Erfahrungen aus Nicaragua
Gegen den Gedächtnisschwund und die Verdrängung der Geschichte
Ich beziehe mich auf zwei Bemerkungen in Charles Reeves Artikel: a. das leninistische Avantgarde-Konzept in Nicaragua sei in einer Katastrophe geendet; b. bis auf wenige Ausnahmen sei die Solidaritätsbewegung eine Erklärung schuldig geblieben, warum und wie aus diesen (ihren) Träumen Alpträume wurden. Da Charles in seinem Artikel diese Thesen nicht genauer ausführt, will ich sie mit einigen Beispielen untermauern, was sicherlich auch deshalb nötig ist, weil vielen heutigen Chiapas-AktivistInnen die Entwicklungen der 80er Jahre in Zentralamerika nicht (mehr) präsent sind; und die damaligen Entwicklungen und Erfahrungen (immerhin fuhren Tausende als BrigadistInnen nach Nicaragua) können durchaus für die aktuelle Diskussion über EZLN/Chiapas wichtig sein.
Ob man Konzept und Praxis der nicaraguanischen Befreiungsbewegung FSLN einfach und 1:1 auf die EZLN übertragen kann, wage ich zu bezweifeln. Schon allein deshalb, weil die FSLN nach einer relativ kurzen »heißen« Aufstandsphase im Sommer 1979 bereits an der (Staats)Macht war, vorangetrieben von einem Volksaufstand, der ihre eigenen längerfristigen Planungen überflüssig machte. Andererseits ist die Behauptung vollkommen übertrieben, in Chiapas würde eine völlig neuartige linke Organisation entstehen. Das war 1979 auch von der FSLN behauptet worden (unter Verweis auf die Beteiligung der Frauen, die internen demokratischen Entscheidungsprozesse, ihren Charakter als politisch-militärische Organisation etc.), nur daß damals die Neuartigkeit der FSLN am Vergleich zu anderen Entwicklungen (z.B. auf Kuba) festgemacht wurde.
Ich will zwei Punkte machen und zwar für die Zeit bis zu den von der FSLN verlorenen Wahlen im Februar 1990:
1. Politik der FSLN im Innern
2. wechselseitiges Verhältnis von FSLN und internationaler Solidaritätsbewegung
Das folgende ist also keine Generaleinschätzung des Sandinismus oder der nicaraguanischen Revolution.
Die Politik der FSLN im Inneren
Wirklich wichtige politische Entscheidungen der FSLN fielen immer in der »dirección nacional«, dem Neuner-Gremium der obersten Comandantes, und wurden nach unten durchgereicht: z.B. Änderung der Politik gegenüber den Indianerorganisationen an der Costa Atlantica, Kehrtwende bei der Agrarreform, Kleinhalten der linken Opposition, Niederschlagung von Streiks, Produktivitätssteigerungen für die Front. Das »Durchreichen« war aufgrund von Kadermangel, Desorganisation und Schlamperei symphatischerweise nicht hundertprozentig und überall gewährleistet, aber die Struktur war eindeutig: »dirección ordene!« (wörtlich: Führung befiehl!) war eben nicht nur leerer Slogan der sandinistischen Jugendorganisation.
Die Bereitschaft, die Position der »Ranghöheren« als richtige anzuerkennen oder aus »übergeordneten« Gesichtspunkten« politisch wichtige Positionen zu relativieren und Entscheidungen zu verschieben, war selbst bei den brisantesten Fragen groß: Die Frauenorganisation AMNLAE strich z.B. ihre Forderung nach freier Abtreibung aus ihrem Programm, nachdem die Männer der »dirección nacional« meinten, man könne sich innenpolitisch nicht noch mehr mit der katholischen Kirche anlegen.
Der »übergeordnete Gesichtspunkt« war der Contrakrieg (was auf Kuba seit dreißig Jahren die Wirtschaftsblockade ist). Mit ihm konnte fast jede kritische Diskussion abgewürgt und fast jedes Problem erklärt werden. Der von USA/Contra brutal geführte »Krieg niedriger Intensität« wurde innerhalb Nicaraguas auch für politische Entscheidungen instrumentalisiert, z.B wurde ein Streik der Bauarbeiter für Lohnerhöhungen vom Frühsommer 1988 sofort zu einer Machenschaft der CIA erklärt, z.B. wurden mehr als einmal auf dem Land Massenverhaftungen wegen angeblicher Contra-Unterstützung durch Campesinos durchgeführt (und die Staatssicherheit lag nicht ganz falsch damit, nur hätte eine Öffentlichkeit darüber mit der Propaganda aufgeräumt, bei der Contra handele es sich lediglich um ausländische Söldner plus ein paar gekaufte nicaraguanische Campesinos).
Politische Fehlentscheidungen wurden nicht »öffentlich« und konkret diskutiert, sondern der Öffentlichkeit wurde die jeweils neue politische Linie vorgestellt, die alte wurde meist mit den Fehlern irgendwelcher anonymer Kader entschuldigt und über Bord geworfen. Ein schönes Beispiel für diesen Mechanismus: Kurz nachdem AktivistInnen von Indianerorganisationen noch wegen staatsfeindlicher Umtriebe verhaftet worden waren, hielt der damalige Innenminister Tomás Borge an der Costa Atlantica eine Rede, mit der er die Bereitschaft der FSLN zu Verhandlungen bekanntgab.
Die politische Kultur der FSLN-Massenversammlungen war auf den ersten Blick beeindruckend, sagte aber über Politisierung und aktive und selbstbewußte Beteiligung wenig aus. Auf diese Weise wurde die FSLN im Wahlkampf 1990 Opfer ihrer eigenen Propaganda, die Massen auf ihrer Seite zu haben.
Verhältnis zwischen FSLN und internationaler Solidaritätsbewegung
Die internationale Solidaritätsbewegung sollte idealtypisch befehlsempfangende Unterorganisation der FSLN im jeweiligen Land sein. Das funktionierte in Italien und Frankreich mit ihren starken KPs recht gut. In der BRD gab es aber mehrere Strömungen, und die stärkste war die »apparatunabhängige«. Versuche der FSLN, dieses Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten (sprich zugunsten von Organisationen wie SPD, DKP, Gewerkschaften und Kirchen) zu kippen, schlugen fehl. Denn es existierte so etwas wie eine Solidaritätsbewegung, die sich auch als eigenständige politische Kraft in der BRD verstand, mit ausgeprägter Gegnerschaft z.B. zur SPD. In der BRD machte diese unabhängige Strömung Politik »gegen den Imperialismus« (wobei es mehrere Male heftige Zusammenstöße mit der FSLN gab, z.B. als Willy Brandt auf der Kundgebung einer Bündnisdemonstration sprechen sollte oder als Wischnewski auf einem Empfang in Managua im Chor als »Schwein von Mogadischu« tituliert wurde). In Nicaragua selbst wurde die FSLN mehr oder weniger eindeutig unterstützt. »Weniger eindeutig« heißt: Die unabhängige Fraktion der Solidaritätsbewegung hat zu manchen Sachen einfach das Maul gehalten oder »intern« Kritik geübt. Dabei blieb umstritten, was »intern« ist, da man ja immer dem Feind in die Hände spielen konnte. Noch 1989 wurde es von der Solidaritätsbewegung teilweise mit Entsetzen aufgenommen, wenn Leute aus den eigenen Reihen die FSLN offen und öffentlich kritisierten. Auch damals wurden Argumente benutzt, die jetzt in der Diskussion über Chiapas auftauchen: Dort ist Krieg, und ihr sitzt hier in der Bequemlichkeit der westeuropäischen Metropole und labert 'rum. Auch von »Einmischung in die inneren Angelegenheiten« der FSLN war schon mal die Rede.
Es gab allerdings einen Punkt, der die bekannten Muster etwas aufgebrochen hat: die Brigaden. Konzipiert als Propagandainstrument gegen den Contra-Krieg (der »ökonomische Nutzen« beim Häuserbau oder in der Kaffee-Ernte war immer umstritten) hatten sie einen unvorhergesehenen Nebeneffekt. Die BrigadistInnen sollten in der BRD von den Greueltaten der Contra und den daraus resultierenden schwierigen Lebensbedingungen der Campesinas berichten. In Nicaragua wurden sie aber vor allem Zeugen der politischen-sozialen Prozesse auf dem Land: wie wurde diskutiert, wie wurden Entscheidungen gefällt, Hierarchien, Verhältnis zu den städtischen Kadern der FSLN etc. Hier wurde der Traum vom neuen Menschen, das romantisierende Gerede von der »breiten Beteiligung des Volkes am revolutionären Prozeß« bei vielen gründlich zerstört. Das hat bei besonders gutgläubigen Menschen zur Abkehr von der Solidaritätsarbeit geführt, bei anderen eher dazu, viel genauer hinzuschauen, was in Nicaragua passierte und welche Strukturen sie unterstützen wollten.
Ein letzter Punkt: Die Wahlniederlage der FSLN im Februar 1990 war ein Schock für die Solidaritätsbewegung. Der von der SPD (!) organisierte Wahlkampf mit dem Hauptslogan »todo será mejor« (»alles wird besser«!) hatte zwar intern Kritik ausgelöst, und die völlige Konzentration auf den Präsidenten und FSLN-Chef Daniel Ortega (der als Macho-Figur »el gallo« zu Pferde in jedes nicaraguanische Dorf einritt und dort die Miss Sandinista wählen ließ...) führte sogar zu öffentlichen Protesten. Aber auch die »unabhängige« Strömung der Solidaritätsbewegung hatte den Wahlkampf der Regierungspartei FSLN unterstützt, da nur dadurch »die Weiterentwicklung der Revolution« unterstützt werden könne. Die Position, »vielleicht würde die Abgabe der Regierungsgewalt zu einer Öffnung der Partei führen und hätte insofern etwas Positives«, bzw. »die FSLN wäre dann nicht mehr damit beschäftigt, Sparprogramme auf Kosten der Arbeiter und Bauern durchzuziehen«, war klar in der Minderheit geblieben.
Nach der Wahlniederlage analysierte die FSLN selbst nach altbekanntem Muster: »Die Kader« hatten den »qualitativen Kontakt« zum Volk verloren (komischerweise hatte niemand vor den Wahlen davon geredet), jetzt gelte es, alle Kräfte darauf zu konzentrieren, die FSLN wieder an die Macht (d.h. an die Regierung) zurückzubringen. Das sei auch Aufgabe der Solidaritätsbewegung, erklärte im März 1990 der Abgesandte der FSLN der verdutzten ersten großen Versammlung Solidaritätsbewegter nach den Wahlen in der BRD. Zu diesem Zweck wolle die FSLN eine Bestandsaufnahme der materiellen und politischen Infrastruktur der Bewegung (Autos z.B.), die in der Zukunft zur Verfügung stehen würde, denn nun brächen in der Opposition harte Zeiten an ... Aus Verärgerung, Höflichkeit und Verblüffung wurde dieser unpolitische Quatsch von der Versammlung mit Schweigen beantwortet, nur ein einziger Genosse aus der Schweiz (Guy presente!) machte Anstalten, eine inhaltliche Diskussion darüber anzufangen, was es denn hieße, »den qualitativen Kontakt zum Volk zu verlieren« - er bekam vom FSLN-Vertreter nichtssagende Antworten.
Um die erwähnten harten Zeiten etwas abzumildern, veranstaltete die FSLN in der Zeit zwischen Wahlen und Regierungsübernahme der Rechtsopposition die inzwischen berühmte »piñata« [1]: Grundstücke, Häuser, Autos, etc. wurden an verdiente Parteimitglieder bzw. von diesen an sich selbst verteilt, damit den »Somozisten« nicht zu viel in die Hände fallen konnte, so die spätere Legitimation. Das Volk wurde weder qualitativ noch quantitativ kontaktiert, es ging leer aus.
Ein früherer Aktivist aus der Zentralamerikasolidarität
Fußnoten:
[1] »piñata«: in Nicaragua ein Spiel, bei dem die Kinder mit verbundenen Augen versuchen, mit einem Stock eine große Puppe zu zerschlagen, aus deren Inneren sich dann Bonbons etc. auf den Boden ergießen: darauf beginnt der Wettkampf um die Süßigkeiten.