Leserbrief zur Beilage im letzten Zirkular
Gedanken zu Gilles Dauvé
»Kommunismus und Kapitalismus«1. Geschichtlicher Determinismus
Dauvé koppelt die Möglichkeit des Kommunismus an ein bestimmtes Entwicklungsniveau der Produktivkräfte, unterhalb dessen sich der Kommunismus nicht verwirklichen läßt. Diese Entwicklung erhält bei ihm eine geschichtliche Notwendigkeit, da er sie zur Voraussetzung des Kommunismus macht. So schleicht sich bei ihm auf einem Umweg das zuvor kritisierte Verständnis von Geschichte wieder ein.
»(...) Aber es ist genauso wie mit der Entstehung des Tausches: der Aufstieg des Kapitals ist kein Resultat einer Entscheidung oder eines Plans, sondern die Folge wirklicher gesellschaftlicher Verhältnisse (....).« (S. 21)
Zunächst spricht auch er davon, daß die Menschen ihre Geschichte selbst machen, wenn auch unter vorgefundenen Umständen. Von diesen vorgefundenen Bedingungen wird das Handeln der Menschen natürlich eingeschränkt, aber eben nicht auf diese beschränkt. Dadurch erhält Geschichte erst ihren prinzipiell offenen Charakter, der auch die Möglichkeit zur Revolution begründet. Deshalb gerät seine Argumentation in einen Zwiespalt: die Menschen machen ihre Geschichte selbst und ohne ein a priori bestimmtes Resultat; dennoch beharrt Dauvé auf der Notwendigkeit einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung, die er von heute aus als solche erkennen kann, in der konkreten historischen Situation allerdings vollkommen offen war. Gerade dies unterstellt aber die Sicht Dauvés: was geschehen ist, war das einzig mögliche. So verklärt Dauvé die kapitalistische Entwicklung zur notwendigen Vorgeschichte.
2. Produktivkräfte, technischer Fortschritt
Im Kontext der potentiellen Abschaffung von Arbeit im Zuge der enormen gesellschaftlichen Produktivitätsteigerung besitzen seine Überlegungen, die er in »Leninismus und Linkskommunismus« anstellt, eine andere Qualität. Dort bezieht er sich stark auf das »Fragment über die Maschinen« in den Grundrissen. Dies sind jedoch zwei völlig voneinander getrennte Gedankengänge. Es ist ein Unterschied, ob man die Möglichkeiten kennzeichnet, die das jetzige Niveau der Produktivkräfte eröffnen, oder ob man einen Determinismus ableitet und sagt, es hat so kommen müssen, damit wir überhaupt über Kommunimus reden können.
Der dem Kapitalverhältnis innewohnende Widerspruch, »daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren sucht, während es andererseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt« (Grundrisse, S. 593), reduziert die notwendige Arbeitszeit auf ein Minimum und setzt gleichzeitig ein Übermaß an disponibler Zeit frei. Was dies für das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit in einer komminstischen Gesellschaft bedeuten würde, liegt auf der Hand.
Diese richtigen und wichtigen Überlegungen über das Verhältnis von Zeit, materieller Reproduktion und Selbsttätigkeit im Kommunismus rechtfertigen jedoch nicht die Apologetik der kapitalistischen Entwicklung, wie sie Dauvé betreibt. Er mißt die technischen Möglichkeiten stets im Verhältnis zu dem, was er unter Kommunismus versteht und welche Möglichkeiten sie in einer kommunistischen Gesellschaft schaffen würden. Die Gewaltförmigkeit des technologischen Wandels und die stattfindende Enteignung der Subjekte interessieren ihn nicht. Seine Äußerungen erinnern eher an Lenin. [1] Gerade deshalb ist eine Kritik der Behauptung von Notwendigkeit auch so wichtig. Schließlich ist dieser Terminus in der marxistischen Theorie kein unbeschriebenes Blatt. Die nachholende Industrialisierung Rußlands und die Niederschlagung der Bauern- und Arbeiterrevolten wurde von Lenin mit einer geschichtlichen Notwendigkeit begründet. Den »Überbau« lieferte dazu ein zum wissenschaftlichen Dogma verdinglichter Marxismus, der jedes kritischen Gehaltes beraubt wurde und zur exakten Vorhersage der geschichtlichen Entwicklung stillgelegt wurde.
Noch in der avanciertesten Form der Kritik am traditionellen Marxismus existiert eine Gemeinsamkeit mit der Marxorthodoxie. Eine Kritik der kapitalistischen Technologie scheint mir da angesagter als das Fabulieren von produktiver Vergesellschaftung durch das Kapital. Der Mythos der Neutralität der Produktivkräfte feiert auf dem Grab einer »Ideologie namens Marxismus« (aus dem Vorwort) seine fröhliche Auferstehung. Dies sind theoretische Kapitulationen, von einem, der es eigentlich besser wissen müßte. Dauvés Ausschweifungen haben aber leider System. Unschwer läßt sich die zugrunde liegende Geschichtsphilosophie erkennen.
3. Die Vernunft des Kapitals
»Kommunismus bedeutet das Ende einer Reihe von Vermittlungen, die vorher notwendig waren (trotz des Elends, das sie mit sich sich brachten), um genug tote Arbeit zu akkumulieren, um die Menschen zu befähigen, ohne diese Vermittler zu handeln.« (S. 32)
So wie Marx fest davon überzeugt war, daß die fortschreitende Verelendung auf der einen Seite und die zunehmende Organisierung, Schulung und Kampfstärke der Arbeiterklasse auf der anderen notwendig zu einer Revolution führen würde, so reproduziert auch Dauvé eine klassisch idealistische Vorstellung von Geschichte. Demnach bewegt sich diese auf ein im voraus bestimmtes Ziel hin. Ausgangspunkt ist die erste Natur - bei Dauvé die ursprüngliche Gemeinschaft. Von hier aus entwickelt sich Geschichte in einem ständigen, widersprüchlichen Voranschreiten, mit dem stets eine vernünftigere Einrichtung von Gesellschaft verbunden ist, aber auch der gesellschaftliche Antagonismus auf eine neue Stufe transformiert wird. Dieser lineare Prozeß ist jetzt am Ende. Der Kapitalismus dümpelt vor sich hin. Die fortschrittliche Rolle, die Dauvé ihm beimißt, ist nun einer rein parasitären Phase gewichen. Die Bedingungen für den Kommunismus sind vorhanden, dessen Verwirklichung stellt nur noch eine Zeitfrage dar. Die Entwicklung der Produktivkräfte haben die Möglichkeit einer wirklich vernünftigen Gesellschaft geschaffen, das Bewußtsein und Handeln der Subjekte muß nur noch nachziehen. [2]
Mit dem gleichen naturgesetzlichen Gang der Dinge geht die kommunistische Bewegung einher. Seiner Ansicht nach zwingen die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft - Tausch und Lohnarbeit - einen großen Teil der Welt geradezu förmlich, gegen den Kapitalismus zu revoltieren und den Kommunismus zu verwirklichen (S. 16). Die Motivation zur Revolte erhält bei ihm einen objektivierten, von den realen Subjekten unabhängigen Charakter. Subjektivität wird hier zu einem bloßen Spiegelbild des Zwangs der kapitalistischen Verhältnisse. Ich halte dies für eine Enteignung dessen, was Menschen wirklich zur Revolte antreibt. Den Zwang der Verhältnisse zu betonen, ist eine Sache. Diesen Zwang aber auch real zu erfahren und gegen ihn zu kämpfen eine andere.
Ich denke, der Fehler Dauvés ist, daß er die der kapitalistischen Entwicklung innewohnende Dialektik in seinem Text auseinanderreißt. Auf die Frage nach den realen Mystifizierungen der kapitalistischen Vergesellschaftung geht er nicht ein, obwohl er immer wieder die verschiedenen Formen des Kapitals als Ausdruck sozialer Verhältnisse betont. Diesem Problem entledigt er sich mit dem banalen Verweis, daß weil die Proletarierinnen die Verhältnisse produzieren, sie sie auch abschaffen können. Er stellt ständig die »vernünftige« Seite des Kapitals heraus, die in den Verhältnissen schlummernde Barbarei und Brutalität verschwindet hinter diesem Blickwinkel fast vollständig und wird von einem rührenden Geschichtsoptimismus kaschiert.
Der einzige Standpunkt, der eine derartig gestrickte Auffassung vertreten könnte, wäre der des realen Kommunismus. Dann hätte diese Entwicklung einen Sinn gehabt bzw., es fiele leichter, einen Sinn zu entdecken. Erst dann ließe sich von einer historischen Mission des Kapitals reden, wie dies Marx im Kommunistischen Manifest tut. So aber rechtfertigt Dauvé Millionen von Opfern, die in der langen und blutigen Geschichte des Kapitalismus auf seinen Altaren geschlachtet wurden und gibt ihnen auch noch einen Sinn. Spinnt man diese Denkfigur weiter, landet man bei utilitaristischen Konzepten, also in einer Ecke, in die Dauvé garantiert nicht hineinwollte. Hier wird klassisch geholzt: der Zweck heiligt die Mittel. Der Kommunismus, das Ziel der langen Etappe der Menschheitsgeschichte,verlangt seine Opfer. Unter das Allgemeine wird jedes besondere Moment subsumiert und verkommt lediglich zu kleinen Fußnoten der Geschichte. Gegen Dauvés Vorstellung ist das unbedingte Beharren auf einer negativen Dialektik zu setzen, die die Möglichkeit und vor allem die Notwendigkeit des Kommunismus nicht liquidiert, sich jedoch konsequent gegen eine geschichtliche Notwendigkeit im positiven wie im negativen Sinne stellt (also auch kein »Grand Hotel Abgrund« der Herren Horkheimer/Adorno).
4. Gemeinschaft - Volksgemeinschaft
Gerade weil er einem spezifischen Verständnis von Geschichte anhängt, kann er dem Nationalsozialismus und der Vernichtung der europäischen Juden keinerlei besondere Bedeutung beimessen, sondern ihn in einem allgemein notwendigen Elend untergehen lassen. Eine Konfrontation mit dem einmaligen Geschichtsverbrechen Auschwitz und mit der diesem zugrundeliegenden gesellschaftlichen Dynamik würde nämlich zentrale Momente von Dauvés Text in Frage stellen. Auschwitz ist das Ende einer Geschichtsauffassung, wie sie Dauvé vertritt. Wenn man wie er davon ausgeht, daß mit der Entwicklung von Gesellschaft auch die Verhältnisse und damit auch die Menschen vernünftiger werden, so beweist der Nationalsozialismus das absolute Gegenteil. Statt der Aufhebung des Kapitalismus und der kommunistischen Revolution (von der man in den 20ern und 30er Jahren noch felsenfest überzeugt war), versank die bürgerliche Gesellschaft in der absoluten Barbarei. Der Prozeß der Vergemeinschaftung, den Dauvé als Inhalt der kommunistischen Bewegung faßt, wurde im Nationalsozialismus durch den Antisemitismus negativ aufgehoben. In der Vernichtung des im »Juden« personifizierten Übels, der für die abstrakten Seiten des Kapitalismus steht: für den Markt, die Börse, aber auch für die Gefahr der kommunistischen Revolution, materialisierte sich die Gemeinschaft der werteschaffenden, nur noch hart für den Gemeinnutz arbeitenden Volksgenossen. Die konkrete Arbeit wurde dabei zur vollkommenen Positivfolie, die endgültig von der Tyrannei des Abstrakten befreit werden sollte. Der NS hatte seinen Ursprung im krisenhaften Kapitalismus, dessen Kriterien von Rationalität und Effizienz er zugleich ad absurdum führte. Für die Juden gab es kein Entrinnen aus der Vernichtungsmaschinerie, mochten sie sich auch noch so produktiv verhalten.
Die Möglichkeit des Umschlags des Kapitalismus im Medium der Krise in eine Volksgemeinschaft oder in andere identitäre Wahnkollektive reflektiert Dauvé überhaupt nicht. [3] Für ihn ist die Revolte, die gegen den Kapitalismus entsteht, automatisch eine fortschrittliche.
5. Kommunismus
»Der Kommunismus ist kein Programm, das man in die Praxis umsetzt oder andere dazu bringt, es in die Praxis umzusetzen, sondern eine gesellschaftliche Bewegung.« (S. 14)
Gesellschaftliche Bewegungen drücken immer konkrete Bedürfnisse aus, die zur Revolte oder Revolution antreiben und die Unerträglichkeit der bestehenden Verhältnisse ausdrücken. Warum verallgemeinert Dauvé seine eigene Aussage nicht, sondern bindet dieses Bedürfnis nach Kommunismus an die Entwicklung der Produktivkräfte? Ist der Kommunismus gar ein Privileg des 20. oder 21. Jahrhunderts? Ich finde, dies transportiert eine gewaltige Ladung an Zynismus gegenüber den »lost causes« der Geschichte, der dem Gehalt dieser Klassenkämpfe in keinster Weise gerecht wird. Fortschrittsparadigmen wie diese gehören auf den Schutthaufen der Geschichte, reflektieren sie doch einen 'Gründungsfehler' des Marxismus. Marx' Kritik der politischen Ökonomie zielt schon von Anfang an auf eine bestimmte Entwicklung ab und nimmt vorweg, was erst Resultat eines blutigen und widersprüchlichen Prozesses von Kämpfen und deren Niederlagen ist. Die Integration der Arbeiterklasse in das Kapital, die Zerstörung aller vorkapitalistischen Formen von Subsistenz und Reproduktion sind schon vorausgesetzt. Auch unter Arbeiterklase versteht er in erster Linie die Klasse der Industriearbeiter. Er tut dies zu einer Zeit, da die reelle Subsumtion der Arbeit unter den Produktionsprozeß noch Zukunftsmusik ist, und in Deutschland die Industrialisierung erst den doppelt freien Lohnarbeiter schafft und den Zwang zur Arbeit verallgemeinert. Marx' Vorstellung einer sozialen Revolution ist untrennbar mit dem enstehenden Industrieproletariat verbunden. Ein Außerhalb des Kapitalverhältnisses existiert für ihn nicht mehr. Mittels dieser Verknüpfung wird die Revolution an einen bestimmten geschichtlichen Verlauf gebunden, der zur Notwendigkeit erhoben wird. [4]
Die soziale Revolution ist immer möglich oder sie ist es nie. Die Vorstellungen von Kommunismus sind jedoch immer an die konkrete historische Situation gebunden. Kommunismus im Jahre 1790 hätte nichts mit dem zu tun gehabt, was wir uns heute unter Kommunismus vorstellen. Was wir uns unter Kommunismus vorstellen, ist umgekehrt nicht in die Vergangenheit zurückprojezierbar. Aber als »kategorischer Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes und ein verächtliches Wesen ist« (Marx), ist er zeitlos.
T. / Freiburg
Fußnoten:
[1] »Staaten und Nationen waren notwendige Instrumente für die Entwicklung, nun sind sie rein reaktionäre Organisationen (...)«; oder: »Der Gegensatz zwischen Hand- und Kopfarbeit, zwischen Kultur und Natur hatte einen Sinn. Die Trennung zwischen einem, der arbeitete, und einem der die Arbeit organisierte, steigerte die Effizienz der Arbeit.« Um nicht mißverstanden zu werden: Dauvé ist bei weitem kein Leninist. Mir geht es nur um eine tendenzielle Ähnlichkeit an gewissen Punkten, die sofort ins Auge springen.
[2] Mich erinnert diese Rhetorik des »nur noch« oder »noch nicht« stark an Theoretiker der Gegenwart, an den »Kommunismus der Sachen« (Robert Kurz) oder die sich fröhlich selbstverwertenden immatriellen ArbeiterInnen von »wir leben schon im Kommunismus« Toni Negris. Mit dem Unterschied, daß Dauvé zeitlich um einiges voraus ist und auch sonst nicht viel mit einem Robert Kurz gemeinsam hat.
[3] Daß dies eine ganz realistische Option ist, zeigen die ethnischen Gemetzel z.B. in Ex-Jugoslawien oder in diversen Ländern Afrikas doch nur zu deutlich.
[4] Siehe dazu Ahlrich Meyer: Massenarmut und Existenzrecht, in Autonomie / Neue Folge Nr. 14.