Der Papiertiger und die Plastikdrachen
Die Zerrüttung der Finanzen in Asien und die wirtschaftliche und soziale Krise in China [1]
Charles Reeve
Im September 1997, zwei Monate vor dem Bankenkrach in Ostasien, wurde der XV. Parteitag der KP Chinas abgehalten. Bei dieser Gelegenheit haben sich die verschiedenen Fraktionen der Bürokratie in Bezug auf die Reform der Staatsindustrie auf einen notdürftigen Kompromiß geeinigt. Einmal mehr berücksichtigt dieser Kompromiß sowohl das Kräfteverhältnis im Innern der Bürokratie als auch die Gefahren eines gesellschaftlichen Aufstands.
Seit Mitte der 80er Jahre läßt die notwendige Reform der Staatsindustrie den chinesischen Bürokraten keine Ruhe. Einige Zahlen mögen helfen, die Bedeutung des Problems zu skizzieren. Dieser Sektor umfaßt etwa 120 000 Großunternehmen mit mehr als 100 Millionen ArbeiterInnen, 7 000 Unternehmen werden direkt von der Zentralregierung geleitet; das sind im wesentlichen die Unternehmen des militärindustriellen Komplexes. Der Sektor ist heute zu mehr als 70% defizitär, wobei die Verluste regelmäßig jedes Jahr um 10% steigen. Bis vor kurzem saugten die Staatsbanken das Defizit auf, aber 20 bis 30% der Bankdarlehen bleiben unbezahlt.
Seit einigen Jahren verweigert der Staat diese Art der Finanzierung, die Quelle der Inflation war: Während der Sektor im Jahr 1980 noch 80% der industriellen Aktivitäten umfaßte, sind es im Jahr 1997 nur noch 30%. Diese nach altem sowjetischen Modell organisierten Großunternehmen bieten noch immer den »sozialen« Teil des Lohns: Wohnung, Sozialversicherung, Rente. [2] Es ist also leicht zu verstehen, daß der Abbau dieses Sektors die soziale Frage direkt beeinflußt. Auf längere Sicht beinhaltet er das Ende der alten gesellschaftlichen Stellung der »eisernen Schale Reis« oder des lebenslangen Arbeitsplatzes. Diese Stellung wird heute zuallererst davon bedroht, daß der Staat von seinen finanziellen Verpflichtungen zurücktritt: Die Löhne werden nicht mehr bezahlt, die Renten gekürzt oder gestrichen.
Die sozialen Konsequenzen dieser »Reform« kommen zur Unsicherheit der neuen gesellschaftlichen Stellung der ArbeiterInnen (den sogenannten »porzellanen Reisschüsseln«) dazu, genauso wie zu den massiven Wanderungsbewegungen der »umherschweifenden ProletarierInnen«, den sozialen Ungleichheiten und der ungezügelten Ausbeutung in den ausländischem Unternehmen der Sonderwirtschaftszonen.
In einer ersten Phase hatte die chinesische Bürokratie geglaubt, im staatlichen Sektor westliche Rentabilitätskriterien einführen und den Lohn an die Produktivität koppeln zu können. Eigentümlicherweise läßt es die Ausbeutung der Arbeit unter dem staatskapitalistischen System nicht zu, von der extensiven zur intensiven Ausbeutung überzugehen. Da ein qualitativer Sprung im Prozeß der Verwertung unmöglich war, sah sich die herrschende Klasse gezwungen, nach anderen Lösungen zu suchen. Sie hat das Problem zunächst umgangen, indem sie die Sonderwirtschaftszonen geschaffen hat, wo die Arbeitskraft zum ersten Mal strikt als Ware behandelt wird. Sie ist im folgenden beim Versuch gescheitert, die politische Kontrolle der Gesellschaft nach dem Verschwinden der alten maoistischen Zwänge (»Bewegungen«, Massenorganisationen, Aufmärsche, Versammlungen, Kritik, Selbstkritik usw.) zu modernisieren, ein Verschwinden, das durch den Abbau der kollektivierten Landwirtschaft ausgelöst wurde.
Heute behauptet die Bürokratie, endlich direkt zum Schleifen der staatlichen Industrie in der Lage zu sein. Tatsächlich ist dieser Prozeß aber bereits seit einigen Jahren im Gang. Mit all der Vorsicht, die eine gesellschaftlich instabile Situation verlangt, hatten sich die lokalen Autoritäten an Fusionen, Ausgliederungen und Konkurse herangewagt. Die unabhängig gewordenen Staatsunternehmen mußten sich der Marktkonkurrenz stellen. Mit einem Wort: die herrschende Klasse machte nicht mehr, als den juristischen Rahmen an die neue Situation anzupassen, indem sie zum Beispiel ein Konkursgesetz verabschiedete. Diese Veränderungen finden allerdings statt, ohne daß das staatliche Eigentum wirklich angetastet würde. Insbesondere weist die Bürokratie immer die Idee einer Privatisierung der großindustriellen Staatsunternehmen zurück und zieht es vor, das Schwergewicht auf die Verwandlung dieser Unternehmen in Aktiengesellschaften und die Gründung von Verwaltungsgesellschaften im öffentlichen Besitz [von Staatsangestellten] zu legen. Denn dadurch können sich verschiedene Fraktionen der Bürokratie das Kapital untereinander aufteilen. Auch ArbeiterInnen sehen sich gezwungen, Aktien der Unternehmen zu kaufen - die einzige Möglichkeit für sie, ihren Status als ArbeiterInnen des Staates aufrechtzuerhalten! In Wirklichkeit handelt es sich hierbei um eine staatliche Entnahme aus dem mageren Arbeitereinkommen und um Zwangssparen. [3] Trotz dieser »patriotischen Anstrengungen« soll die Reform der staatlichen Industrie allein im Jahr 1997 zwei Millionen ArbeiterInnen arbeitslos gemacht haben und weitere zehn Millionen sollen ihren Arbeitsplatz in den nächsten drei Jahren verlieren. Die alten garantierten Arbeiter entdecken so die Schrecken der Unsicherheit. Außer der Arbeitslosigkeit gibt es eine Vielzahl von Zwischensituationen, das geht von der weiteren formalen Zugehörigkeit zu einem staatlichen Betrieb, aber ohne Lohnzahlung (man behält aber die sozialen Leistungen) bis zur Umwandlung zu angegliederten Unternehmen, die von Staatsfirmen gegründet werden, sich aber auf dem Markt behaupten müssen. Von A bis Z sind es die Bürokraten, die das Spiel leiten, mit all den Mißbräuchen, die man sich vorstellen kann - Zunahme der Korruption, ungezügelte Bereicherung.
Die herrschende Klasse ist auch nicht gegen Unsicherheiten gefeit: Sie fürchtet das Chaos, weil es eine gesellschaftliche Explosion hervorrufen könnte. Im Verlauf der Debatten des XVten Kongresses, hat Zhu Rongji, der dritte Mann im Staat, in nicht gerade althergebrachter Offenheit erklärt: »Ich fürchte, daß eine hitzige Reform der Staatsunternehmen gesellschaftliche Zusammenbrüche hervorruft, die wir uns kaum vorstellen können.« Tatsächlich brechen seit mehreren Monaten Arbeiterrevolten in mehreren Regionen und Städten gegen die Folgen der Reform aus. Die DemonstrantInnen benutzen oft die Gebäude der Staatspartei als Zielscheibe ihrer Wut, weil sie diese für ihre Situation verantwortlich machen. Im Moment bleiben diese Revolten örtlich begrenzt. Deshalb kann die Zentralmacht je nach Situation mit Zuckerbrot oder Peitsche reagieren: die Banken veranlassen, die notwendigen Summen zur Bezahlung von ausstehenden Löhnen oder Renten freizugeben, oder die bewaffnete Polizei schicken.
Das Durcheinander der Revolten ist so groß, daß sie sogar ihre Sehnsucht nach dem alten »sozialistischen Wohlstand« ausdrücken - eine Situation, die an die Ex-UdSSR erinnert. Darüberhinaus findet solches Bedauern leicht ein Echo in der konservativen Fraktion der Bürokratie, die nicht vom Abbau der Industrie und den Vorteilen des Marktes zu profitieren wußte. Es handelt sich also um Revolten, die wenig Hoffnung auf Emanzipation in sich tragen und keine direkte Verbindung zu den Streiks in den Sonderwirtschaftszonen haben, die sich gegen grausamere Ausbeutung und Unternehmerwillkür richten. Das erklärt auch den Unterschied im Verhalten der alten Massenorganisationen (Gewerkschaften, Frauen-, Jugend- und Rentnerorganisationen): In den Sonderwirtschaftszonen spielen sie die Rolle von Lieferanten und Verwaltern der Arbeitskraft, zusätzlich zu ihrer traditionellen Rolle als Hilfskräfte der Polizei (Spitzel, Streikbrecher usw.); in den Regionen, in denen die Staatsindustrie abgebaut wird, verwandeln sie sich in soziale Hilfseinrichtungen, wo Arbeitslose eine Arbeit finden können, also in Wohltätigkeitsorganismen, welche »die Wärme zu den Armen tragen«. [4]
Hinter der Fassade der Reform zeichnet sich somit die Verwandlung der Bürokratie und ihrer ökonomischen Funktion ab. In den Regionen, wo die Reform am weitesten fortgeschritten ist, werden massenhaft Unternehmen gegründet, die an Staatsunternehmen angeschlossen sind, aber in der Privatsphäre der Wirtschaft tätig sind. Der größte Teil dieser Unternehmen widmet sich dem Handel. Sie sind seit 1985 in Erscheinung getreten, haben sich aber vor allem nach 1992 entwickelt, das heißt nach der Niederschlagung der Tien-an-men-Revolte und der darauf folgenden Repression. Oft beschränken sie sich darauf, den Unterschied zwischen den vom Plan festgelegten Preisen und den Marktpreisen für Güter auszunutzen, die in Staatsunternehmen produziert worden sind. In den meisten Fällen holen diese Firmen aus den Staatsunternehmen die modernsten materiellen oder menschlichen Ressourcen heraus. Auf diese Weise transferieren die Bürokratiemitglieder, die diesen Prozeß kontrollieren, die lebensfähigen Produktionstätigkeiten aus dem »Staatseigentum« in die marktwirtschaftlichen Unternehmen. Im allgemeinen wird erst nach dieser Operation der Bankrott erklärt.
Auch wenn die juristische Eigentumsform staatlich bleibt, findet insgesamt eine Privataneignung von Kapital und Profiten der früheren Staatsbetriebe statt. Diese Aneignung fließt nur selten in eine neue produktive Investition, eine Wiederaufnahme der Produktion auf gesunderen kapitalistischen Grundlagen zurück. Die Bürokraten, die sich diesen Reichtum aneignen, investieren ihn in spekulative Sektoren, entweder innerhalb des Landes (Immobilien, Sex- oder Drogenmarkt) oder außerhalb (asiatische Börsen oder direkt auf dem internationalen Finanzmarkt). Ein kleiner Teil wird in die Sonderwirtschaftszonen reinvestiert, via Hongkong oder über andere Finanzplätze. Wie in Rußland findet eine regelrechte Ausplünderung der Vermögenswerte des alten staatlichen Sektors statt zugunsten derjenigen Sektoren der Bürokratie, die besser an den Markt angepaßt und enger mit dem internationalen Kapitalismus verbunden sind. [5] Alle diese Beobachtungen relativieren in hohem Maße die Vorstellung, dieser Prozeß wäre eine Verwandlung der Bürokratie in eine typische bourgeoise Klasse.
Wenn man weiß, daß das koreanische Bankensystem für die aktuelle Führung der chinesischen Bourgeoisie als Modell galt, versteht man, daß sie von Bestürzung und Unruhe erfaßt wird. Die aktuelle Finanzkrise in Asien wird notwendigerweise Auswirkungen in China haben. Aber diese Krise ist vielleicht vor allem anderen die erste Episode einer noch erschreckenderen Enthüllung.
Die Region, die noch gestern als die dynamischste in der weltweiten Ökonomie dargestellt wurde, befindet sich heute am Rande des Bankrotts. Und verdeckt der so sehr beweihräucherte Erfolg der chinesischen Wirtschaft vielleicht nur eine spekulative Entwicklung, die sich darauf stützt, daß die Business-Bürokraten die während der Epoche des »Realsozialismus« produzierten Reichtümer ausplündern? Die totalitäre Form der politischen Macht im Verbund mit den Interessen des internationalen Kapitalismus würde dabei helfen, die reale Situation, nämlich den unermeßlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch zu verschleiern. [6]
Ein weiteres Mal kommt einem der Vergleich mit der Situation in der Ex-Sowjetunion in den Sinn. Der wesentliche Unterschied bleibt die von der Staatsbürokratie aufrechterhaltene politische Einheit. [7] Aber wie lange noch? Auf kurze Sicht wird der Verlust an Konkurrenzfähigkeit der Exporte die Ökonomie außer Atem bringen, während sich der Rückgang ausländischer Investitionen (aus den Nachbarländern) in die Sonderwirtschaftszonen sogar verschärft. [8] Auf der anderen Seite wird die Rolle des Finanzplatzes Hong Kong als Anziehungspunkt für das von den Bürokraten-Plünderern gehamsterte Spekulationskapital geschwächt. Die Anti-Reform-Tendenzen werden dadurch ebensosehr gestärkt und die Intensität der Kämpfe innerhalb der herrschenden Klasse wird sich womöglich verdoppeln. Wenn darüberhinaus der Sektor der Staatsindustrie einmal zerstört und um seine dynamischsten Kräfte gebracht ist, kann man einer Konfrontation im Innern der neuen herrschenden Klasse der Business-Bürokraten entgegensehen: die nationalistischen Strömungen gegen diejenigen, die an die Interessen des internationalen Spekulationskapitals gebunden sind.
Es sei denn, die bisher sporadische Revolte der ProletarierInnen dehnt sich so weit aus, daß sie das Kräfteverhältnis verändert und Perspektiven gesellschaftlicher Emanzipation eröffnet.
Fußnoten:
[1] Charles Reeve und Hsi Hsuan-wou haben kürzlich veröffentlicht: "Bureaucratie, bagnes et business", L'Insomniaque, Paris 1997. In den frühen 70ern, als viele Linke überzeugte Maoisten waren (vor allem in Frankreich), veröffentlichte Charles Reeve eine berühmt gewordene Kritik am Maoismus. In deutscher Sprache: Charles Reeve, Der Papiertiger - Über die Entwicklung des Kapitalismus in China, Verlag Assoziation, 1975
[2] Ungefähr 30 Prozent der Krankenhäuser und Schulen sind immer noch in der Regie der Staatsbetriebe. S. Roland Lew, "Chinas vorsichtige Privatisierungspolitik", Le Monde Diplomatique, November 1997
[3] Im Jahr 1994 wurden bereits 20 Prozent des Defizits der Staatsunternehmen durch den Rückgriff auf Spareinlagen der Bevölkerung finanziert. S. "Perspectives Chinoises", No. 43, Hongkong, September/Oktober 1997.
[4] Das ist z.B. in Shenyang, dem alten Industriezentrum der Mandschurei der Fall, wo 40-50 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind.
[5] In Rußland überschreitet die jährliche Kapitalflucht die Gesamtsumme der Hilfen, Kredite, Darlehen und ausländischen Investitionen. S. Katrina V. Heuvel und Stephen F. Cohen, "The other Russia", The Nation, New York, 11.8.1997.
[6] Während seiner Pressekonferenz in Paris am 16.1.1998 hat der Dissident Wei Jingsheng, der nach 18 Jahren Knast aus China ausgewiesen worden war, diese Vorstellung vertreten. S. Wei Jingsheng, La cinquième modernisation et autres écrits du printemps de Pékin [Die 5. Modernisierung und andere Schriften aus dem Pekinger Frühling], Gesammelte Texte, aus dem Chinesischen übersetzt und eingeleitet von Huang San und Angel Pino, Paris, Christian Bourgeois éditeur.
[7] Anm. d. Übers.: Mir ist nicht ganz klar, ob Charles Reeve hier die Partei meint, oder die politische Einheit des Landes; ich tendiere zu ersterem: Deng Ziao Ping hat sich der Partei bedient, Jelzin hat sie zerschlagen.
[8] Vor der Finanzkrise und in Bezug auf das erste Halbjahr 1996 waren sie bereits um 50 Prozent gefallen. S. Valérie Brunschwig, "La China s'apprête à réformer d'urgence son système bancaire", Le Monde, 16.12.1997.