und die Lebensverhältnisse. Vor allem die Frauen, die neben der Lohnarbeit unbezahlte Reproduktionsarbeit leisteten, aber auch die Jugendlichen und die Migrationsarbeiter bekamen sehr wenig von den Segnungen der »Einkommensrevolution« des Vollbeschäftigungskapitalismus zu spüren. Hinzu kam eine neokoloniale Raub- und Entwicklungswirtschaft, die in den Drei Kontinenten das sozialpartnerschaftliche Vollbeschäftigungsmodell Lügen strafte und die kleinbäuerliche Massenbasis der Befreiungsbewegungen im Rahmen einer »Grünen Revolution« angriff. Das alles in allem doch recht zwieschlächtige Akkumulationsregime des Vollbeschäftigungskapitalismus wurde seit den 1960er Jahren durch eine Sozialrevolte weltweit in die Krise gestürzt.
Dadurch wurde das kapitalistische Weltsystem zu einem neuen Entwicklungssprung gezwungen. Es formierte sich zu einem neoliberalen Gegenangriff. Hauptziel war dabei die Umwandlung der bislang »geschützten« Beziehungen zwischen Lohnarbeit und Kapital in »ungeschützte« Arbeitsverhältnisse und die beschleunigte Proletarisierung des kleinbäuerlichen Subsistenzmilieus der Peripherie. Durch die Entfesselung der Teufelsmühlen der Märkte sollten zugleich wesentliche Inhalte der Revolte einem neuen Zyklus der Mehrwertproduktion einverleibt werden.
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Die neuen Arbeitsverhältnisse haben sich in den letzten 25 Jahren in mehreren Etappen durchgesetzt. Die ersten Experimente fanden zu Beginn der 1970er Jahre in einigen Schwellenländern statt (z.B. Triumph der neoliberalen »Chicago Boys« in Chile 1973). Der entscheidende Durchbruch erfolgte um 1980 in England, in den USA und in Italien (Thatcher, Reagan, Niederschlagung der in Italien am weitesten entwickelten neuen Arbeiterbewegung). Den Abschluß bildete 1989/90 der Zusammenbruch des Staatskapitalismus in Ost- und Südosteuropa, wo die Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse explosionsartig verlief und entsprechend dramatische Formen annahm.
Die neuen Arbeitsverhältnisse sind heute weltweit etabliert:
- Die Kleinbauern der drei Kontinente sind weitgehend in landlose ProletarierInnen und HalbpächterInnen umgewandelt.
- In den Schwellenländern hat sich aus den proletarischen Übergangsstrukturen des vorherigen Zyklus eine neue Arbeiterklasse herausgebildet.
- Auch in den Zentren des Weltsystems sind die bisherigen Arbeitsverhältnisse inzwischen weitgehend umgewälzt und den Disziplinierungsfunktionen einer massenhaften Erwerbslosigkeit ausgesetzt.
Dabei kam es zu kontinentalen und internationalen Wanderungsbewegungen, die die alte territoriale Dreiteilung auch der proletarischen Welt trotz aller kontinentalen Abschottungsversuche (Schengener Abkommen, Nafta-Vertrag) zunehmend aufheben. Diese migrationsbedingte Durchmischung des Weltproletariats ist in den etwa 300 neuen Agglomerationszentren besonders ausgeprägt. Denn sie sind letztlich das Ziel der proletarischen Massenwanderungen vom Land in die Stadt, vom Süden in den Norden und vom Osten in den Westen. Ihr Ausmaß und ihre Bedeutung übertreffen inzwischen jene Migrationsbewegungen, die das Proletariat um die Jahrhundertwende neu zusammensetzten und vergrößerten. Aber auch strukturell ist eine zunehmende Homogenisierung festzustellen, weil unbeschadet der oftmals enorm vergrößerten Einkommensunterschiede und der arbeitsmarktpolitischen Segmentierungen weltweit der Trend zur Durchsetzung »ungeschützter« Arbeitsverhältnisse vorherrscht. Die Realeinkommen garantieren immer seltener das soziale Existenzminimum. Die Arbeitszeiten sind nicht mehr begrenzt, sondern oftmals extrem verlängert und auf die gesamte Arbeitswoche ausgedehnt. Die Arbeitsplätze selbst sind nicht mehr vertraglich gesichert und die sozialen Sicherungssysteme weitgehend demontiert. Zusätzlich werden die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern oftmals verschleiert, an die Stelle des frei geschlossenen Lohnvertrags treten neue, weniger eindeutig durchschaubare Abhängigkeiten. Alle diese Veränderungen dienen nur einem einzigen Ziel: der extensiven und intensiven Steigerung der Ausbeutungsraten als Quellen der Abpressung von Mehrwert.
Das Proletariat konstituiert sich somit heute, 150 Jahre nach dem Kommunistischen Manifest, erstmals objektiv weltweit, und 85 Jahre nach Rosa Luxemburgs Akkumulation des Kapitals hat sich der Kapitalismus entgegen ihrer Voraussage auch die nichtkapitalistischen Milieus endgültig einverleibt. Erstmals in der Geschichte stellen die Eigentumslosen, die ihre Arbeitskraft feilhalten und verkaufen müssen, um leben zu können, quantitativ die Mehrheit der Weltbevölkerung. Das Weltproletariat steht einem zum globalen Marktliberalismus zurückgekehrten kapitalistischen System der strategischen Unterbeschäftigung gegenüber. Es ist dabei Reproduktionsbedingungen unterworfen, die die von Marx im Anschluß an das Kommunistische Manifest erarbeiteten Prognosen über die Beziehungen zwischen Kapitalakkumulation, industrieller Reservearmee und Massenverelendung eindrucksvoll bestätigen. Eine gigantische relative Surplusbevölkerung ist wiedererstanden. Das Kapital hat sie weltweit in eine industrielle Reservearmee verwandelt und setzt sie als Hebel zur Senkung der Lohnquoten ein. Während die bisherigen gesamtwirtschaftlichen Regulierungssysteme zerfallen oder privatisiert werden und während die Masseneinkommen sinken, haben die Profitraten im Ergebnis einer weltweiten neoliberalen Wirtschafts- und Staatsintervention das Niveau der besten Jahre des Vollbeschäftigungskapitalismus erreicht.
Gleichwohl verfügt dieses Proletariat hinsichtlich seiner sozialen Zusammensetzung und seiner ökonomischen Verankerung innerhalb des Weltsystems über grundsätzlich neue Eigenschaften, auch wenn es vor allem aus metropolitaner Perspektive in mancher Hinsicht zu älteren Konstitutionsformen zurückzukehren scheint. Es stellt eine neue Qualität dar, die der marxistisch-leninistischen Theorie von der allgemeinen Herausbildung des doppelt freien Lohnarbeiters als Hauptergebnis des kapitalistischen Klassenkonflikts widerspricht.
Die neuen LandarbeiterInnen und Halbpächter der Peripherie reproduzieren sich in familiären Überlebensverbänden, in denen unfreie Arbeitsverhältnisse und Querbeziehungen zu kleingewerblich-kleinhändlerischen Erwerbsquellen eine wichtige Rolle spielen. Auf diese Weise ist aus der bisherigen kleinbäuerlich- nichtkapitalistischen Subsistenzwirtschaft ein neuer Kosmos der proletarisierten Schattenökonomie entstanden, in der zu mehr als zwei Dritteln Frauen und Kinder ausgebeutet werden und in die Mehrwertketten des transnationalen Kapitals einbezogen sind.
Der größte Teil der neuen LohnarbeiterInnen der Semiperipherie verfügt entweder nicht mehr frei über seine Arbeitskraft (weil sie durch Schulden oder paternalistische Betriebsverhältnisse gebunden ist) oder hat kein eindeutiges Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitgeber. Hier ist aus der Schattenökonomie ein neues industrielles Schwitzbudensystem hervorgegangen und über vielfältige Zuliefererbeziehungen mit den Hochtechnologie-Inseln der Weltmarktfabriken verbunden.
In den Metropolen wird das »typische« Arbeitsverhältnis des doppelt freien und sozial gesicherten Lohnarbeiters zunehmend zersetzt und aufgelöst. Das von den bürgerlichen Arbeitsmarktanalytikern als »atypisch« Bezeichnete wird typisch und damit zur Norm. Diese Anpassung an die weltweit ungeschützten Ausbeutungsverhältnisse hat viele Facetten. Reguläre Arbeitsplätze werden in Teilzeitsegmente zerlegt, die Arbeitsverträge befristet. Leiharbeiter- und Tagelöhnerkolonnen zersetzen und dezimieren zusätzlich die bisherigen Stammbelegschaften. Ganze Wirtschaftssektoren sind zur Ausbeutung von unfrei gebundenen Migrationsarbeitern (Saisonarbeiter, Grenzgänger) übergegangen. Immer häufiger werden Arbeitsplätze in die Privathaushalte ausgelagert. Die Lohnverhältnisse werden zunehmend verschleiert und im Rahmen von Werk- und Subunternehmerverträgen mit den Fassaden der selbständigen Arbeit ausgestattet. Selbst die transnationalen Konzerne werden in Netzwerke zerlegt. Ihre Abteilungen werden bis hin zu den Technologieschwerpunkten in scheinselbständige »Profitzentren« aufgespalten oder ausgelagert, um die Beschäftigten von ihren bisherigen tariflichen Sicherungen abzutrennen und den Teufelsmühlen einer entfesselten Arbeitsmarktkonkurrenz zu unterwerfen. Und zunehmend werden diejenigen, die im Verlauf dieser Umschichtungen herausfallen und erwerbslos werden, durch die Demontage der Arbeitslosenversicherungen und Umschulungsprogramme zur Beschäftigungsaufnahme in der expandierenden Schwitzbudensphäre der Niedriglohnsektoren gezwungen, die nun auch die »zweiten Städte« der metropolitanen Wirtschaftszentren prägen.
Die proletarischen Biographien werden zunehmend durch die rasche Aufeinanderfolge dieser neuen Beschäftigungsformen beherrscht, wobei es zwischen Teilzeitarbeit, »geringfügiger Beschäftigung«, scheinselbständiger Werkvertragsarbeit usw. hin und hergeht. Zusätzlich werden diese prekären Arbeitsverhältnisse immer häufiger durch Phasen der Erwerbslosigkeit oder des »Parkens« in öffentlichen Beschäftigungsmaßnahmen, die zunehmend unfreien Charakter haben, überbrückt. Die Grenzen zwischen diesen sozialen Segmenten sind fließend, und auch in den bisherigen Metropolen wird das ständige Pendeln zwischen unterschiedlichen Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitsmärkten zur Alltagserfahrung.
Selbst das Proletariat des Nachzüglers Deutschland ist inzwischen in den Sog der Umwälzungen geraten. Sie begannen Anfang der 1980er Jahre mit der Durchsetzung ungeschützter Arbeitsverhältnisse für westdeutsche Frauen und setzten sich nach dem Untergang der DDR endgültig gesamtgesellschaftlich durch. Von etwa 32 Millionen Lohnabhängigen sind inzwischen sieben Millionen erwerbslos bzw. erwerbslose Arme, zwölf Millionen werden in ungeschützten Arbeitsverhältnissen ausgebeutet (darunter sechs Millionen »geringfügig Beschäftigte«, vier Millionen in Teilzeitarbeit bzw. befristet Beschäftigte, zwei Millionen Scheinselbständige). Dieser Prozeß hat sich vor allem in den vergangenen zwei Jahren enorm beschleunigt.
Somit findet gegenwärtig weltweit ein vielschichtiger Umschlag von der Quantität in eine neue Qualität statt. Dieser Prozeß scheint unumkehrbar geworden zu sein, wenn wir die damit verbundenen Massenwanderungen bedenken und die Beobachtung berücksichtigen, daß überall bis hin zu den metropolitanen Agglomerationszentren Schattenökonomien und Schwitzbudensektoren entstehen, die die Mehrwertketten immer mehr verlängern und über die hierarchisch gestaffelten Zuliefersysteme an die Netzwerkstrukturen der transnationalen Konzerne gebunden sind.
In dieser neuen Qualität artikulieren sich auch bislang unbekannte Erscheinungsformen des kapitalistischen Klassenverhältnisses. Im Kampf um die Ausweitung und Konsolidierung der Ausbeutungsraten hat sich der Kapitalismus die spezifischen Widerstandsformen der vergangenen Klassenkampfperiode angeeignet. Die neuen Arbeitsverhältnisse sind deshalb keineswegs nur die Folge radikalisierter Mehrwertstrategien, sondern gleichzeitig Bewegungsformen von antagonistischen Bedürfnissen (Flucht aus der kleinbäuerlichen Massenarmut, Kampf gegen die taylorisierte Großfabrik, das Bedürfnis nach individueller Zeitsouveränität und selbstverwalteten Kooperationsformen, aber auch veränderte Beziehungen zwischen den Geschlechtern), die sich das Kapital aneignet.
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Was bedeutet das alles für die Perspektive der revolutionären Linken?
Auf der Ebene der Theorie zwingt die Evidenz der neuen Ausbeutungsverhältnisse erstens zu einer Erweiterung des marxistischen Klassenbegriffs. Die neuen Klassenverhältnisse sind nur noch zu einem geringen Teil durch doppelt freie Lohnarbeit geprägt, und nichts spricht mehr dafür, daß sich dieser Zustand noch einmal als allgemeingültiges Lohnarbeitsverhältnis durchsetzen wird. Wir werden deshalb nach neuen Begriffen suchen müssen, um einerseits den sozialen Mischformen und unterschiedlichen Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnissen des neuen Proletariats gerecht zu werden, und um andererseits das neue Proletariat doch präzis von den Arbeitskraft ausbeutenden Schichten abzugrenzen (hier stellen die Mischzonen zwischen der selbständigen Arbeit und den »neuen Selbständigen« der entfesselten mittelständischen Marktökonomie ein besonderes Problem dar).
Um dabei nicht mißverstanden zu werden, wiederhole ich noch einmal: Die Marxsche Analyse der Beziehungen zwischen Akkumulationsregime, industrieller Reservearmee und Massenverelendung ist aktueller denn je und bleibt als konzeptionelle Basis unverzichtbar. Historisch widerlegt sind dagegen die davon abgeleiteten deterministischen Festlegungen, die sich auf die allgemeine Herausbildung des doppelt freien Lohnarbeiters der industriellen Großfabrik bezogen haben. Deshalb sollten wir ausgehend von den skizzierten grundsätzlichen Prämissen andere Pfade einschlagen und eine neue Analyse der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital einfordern, die die Kommunikations- und Lernprozesse des neuen proletarischen Kosmos als einen historisch offenen Prozeß begreift und damit endlich zur Durchsetzung eines herrschaftsfreien Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis - und damit letztlich zwischen revolutionärer Intelligenz und Proletariat - beiträgt.
Zweitens werden wir nicht umhin kommen, den Determinismus zu überwinden, der die bisherige marxistische Geschichte der Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung geprägt hat. Der doppelt freie Lohnarbeiter der Großfabrik stellte für die meisten Strömungen des Marxismus das handelnde Zentrum für den sozialistischen Umsturz dar, und entsprechend war fast die gesamte marxistische Geschichtsschreibung darauf konzentriert. Dieses Segment der Arbeiterklasse ist im neuen Kosmos des Weltproletariats jedoch unwiderruflich zur Minderheit geworden, und es wird noch weiter an Bedeutung verlieren. Für die aktuelle Perspektive der Arbeitergeschichtsschreibung müssen wir deshalb einschneidende Konsequenzen ziehen. Wir sollten uns künftig davor hüten, die bisherige Geschichte des metropolitanen Konstitutionsprozesses der Arbeiterklasse aus einer eurozentristischen Sichtweise auf die aktuellen globalen Entwicklungsprozesse zu übertragen. Denn ihr Ausgang ist prinzipiell offen. Er wird nur von den heutigen AkteurInnen des proletarischen Konstitutionsprozesses bestimmt, und deshalb ist es unwahrscheinlich, daß alles so ausgehen wird, wie es uns die HistorikerInnen der metropolitanen Arbeiterbewegung für die Zeit seit dem 18. Jahrhundert überliefert haben.
Umgekehrt sollten uns aber die aktuellen Entwicklungen auch dazu veranlassen, selbstkritisch auf unsere bisherige Deutung der metropolitanen Klassengeschichte zurückzublicken. War es vielleicht so, daß den realen historischen Prozessen eine Konzeption übergestülpt war, die beim Buhlen um den vermeintlich zentralen Kern der Arbeiterklasse viele proletarisierte Schichten von ihrer »historischen Mission« ausgrenzte? Müssen wir nicht aus der aktuellen globalen Erfahrung eine Menge selbstkritischer Fragen stellen, wenn wir beispielsweise an das marxistisch-leninistische Verdikt gegen das »Lumpenproletariat«, die »Kulaken«, die Bauern-Arbeiter, die selbständigen Kleinhandwerker usw. denken? Hat sich die revolutionäre Arbeiterbewegung nicht vor allem deshalb so fatal gespalten - und ihre Kämpfe bisher immer verloren -, weil sie sich dem Kosmos der proletarischen Konstitutionsprozesse schon immer verweigerte und allzu voreilig auf den Typ des in der Großindustrie verankerten männlichen Arbeiters festgelegt war?
Daraus ergeben sich drittens Konsequenzen für die politische Strategie. Wir sollten die Fixierung auf eine zentrale, führende Schicht des Proletariats und den daraus jeweils abgeleiteten Anspruch auf politische Hegemonie innerhalb der Arbeiterbewegung aufgeben. Nur diejenige strategische Option ist erfolgversprechend, die sich in allen grundsätzlichen Entscheidungen auf den neuen und so ungeheuer differenzierten Kosmos des proletarischen Konstitutionsprozesses festlegt und ihn als antagonistische Ganzheit betrachtet, die aus dem Kapitalverhältnis herausstrebt. Nicht allein die an den Nervenzentren des transnational vernetzten Kapitals angesiedelten Arbeiter-Ingenieure sollten unsere »linken Begierden« wecken, aber auch nicht allein die Proletarierinnen der Schwitzbudenzulieferer und Schattenökonomien oder die selbständigen Arbeiter, sondern sie alle gemeinsam in ihrem elementaren Grundbedürfnis nach sozialer Gleichheit.
Das besagt aber auch, daß wir alles unterlassen sollten, was die Homogenisierung des so vielschichtigen proletarischen Kosmos durch die territoriale Begrenzung unserer strategisch-politischen Entscheidungen verhindern oder verzögern könnte. Die ehrwürdige Parole: ProletarierInnen aller Länder vereinigt euch, gewinnt in unseren Tagen wieder ungeheuer an Bedeutung. Politische Orientierungen auf nationale oder supranationale Bewegungskomponenten sind nicht mehr denkbar. Wenn es auch wahr ist, daß die Nationalstaaten bzw. die aus ihnen gerade hervorgehenden kontinentalen Staatenblöcke ihre Bedeutung als politische Schnittstellen des kapitalistischen Weltsystems behalten, so müssen wir doch mit unseren politischen Prioritäten über sie hinausgreifen. Wir können der Falle der Verteidigung sozialstaatlich verbriefter Reproduktionsgarantien nur entgehen, wenn wir sie in einer neuen offensiven Perspektive aufheben, die sich auf das neue Weltproletariat in seiner Gesamtheit bezieht und einen weltweiten sozialistischen Umsturz zum Ziel hat.
Einen vierten Schwerpunkt strategisch-politischer Festlegung sehe ich im Kampf um die kulturelle Hegemonie, das heißt in der Frage, wie es dem an sich neu konstituierten Proletariat gelingen kann, zu sich selbst zu finden. Wir sollten die Frage aufwerfen, was denn zu tun sei, um die mentalen Blockaden zu überwinden, mit denen das neue Akkumulationsregime das Proletariat weitgehend von der Wahrnehmung der tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse abhält. Vieles spricht dafür, daß es dem Kapitalismus noch nie zuvor gelungen war, so weitgehend in die Köpfe und Mentalitäten der Ausgebeuteten einzudringen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Die Subsumtion der neuen Massenbedürfnisse nach Zeitsouveränität, nach individualisierter Lebensgestaltung und nach einer Emanzipation der Geschlechterbeziehungen durch das Kapital beweist das deutlich. Vor allem in Fällen, wo die gesteigerten Ausbeutungsraten sich nicht mehr in nachprüfbaren Lohnanteilen niederschlagen, sondern sich in individuellen Werk- und Lieferverträgen scheinbar auflösen, nehmen sich die selbständigen ArbeiterInnen nicht mehr als Ausgebeutete wahr, sondern sie sind sich tendenziell selbst ihr »eigener Unternehmer« geworden. Darüber hinaus setzt sich das neoliberale Modell des aktuellen Akkumulationsregimes aber auch allgemein durch, weil die neuen, kapitalistisch subsumierten Kommunikationstechnologien die Sprachstrukturen und Sprechweisen der Gesellschaft immer stärker verändern. Vor diesen linguistischen Eroberungen ist auch das neue Proletariat keineswegs gefeit. Es wird gerade auf diesen Ebenen den Widerstand zu organisieren haben und auch seine eigenen Sprechakte im Prozeß der sozialen Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums revolutionieren. Auch in diesem Kontext ist ein neues strategisches Bündnis zwischen Intelligenz und Proletariat von großer Bedeutung.
Eine weitere Aufgabe sehe ich fünftens darin, daß wir (wieder) lernen sollten, die aktuellen Entwicklungstendenzen des neoliberalen Akkumulationsregimes aus der Perspektive des neuen Weltproletariats zu analysieren. Wir benötigen also eine methodisch-konzeptionelle Neubestimmung der Kritik der politischen Ökonomie. Denn das neue Proletariat ist dem neoliberalen Akkumulationsregime zwar einverleibt, aber es ist zugleich dadurch gekennzeichnet, daß es ständig aus ihm herausstrebt, um sich ihm entgegenzusetzen und schließlich den Bruch mit ihm zu vollziehen. Bis dahin ist es aber ein langer Prozeß, und wir müssen lernen, diesen Prozeßcharakter zwischen Arbeitern und Kapital besser zu begreifen. Wie ist es den verschiedenen Segmenten des Weltproletariats beispielsweise in den vergangenen Jahren gelungen, die Masse des vagabundierenden und anlagesuchenden Kapitals ständig zu vergrößern und somit durch seine Verweigerung eine ständig größere Kluft zwischen Realakkumulation und Geldkapitalakkumulation zustandezubringen, und welche Rückwirkungen hat dies wiederum auf das Phänomen der Unterbeschäftigung? Und wie haben sich beispielsweise die Massenkämpfe des neuen Proletariats in Südostasien auf die aktuelle Krisenentwicklung in den »Tigerstaaten« ausgewirkt?
Damit komme ich sechstens zum Problem der sozialen Utopie. Soziale Utopien sind nützlich, weil sie dazu beitragen, die Massenbedürfnisse auf ein strategisches Ziel jenseits ihrer Ausbeutungserfahrungen zu bündeln. Aber sie können auch in die Irre führen. Ein revolutionärer Nutzen ist deshalb nur dann auszuweisen, solange die sozialen Utopien ihr jenseits der kapitalistischen Wirklichkeit angesiedeltes Zukunftsmodell so definieren, daß es immer mit den aktuellen Zuständen des Klassenkonflikts verbunden bleibt. Es darf sich also nie über das Spannungsfeld zwischen den realen Massenbedürfnissen und den real vorgegebenen Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung durch die Wiederaneignung des durch den Kapitalismus aufgehäuften gesellschaftlichen Reichtums hinausbewegen. Soziale Gleichheit, die Überwindung der Arbeit durch die selbstbestimmte Tätigkeit frei assoziierter Individuen, herrschaftsfreie Beziehungen zwischen den Geschlechtern und den Generationen, die allseitige Entfaltung gesellschaftlicher Subjektivität: das ist die eine Seite. Die andere Seite ist ihre Durchsetzung in einer sozialistischen Weltgesellschaft, die den Kapitalismus mitsamt seinen politischen Herrschaftsschnittstellen, den Staaten und kontinentalen Machtblöcken, beseitigt und auf einer basisdemokratisch begründeten Planungsgrundlage zur ausschließlichen Bedürfnisproduktion übergeht.
Leider fällt das auf dieser Konferenz vorgetragene »Neue Historische Projekt« [1] weit hinter diese Voraussetzungen zurück. Es ist ein von den realen Klassenkampfperspektiven abgetrenntes abstraktes Reißbrettschema, das sich über die Frage, wie denn die ungeheuren Herrschaftspotenzen des neoliberalen Akkumulationsregimes zu überwinden seien, einfach ausschweigt. Aber auch die grundsätzliche Notwendigkeit, durch die Aufhebung des Eigentums den Weg zur Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums freizumachen, bleibt ausgeklammert. Statt dessen wird eine »Äquivalenzökonomie« vorgeschlagen, die den Tausch von Arbeitszeitmengen vorsieht, d.h. auf die Tauschgesellschaft einfacher Warenproduzenten zurückgreift und alle nichtarbeitenden Menschen ausschließt. Derartige Rückgriffe ersetzen den klassenkampforientierten Prozeßcharakter der sozialen Utopie durch abstrakte Modelle, die einerseits der kapitalistischen Arbeits- und Tauschgesellschaft verhaftet bleiben und andererseits angesichts der ungeheuer reich entfalteten Massenbedürfnisse des Weltproletariats in jenes pauperistische Neolithikum zurückfallen, aus dem die kapitalistische Klassengesellschaft in grauer Vorzeit einmal hervorgegangen war.
Ich komme zum Schluß. Wir haben uns lange genug in Wehklagen, aber auch in Festlegungen geübt, die durch die Wucht der historischen Prozesse unwiederbringlich überholt sind. Es wird Zeit, wieder nach vorn zu schauen und die revolutionäre Linke in den neuen Klassenprozessen zu verankern.
Karl Heinz Roth
[1] Auf der Konferenz forderte ein deutsch-mexikanischer Professor namens Heinz Dieterich Steffan zusammen mit Sahra Wagenknecht von der PDS ein »Neues historisches Projekt«. Das besteht vor allem in der Idee einer »Äquivalenzökonomie«, in der gleiche Werte bzw. Arbeitsmengen getauscht werden sollen. U.a. wollen sie supranationale Gremien einrichten, die in einem ersten Schritt die Schrecken der Globalisierung bändigen sollen.