Kritik am Manifest gegen die Arbeit
Anfang des Sommers erschien das »Manifest gegen die Arbeit« der Gruppe Krisis. Angesichts des allgegenwärtigen Gejammers nach mehr Arbeit, das immer mehr auch von Linken zu hören ist, ist ein Wiederaufleben der Debatte um den Kampf gegen die Arbeit zu begrüßen. Menschen, die ihre Stimme gegen den alltäglichen Zwang der Arbeit erheben, sind selten geworden. Wohl auch deshalb ist das Manifest viel beachtet und von vielen begeistert aufgenommen worden. Allerorten trifft man auf Leute, die das Manifest gelesen bzw. diskutiert haben.
Im Manifest entwickelt Krisis entlang der These, die Arbeitsgesellschaft sei an ihr Ende gekommen, eine Kritik der Arbeit und ruft zur Bildung eines »Bündnisses gegen die Arbeit« auf, das alle Feinde der Arbeit einen soll. Ein solches »Bündnis gegen die Arbeit« wäre selbstverständlich bitter notwendig - gerade vor dem Hintergrund des wieder drastischer durchgesetzten Zwanges zur Arbeit, sei es im Namen von »New Labour« oder »Neuer Mitte«. In diesem Zusammenhang wendet sich Krisis ausdrücklich gegen jede Vorstellung eines staatlich (oder sonstwie) finanzierten Existenzgeldes, das nur die Fortsetzung der Arbeitsgesellschaft bedeuten kann. All das macht das Manifest sympathisch, und der Umstand, daß sich hier mal wieder jemand traut, ein Zukunftsprogramm zu entwerfen, macht einen guten Teil der Zustimmung aus, die dem Papier gerade von jungen Leuten entgegengebracht wird. Trotz der Zustimmung die wir einem »Manifest gegen die Arbeit« grundsätzlich entgegenbringen, und trotz der richtigen Punkte, die Krisis macht, denken wir, daß das Papier sein Anliegen verfehlt und einer wirksamen und gesellschaftlichen Kritik der Arbeit mehr schadet als nützt.
Kurz zusammengefaßt argumentiert das Manifest folgendermaßen:
- Unsere Gesellschaft wird von der Arbeit beherrscht; die Arbeit ist gewaltsam durchgesetzt worden und völlig vom sonstigen Leben abgetrennt;
- die Entwicklung dieser Gesellschaft ist an ihrer absoluten Schranke angelangt; diese Entwicklung liegt in der Natur des Kapitals begründet und war logisch vorhersehbar;
- die absolute Schranke der kapitalistischen Entwicklung wurde durch die mikroelektronische Revolution erreicht, die die Reichtumsproduktion von der Arbeit entkoppelt hat;
- darauf reagiert das Kapital mit Paranoia, es simuliert die Arbeitsgesellschaft weiter und verwandelt die »Massenintegrationsgesellschaft« in eine Apartheidgesellschaft;
- die Gegner der Arbeit müssen sich zu einem Bündnis gegen die Arbeit zusammenfinden, in »freien Assoziationen« die Mittel zur eigenen Reproduktion an sich reißen, sie in »Räten« verwalten; dazu braucht es die theoretische Kritik der Arbeit, die »geistige Freiräume« schafft, und das Undenkbare denkbar macht; gelingt dies nicht, droht das Ende der Zivilisation.
Diese Argumentationsweise ist nicht neu. Schon seit Jahren schreiben Robert Kurz und seine Genossen in diesem Tenor gegen den gesellschaftlichen Mainstream an. Insofern stellt das Manifest die Quintessenz der Krisis-Theorie der letzten Jahre dar, in popularisierter Form für ein breites Publikum niedergeschrieben. Die Kritik des »Manifestes« soll entlang dieser fünf Punkte geführt werden.
I. Arbeitsgötze oder gesellschaftliches Handeln
»Ein Leichnam beherrscht die Gesellschaft - der Leichnam der Arbeit« [1] - so lauten die ersten Zeilen des Manifestes. In der Folge ist vom »Dienst am Arbeitsgötzen« o.ä.m. zu lesen. Das Bild, das Krisis von der Arbeit malt, gibt der Arbeit eine eigene Subjektivität, sie unterwirft sich die Menschen, die sich ihr trotz allen Widerstandes beugen müssen. Die Arbeit, die sich unserer Gesellschaft bemächtigt hat, wird als »unselbständige, bedingungslose und beziehungslose, roboterhafte Tätigkeit« betrachtet, die vom übrigen sozialen Zusammenhang abgetrennt ist. Die Arbeit, die bei Krisis als die massenhafte Anerkennung einer absurden Idee erscheint, sei mit Gewalt von oben durchgesetzt worden, um dem Geldhunger der absolutistischen Militärmaschinen Genüge zu tun. Das Denken, das sich hier offenbart, ist genau jenes, gegen das Marx in seiner »Deutschen Ideologie« [2] anschreibt. Die gesellschaftliche Entwicklung erscheint bei Krisis wie bei den deutschen Philosophen, mit denen Marx sich auseinandersetzt, als ein Kampf der Ideen, gesellschaftliche Prozesse oder Verhältnisse werden verdinglicht und gewinnen eine eigene Subjektivität.
Krisis betont vollkommen richtig, daß die Durchsetzung der Arbeit als Lohnarbeit weitgehend mit Blut und Eisen bewerkstelligt worden ist. Weil die Bedürfnisse und Hoffnungen der Proleten sich nicht mit immer mehr und immer härterer Arbeit verwirklichen ließen und lassen, gab und gibt es immer wieder offenen und versteckten Widerstand gegen die Arbeit. Deshalb war und ist die Durchsetzung der Arbeit ein umkämpftes Terrain. Aber nicht als Kampf der Ideen. Die von England ausgehende Durchsetzungsgeschichte der Arbeit als Lohnarbeit ist ein nach wie vor rätselhafter Prozeß, der sich losgelöst von den spezifischen englischen Klassenverhältnissen am Ende des Feudalismus nicht verstehen läßt. Krisis meint, von Klassenverhältnissen abstrahierend, die Entwicklung des Kapitalismus aus sich selbst heraus erklären zu können, und muß an dieser Stelle die gewaltsame Durchsetzung einer Idee annehmen - einer Idee, die dazu dienen sollte, die Militärmaschinen der absolutistischen Staaten finanzierbar zu machen. So malt Krisis den Kapitalismus von Anfang an als ein von den Herrschenden aufdiktiertes Zwangsverhältnis, das weder seine Entstehung, seine Entwicklung noch seinen Untergang einem sozialen Kampf verdankt, sondern sich in seiner eigenen Logik bewegt und untergeht, das den Klassenkampf allenfalls als »Austragungsform gegensätzlicher Interessen auf dem gemeinsamen gesellschaftlichen Boden des warenproduzierenden Systems« kennt.
II. Absolute Schranke oder zyklische Krise
Inzwischen ist man zumindest nicht mehr ganz allein mit der Behauptung, es gäbe eine tiefgehende Krise des Kapitals. Auch Krisis behauptet diese heraufkommende und inzwischen manifest gewordene Krise seit Jahren. Aber wie schon bei vergangenen Krisen finden sich immer wieder Leute, die denken, die aktuelle müßte die finale Krise dieser Gesellschaft sein, gemäß seiner eigenen Logik könnte das Kapital die jeweils aktuelle Krise nicht überwinden. Krisis nimmt das für die derzeitig anhaltende Krise an. »... die von der Arbeit beherrschte Gesellschaft erlebt keine vorübergehende Krise, sie stößt an ihre absolute Schranke.« Diese absolute Schranke besteht nach Krisis darin, daß es nicht mehr möglich sein wird, die Arbeitskraft zu verwerten, weil der Rationalisierungsprozeß derart beschleunigt ist, daß die Produktion nicht mehr ausreichend ausgedehnt werden kann, um die freigesetzte Arbeitskraft wieder in die Verwertung zu zwingen.
Die Endlichkeit des Kapitalismus als historisches System zu betonen ist wichtig und gut. In der Debatte um die Krisen des Kapitals waren es immer wieder die Revolutionäre, die die Geschichtlichkeit des Kapitals gegenüber jenen betonten, die sich im Kapitalismus einzurichten versuchten und die danach trachteten, die kapitalistische Gesellschaft zu reformieren und dadurch freundlicher zu gestalten. Die Reformisten fragen sich im Angesicht der kapitalistischen Krise sofort, wie diese denn wohl am besten zu beheben sei. Auch davon hebt sich Krisis positiv ab. Dennoch ist ihre Position problematisch. Weil sie uns nämlich vormacht, der Kapitalismus würde an sich selbst zugrunde gehe, ja wäre eigentlich schon längst 'tot', enthebt sie uns der Notwendigkeit, uns gegen ihn zu erheben. Wenn der Kapitalismus an sich selbst zugrunde geht, ist unser Platz nicht bei denen, die immer noch glauben, gegen ihn kämpfen zu müssen, sondern auf den Bahamas, wo sich prima abwarten läßt.
Unser Ansatz kann es also weder sein, die Krise des Kapitals zu bestreiten, wie es viele (auch Linke) mit Verweis auf die Situation in einzelnen Regionen, etwa den USA, oder auf die immensen Gewinne der Konzerne machen. Denn nicht allein die absoluten Beträge, sondern vor allem die Rate des Profites und mehr noch die Rate der Akkumulation, des Wachstums des Kapitals, sagt etwas über seinen Gesamtzustand aus. Noch ist es richtig, die enorme Anpassungsfähigkeit des Kapitals zu betonen und ihm ewiges Bestehen zu prophezeien, wie es ein großer Teil der reformistischen Linken in diesem Jahrhundert getan hat.
Aber auch den baldigen Zusammenbruch des Kapitals zu beschwören, der aus Gründen der Logik (!) unvermeidbar wäre, wie es Krisis tut, hat nichts mit unseren Vorstellungen über gesellschaftliche Prozesse gemein. Krisis stellt sich damit in die Tradition derer, die schon zu Anfang des Jahrhunderts ausrechneten, wie viele Jahre das kapitalistische System noch bestehen könnte (und die sich, wie wir heute wissen, phänomenal getäuscht haben). Was dem zugrunde liegt, ist eine Vorstellung von Gesellschaft, von Geschichte, die sich hinter den Rücken der Menschen abspielt (und zwar ohne daß sie sie selber machen). Wer das Ende des Kapitalismus aus mathematischen, logischen Kategorien ableitet, vergißt, daß es die Menschen sind, die ihre Geschichte machen, die sich in historisch konkreten Situationen verhalten und entscheiden müssen. Der Kapitalismus entwickelt sich weder als logisches System, noch kennt er Gesetze, die sich nicht aus dem Handeln der Menschen ergeben. Was sich als äußerer Zwang darstellt, was als objektive Gesetzmäßigkeit erscheint, ist der gesellschaftliche Zusammenhang, dessen Bewußtwerdung auch Krisis schmerzlich vermissen. Wenn wir den Kapitalismus abschaffen wollen, müssen wir das selber tun. Aufs Kapital zu hoffen, auf daß es uns von sich selbst befreie, ist kontraproduktiv.
Ob die aktuelle Krise gleichzeitig die letzte Krise des kapitalistischen Systems sein wird, muß sich erst noch zeigen. Die Kriterien die Krisis zur Bewertung heranzieht, sind nicht genügend. Weder sind die Arbeitslosenraten derzeit auf einem Maß, das uns in der Geschichte unbekannt wäre, noch können wir aus dem Verhältnis von »Prozeß-Innovation« und »Produkt-Innovation« [3] das allerletzte Zusammenbrechen der kapitalistischen Verwertungsmaschine ableiten. Tatsächlich ist seit Ende der 60er Jahre ein Stagnieren der Akkumulation des Kapitals zu beobachten. Die leuchtenden Beispiele, die uns von den Priestern des Kapitals immer wieder als richtungsweisend für die kapitalistische Entwicklung angepriesen wurden, die asiatischen Tigerstaaten, sind in den letzten Jahren schmerzhaft auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Auch der Vormarsch des Kapitals in den sogenannten 'Transformationsstaaten' gestaltet sich alles andere als einfach. Der Zusammenbruch der russischen Ökonomie sowie die anhaltenden Kriege, sei es auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion oder in Jugoslawien, sind deutliche Symptome für die Schwierigkeiten, die das Kapital mit der 'Transformation' dieser Länder hat. Ob das Kapital sich aus dieser Krise noch einmal wird befreien können, entscheidet sich daran, ob sich die Bedürfnisse der Menschen noch einmal in Arbeit übersetzen lassen werden. Davon hat auch Krisis eine Ahnung, sie betrachten diese Frage lediglich als bereits ausgemacht. Aber so wie der Boom der Nachkriegsära Kritikern wie Anhängern des Kapitals in den zwanziger Jahren unvorstellbar war, fehlt uns (und nicht nur uns) heute vielleicht nur die Idee, was für das Kapital noch möglich ist. Die Geschichte ist als offener Prozeß zu betrachten, ob und wie es dem Kapital gelingen kann, die Krise zu überwinden, hängt davon ab, ob sich neue Kämpfe gegen die herrschenden Verhältnisse entwickeln oder nicht, und welche Bedürfnisse sich in diesen Kämpfen Bahn brechen.
III. Das Ende der Arbeit
Daß dem Kapital die Tendenz innewohnt, ein gegebenes Maß an Gütern mit immer weniger Arbeit produzierbar zu machen, ist nicht ganz neu [4]. Diese Tendenz ermöglicht gerade das ungeheure Wachstum der Reichtumsproduktion. Krisis macht aus dieser Tendenz einen vollzogenen Prozeß: »...Die Reichtumsproduktion hat sich im Gefolge der mikroelektronischen Revolution immer weiter von der Anwendung menschlicher Arbeitskraft entkoppelt...« Das aber ist grundsätzlich in Frage zu stellen. Generell kann die Reichtumsproduktion im Kapitalismus nicht von der Anwendung menschlicher Arbeitskraft entkoppelt werden, das ist einer der Widersprüche, in denen sich das Kapital bewegen muß: während es fortwährend versucht ist, die menschliche Arbeitskraft aus dem Produktionsprozeß zu entfernen, setzt es die Anwendung derselben zum einzigen Maßstab des Wertes. Genau das ist ja auch der Gedanke von Krisis - weil die kapitalistische Entwicklung diese Entkopplung fabriziert habe, sei sie nun an ihrem logischen wie historischen Ende angelangt.
Aber genau diese Entkopplung ist nicht real. Wo heute kapitalistischer Reichtum produziert wird (was auf gar keinen Fall mit der Produktion nützlicher oder wünschenswerter Dinge zu verwechseln ist), wird menschliche Arbeitskraft in einem Maße angewandt, daß die solcherart Beglückten darunter oft genug zusammenbrechen. Und noch nicht einmal die Mikroelektronik hat die menschenleere Fabrik gebracht. Inwiefern die Mikroelektronik/Computertechnik überhaupt ein Produktivitätswachstum gebracht hat, ist durchaus ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Es gibt Stimmen, die dem widersprechen. Was sich uns heute als »Dienstleistungsgesellschaft« darstellt, ist genau die Umkehrung dieses Prozesses. Wo in der Produktion von Massenprodukten die direkte Anwendung menschlicher Arbeitskraft sinkt, steigt die eingesaugte Arbeitskraft zur Produktion anderer Güter, die ehemals oft nicht-kapitalistisch produziert wurden, an. Das wirkt dem Prozeß der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals entgegen und ist in dieser oder anderer Form schon immer ein Hebel gewesen, freigesetzte Arbeitskraft wieder zu verwerten. Welche Möglichkeiten diese Entwicklung für das Kapital bieten kann, bleibt abzuwarten. Klar scheint indes zu sein, daß die Massenproduktion von Computern und Mobiltelefonen nicht den gleichen Effekt haben kann, wie ihn die Produktion von langlebigen Konsumprodukten, wie Autos oder Haushaltgeräten, nach dem Ende des zweiten Weltkrieges hatte. Ob z.B. die kapitalistische Produktion von Dienstleistungen eine neuen Zyklus der Kapitalakkumulation eröffnen kann, ist nicht ausgemacht.
Obwohl die Reichtumsproduktion im Kapitalismus nicht von der Arbeit entkoppelt werden kann, schafft der Kapitalimus die Möglichkeit, eine Gesellschaft aufzubauen, in der dies möglich ist - nicht dadurch, daß die kapitalistischen Produktionsstätten einfach übernommen werden, sondern dadurch, daß die Gesellschaftlichkeit der Produktion, die der Kapitalismus immer weiter vorantreibt, zum wesentlichen Produktionsfaktor wird. Zu behaupten, daß diese Gesellschaftlichkeit als 'Information' bereits heute zentraler Produktionsfaktor ist, entbehrt zumindest einer genauen Analyse. Zumindest müssten wir doch fragen, welche Information das denn sein soll. Weder existiert im Kapitalismus das Menschheitswissen als eine frei zugängliche Informationsquelle, noch ist das, was da an Informationen um den Erdball rast, in jedem Fall zu sinnvoller Produktion zu brauchen. Die einfache Kopierbarkeit von Information, die eben ein Computerprogramm grundsätzlich von einem Automobil unterscheidet, ist im Falle von 'Information als Produktionsfaktor' für eine vernünftige Gesellschaft oft genug ohne Belang. Oder was nützt die sekundenschnelle Verfügbarkeit der aktuellen Börsenkurse, der bargeldlose Einkauf und ähnlicher Unsinn mehr in einer Welt, in der es keine Aktien und kein Geld geben wird? Der Kapitalismus schafft nicht die Arbeit ab, in dem er die technische Möglichkeit produziert, CDs zu kopieren. Er schafft die Möglichkeit, gesellschaftlich zu produzieren, bewußt und kollektiv - aber es bedarf der Umwälzung der Verhältnisse und die Entscheidung darüber können nur die Produzenten selbst fällen.
IV. Soziale Apartheid oder arbeitsgesellschaftliche Normalität
»Eine auf das irrationale Abstraktum Arbeit zentrierte Gesellschaft entwickelt zwangsläufig die Tendenz zur sozialen Apartheid, wenn der erfolgreiche Verkauf der Ware Arbeitskraft von der Regel zur Ausnahme wird. Alle Fraktionen des parteiübergreifenden Arbeits-Lagers haben diese Logik längst klammheimlich akzeptiert und helfen selber kräftig nach. Sie streiten nicht mehr darüber, ob immer größere Teile der Bevölkerung an den Rand gedrängt und von jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden, sondern nur noch darüber, wie diese Selektion durchgepeitscht werden soll«
Nach Krisis' Auffassung wandelt sich die Gesellschaft von einer 'Massenintegrationsgesellschaft' zu einer Gesellschaft der sozialen Apartheid. Diese 'Apartheid' ergebe sich sowohl aus den neoliberalen Politikansätzen wie auch aus deren Widerpart, der 'neo-sozialstaatlichen' Politik. Während das Resultat des Neoliberalismus die weitere Fragmentierung der Gesellschaft in »Globalisierungsgewinnler« und »Humanmüll« ist, äußert sich die Apartheid der Sozialstaaten als Nationalismus und Rassismus. Beide Feststellungen sind richtig und falsch zugleich. Richtig an ihnen ist die Betonung der Fragmentierung bzw. des rassistischen Charakters der Sozialstaaten. Falsch ist es, diese als neu hinzustellen. Krisis konstruiert sich eine 'Massenintegrationsgesellschaft', von der ausgehend die Tendenz zur sozialen Apartheid betont werden soll. Nur hat diese 'Massenintegration' so nie existiert. Das, was uns nicht nur von Krisis hin und wieder als 'Massenintegration' illustriert wird, also die gesicherte Beschäftigung zu irgendwie auszuhaltenden Bedingungen mit garantiertem Jahresurlaub und sicherer Rente hat immer nur für einen kleinen Teil des Proletariats gegolten. Ausgenommen waren davon seit jeher zu großen Teilen Frauen, Jugendliche und Ausländer. Gerade die Feststellung der verschiedenen Bedingungen unter denen einzelne Segmente des Proletariats leben und arbeiten, brachte die Operaisten der 60er und 70er Jahre dazu, von einer 'Klassenzusammensetzung' zu reden, die es zu analysieren gelte und von der ausgehend sich eine soziale Revolte verstehen lassen müsse. Die Fragmentierung, die Krisis zum Resultat des Neoliberalismus erklärt, ist ebensowenig neu, wie die Feststellung, daß die Konstruktion des Sozialstaates rassistisch wäre. Diese 'Apartheid' ist so alt wie der Kapitalismus selbst.
Die Proletarisierungsprozesse, die sich in den letzten Jahrzehnten in weiten Teilen der Welt abgespielt haben, und die von Krisis als eine Produktion von »Humanmüll« verstanden werden, waren z.B. in Südostasien der Motor für die Entstehung moderner Industriezentren. Die Spaltung in »grinsende Globalisierungsgewinnler« und »Schattenmenschen«, »demokratische Sklaven der Dienstleistungsgesellschaft« existiert nur als die Spannbreite der weltweiten kapitalistischen Produktion. Was bei Krisis als für das Kapital unwesentliche Produktion erscheint, ist in Wahrheit harte Knochenarbeit für Hunderttausende und für das Kapital keineswegs ohne Belang. Während Krisis so tut, als ob in einer Schwitzbude nur deshalb kein Wert geschaffen werde, weil die Produktivität des einzelnen Arbeiters gering ist, ist das Gegenteil der Fall. Das Wachstum von Produktion mit niedrigem Einsatz von konstantem Kapital, also Maschinen und Material, ist nicht einfach nur die Kehrseite der technologischen Entwicklung, ist nicht nur der Versuch, die überflüssig gewordenen Arbeitskräfte irgendwie zu beschäftigen, sondern sie stellt eine Tendenz dar, mit der das Kapital den Prozeß der steigenden organischen Zusammensetzung bremsen oder zeitweise umkehren kann. Hier wird die Produktion erneut an die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft gebunden und damit die Produktion von Mehrwert gesichert.
Die Zwangsarbeitsprogramme, wie sie das 'neo-sozialsstaatliche' Lager fährt, sind für Krisis »Simulation der Arbeitsgesellschaft«: »Der Staat soll doch noch einmal richten, wozu der Markt nicht mehr in der Lage ist. Die vermeintliche arbeitsgesellschaftliche Normalität soll durch 'Beschäftigungsprogramme', kommunale Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger, Standortsubventionen, Verschuldung und andere politische Maßnahmen weitersimuliert werden.« Welche Funktion solche Programme für den ersten, den 'richtigen' Arbeitsmarkt haben, ist im Zirkular bereits beschrieben worden. [5] Neben der Tatsache, daß es bei solchen Programmen darum geht, 'Arbeitslosenkulturen' zu zerstören, und damit auch denen, die arbeiten (müssen), klar zu machen, daß es kein Leben ohne Arbeit gibt, sind diese Programme mittlerweile verstärkt darauf ausgerichtet, Leute in einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Hier wird arbeitsgesellschaftliche Normalität nicht simuliert, sondern praktiziert.
V. Avantgarde oder kommunistische Bewegung
Eine ernsthafte Kritik der Arbeit existiert für Krisis bisher nicht. Und zwar weder als Klassenkampf - »Der soziale Gegensatz von Kapital und Arbeit ist aber bloß der Gegensatz unterschiedlicher (wenn auch unterschiedlich mächtiger) Interessen innerhalb des kapitalistischen Selbstzwecks. Der Klassenkampf war bloß die Austragungsform dieser gegensätzlichen Interessen auf dem gemeinsamen gesellschaftlichen Boden des warenproduzierenden Systems. Er gehörte der inneren Bewegungsdynamik der Kapitalverwertung an.« - noch als subjektive Verweigerung - »Was, wofür und mit welchen Folgen produziert wird, ist dem Verkäufer der Ware Arbeitskraft letzten Endes genauso herzlich egal wie dem Käufer. Die Arbeiter der Atomkraftwerke und der Chemiefabriken protestieren am lautesten, wenn ihre tickenden Zeitbomben entschärft werden sollen. Und die Beschäftigten von Volkswagen, Ford oder Toyota sind die fanatischsten Anhänger des automobilen Selbstmordprogramms. Nicht etwa bloß deswegen, weil sie sich gezwungenermaßen verkaufen müssen, um überhaupt leben zu 'dürfen', sondern weil sie sich tatsächlich mit diesem bornierten Dasein identifizieren.«
Krisis offenbart hier nur, was die Autoren des »Manifestes« selbst für Klassenkampf halten: nämlich die Arbeiterbewegung, sei es als Gewerkschaft, Sozialdemokratie oder kommunistische Partei. In diesem Sinne haben sie natürlich Recht: dieser 'Kampf' war immer nur Teil der inneren Bewegungsdynamik des Kapitals. Er war die erstarrte Form, in der all jene, die sich darin übertrafen, die bürgerliche Gesellschaft besser organisieren zu wollen (von Lenin bis zu Keynes), den untergründigen, subversiven Klassenkampf zu kanalisieren versuchten. Daß dieser 'Kampf' nicht nur angesichts linker Mehrheiten in den Parlamenten in die Krise geraten ist, ist nicht zu bedauern.
Krisis geht im »Manifest« noch hinter Lenin zurück, der dem Proletariat bescheinigte, es könne nur 'trade-unionistisches Bewußtsein' erlangen. Mit Verachtung spricht Krisis von den »Zombies der Warenproduktion«. Obwohl die subversive Macht des Klassenkampfes im »Manifest« bestritten wird, schimmert sie doch immer wieder durch. In ihrer Durchsetzungsgeschichte der Arbeit macht Krisis etwa die Luditenbewegung oder die schlesischen Weber zu leuchtenden Beispielen des Kampfes gegen die Arbeit. Und auch heute noch, stellt Krisis fest, gibt es Widerstand gegen die Arbeit: »Trotz ihrer absoluten Vorherrschaft ist es der Arbeit nie gelungen, den Widerwillen gegen die von ihr gesetzten Zwänge ganz auszulöschen. Neben allen regressiven Fundamentalismen und allem Konkurrenzwahn der sozialen Selektion gibt es auch ein Protest- und Widerstandspotential.« Ihre Ableitung des Staates schließt »Repressionsapparate für den Fall, daß das Menschenmaterial einmal systemwidrig unbotmäßig werden sollte« ausdrücklich ein und erkennt so die potentielle Subversivität dieses »Menschenmaterials« an. Offensichtlich haben die Herrschenden sehr wohl ein Verständnis davon, daß es Widerstände gibt, gegen die der staatliche Repressionsapparat aufzufahren ist. Dieses »massenhaft vorhandene Unbehagen im Kapitalismus« existiert zwar, kommt den Massen aber nicht zu Bewußtsein, meint Krisis. Es ist in den »soziopsychischen Untergrund« gedrängt - ein Fall für den Psychiater?
Das Problem der Bewußtwerdung der Massen löst Krisis klassisch: »Deshalb bedarf es eines neuen geistigen Freiraumes, damit das Undenkbare denkbar gemacht werden kann. Das Weltdeutungsmonopol des Arbeits-Lagers ist aufzubrechen. Der theoretischen Kritik der Arbeit kommt dabei die Rolle des Katalysators zu.« Hier findet sich die leninistische Partei wieder, die den Massen das Bewußtsein bringt, zu dem sie allein nie finden können. Hier finden die Intellektuellen einen Platz, die angesichts fehlender massenhafter praktischer Kritik der Arbeit meinen, es fehle an theoretischer Kritik. Besonders in Zeiten ausbleibender Kämpfe erlangt die Vorstellung Verbreitung, es ginge darum, die richtigen Ideen in die Köpfe zu pflanzen, statt den Kommunismus in der vor unseren Augen ablaufenden Bewegung zu suchen. Die Ursache dafür ist in der Art und Weise zu suchen, wie sich Krisis gesellschaftliche Entwicklungen vorstellt. Das Kapital existiert für Krisis als reines Zwangsverhältnis, das sich nur aus sich selbst heraus entwickelt. Klassenkämpfe gegen das Kapital existieren entweder gar nicht, oder aber sind zumindest so marginal, daß sie nicht weiter ins Gewicht fallen. Das Kapital entwickelt sich nur durch Konkurrenz der Einzelkapitale, die die Mutter des technischen Fortschrittes ist, der letzten Endes die Wertproduktion in den Abgrund gerissen habe. Weil der gesellschaftliche Prozeß für Krisis kein Prozeß gesellschaftlicher Kämpfe ist, weil es nicht die Bedürfnisse der Menschen sind, die die kapitalistische Entwicklung vorwärtstreiben, sondern das Kapital sich an sich selbst entwickelt und in die Krise kommt, deshalb kann Krisis auch in dieser gesellschaftlichen Bewegung keine kommunistische Tendenz sehen, die den derzeitigen Zustand aufhebt. Sie sehen im Elend nur das Elend, ohne die revolutionäre umstürzende Seite darin zu erblicken. Weil ihnen das Subjekt ihrer Hoffnungen abhanden gekommen ist, verleugnen sie es und begeben sich auf die ideelle Ebene, der Erkämpfung »geistiger Freiräume« zur Therapie soziopsychischer Probleme.
Weil Krisis die kommunistische Tendenz in Klassenkämpfen nicht suchen mag, versteigen sie sich zu einem Vorschlag für den Kommunismus: zuerst »Gegenöffentlichkeit«, »soziale Bewegungen« und »Bündnis gegen die Arbeit« dann »Aneignung«, »Räte« und »freie Assoziationen«. Daß Krisis hier das Verhältnis von »Gegenöffentlichkeit« und »sozialer Bewegung« verkehrt herum denkt, ergibt sich nur aus ihrem ganzen idealistischen Gedankengebäude. Sollten nicht gerade die Erfahrungen der letzten 10 Jahre, in denen die radikale Linke 'Gegenöffentlichkeit' schon fast zum Selbstzweck erhoben hatte, lehren, daß in Zeiten fehlender Klassenkämpfe auch eine 'Gegenöffentlichkeit' kaum noch etwas bewegt und schon gar nicht »soziale Bewegungen« initiiert. Aus der kopflastigen Herangehensweise ergibt sich auch, daß sich die Vorstellungen über den Kommunismus lesen wie ein Sammelsurium linksradikaler Ideen der letzten hundert Jahre. Wenn sich die Struktur einer neuen Gesellschaft nicht aus den gesellschaftlichen Bewegungen lesen läßt, bleibt den Theoretikern eben nichts, als das schon Gesagte neu aufzukochen. Zum Trost Karl Marx: »Aber in dem Maße wie die Geschichte voranschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie (die Theoretiker) es nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben nur Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt...« [6]
Aber auch das macht den Erfolg des »Manifestes« aus: diese Art von Meinungsphilosophie läßt alles offen. Jeder kann sich die Ablehnung der Arbeit zu eigen machen, ohne daraus etwas für sein Handeln schlußfolgern zu müssen. Was sich anfangs wie eine Verhöhnung der Managerriege des Kapitals las, bekommt so eine ganz andere Wendung. Deine konkrete materielle Situation hat keinen Einfluß darauf, auf welcher Seite der Barrikade du dich wiederfindest. In bester anarchistischer Manier gelingt es Krisis, die Entscheidung für oder gegen die Arbeit zur individuellen Privatsache zu erklären: »Ausgangspunkt kann kein neues abstrakt-allgemeines Prinzip sein, sondern nur der Ekel vor dem eigenen Dasein als Arbeits- und Konkurrenzsubjekt...« - geradeso als ob es das gleiche wäre, ob sich Jan Phillip Reemtsma gegen die Arbeit entscheidet oder die Belegschaft der örtlichen Chemiefabrik. Da das Kapital die Menschen schon von der Notwendigkeit befreit hat, die Revolution zu machen, können sich der von Krisis formulierten Kritik der Arbeit viele anschließen, von den glücklichen Arbeitslosen, die ihre individuelle Arbeitsverweigerung in den enger werdenden gesellschaftlichen Nischen praktizieren, über die kritischen Gewerkschafter bis hin zum jungen Unternehmer, der seine 'studentischen Hilfskräfte' für 10 Mark schrubben läßt, und der der Arbeit ganz sicher kritisch gegenübersteht. Deshalb ist ein 'Bündnis gegen die Arbeit' das sich hinter dem »Manifest« zusammenfindet, nicht unser 'Bündnis gegen die Arbeit'. Eine Kritik der Arbeit, die sich nicht praktisch verwirklicht, bleibt zahnlos und ohne Belang.
H., Leipzig
»Ein wackrer Mann bildete sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser, weil sie vom Gedanken der Schwere besessen wären. Schlügen sie sich diese Vorstellung aus dem Kopfe, etwa indem sie dieselbe für eine abergläubige, für eine religiöse Vorstellung erklärten, so seien sie über alle Wassersgefahr erhaben. Sein Leben lang bekämpfte er die Illusion der Schwere, von deren schädlichen Folgen jede Statistik ihm neue und zahlreiche Beweise lieferte. Der wackre Mann war der Typus der neuen deutschen revolutionären Philosophen.«
Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie
Fußnoten:
[1] Alle nicht näher bezeichneten Zitate stammen aus: Gruppe Krisis; Manifest gegen die Arbeit; 1999.
[2] Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie; 1845; MEW Bd. 3.
[3] »...Aber erstmals übersteigt das Tempo der Prozeß-Innovation das Tempo der Produkt-Innovation. Erstmals wird mehr Arbeit wegrationalisiert, als durch Ausdehnung der Märkte reabsorbiert werden kann...«; Manifest gegen die Arbeit.
[4] Marx leitet aus diesem Umstand sein »Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate« ab, auf daß sich ein großer Teil marxistischer Krisentheorie stützt. Auch objektivistische Interpretationen dieses marxschen Gedankens sind in der Geschichte nicht selten gewesen. KRISIS stellt in diesem Sinne also nicht originäres vor.
[5] z.B. Stadtluft macht Arbeit - Kommunaler Arbeitszwang als Baustein des Niedriglohnsektors; wildcat-Zirkular 46/47.
[6] Karl Marx; Das Elend der Philosophie; MEW Bd. 4.