Wildcat-Zirkular Nr. 55 - März 2000 - S. 85-87 [z55kosov.htm]


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Zirkular: [Nr. 55] [Ausgaben] [Artikel]

Ankündigung:

Hefte der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration

Gegen die Festung Europa, Heft 7:

Helmut Dietrich, Harald Glöde

Kosovo - der Krieg gegen die Flüchtlinge

15 DM, ca. 150 Seiten, Verlag der Buchläden,
Berlin, Göttingen, Hamburg, ISBN Nr. 3922611796
Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM)
Gneisenaustr. 2 a
10961 Berlin
Tel. +49-30-69 35 670
Fax: +49-30-695 086 42/43
e-mail: ffm@ipn.de
web: www.berlinet.de/mh/ffm
www.freilassung.de

Zum ersten Mal setzte die Europäische Union während des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien und um den Kosovo eine Flüchtlingspolitik durch, an der die verschiedenen Schengener und andere Gremien gearbeitet hatten: Flüchtlingsbewegungen sollten »regionalisiert«, d.h. bereits in der Herkunftsregion aufgehalten werden. Die kriegführende NATO errichtete nahe am Kriegsgeschehen stacheldrahtumzäunte Lager und machte mit vereinter NGO-Hilfe aus Flüchtlingen »Heimatvertriebene«.

In dem Heft wird die Lagerpolitik während des Krieges in den Zusammenhang der EU-Politik gegenüber Südosteuropa gestellt. Die Verwaltung der displaced persons wird zum wichtigsten Baustein des entstehenden Protektorats auf dem Balkan. Strategie- und Konzeptpapiere zum neuen Hinterhof Westeuropas werden in dem Heft kurz vorgestellt.

Aus dem Vorwort:

In den fünf Jahren ihrer Existenz hat die FFM in den vorausgehenden Publikationen und auf zahlreichen Veranstaltungen immer wieder auf die Folgen der flüchtlingsfeindlichen Abschottung an der Ostgrenze der Festung Europa und in deren Vorfeld aufmerksam gemacht. Als rassistische Ausgrenzung im europäischen und im globalen Maßstab hat sich diese Abschottung unterdessen zu einem komplexen System der Flüchtlingsabwehr und Migrationsverhinderung fortentwickelt. Grenzzäune und Mauerwerke haben in diesem System nicht mehr die gleiche Bedeutung wie noch vor wenigen Jahren. Uns ging es bei unserer Arbeit darum, dieses System und das viele Politikbereiche überspannende Konzept, das dahintersteckt, erkennbar zu machen.

Als die NATO den Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien und im Kosovo begann, haben wir uns sofort die Frage gestellt, welchen Anteil die flüchtlings- und bevölkerungspolitischen Motive an der Kriegführung beider Seiten hätten. Aus der Entwicklung der deutschen, der Schengener und der EU-Flüchtlingspolitik und insbesondere durch die Analyse des Strategiepapiers der österreichischen EU-Präsidentschaft vom 1. Juli 1998 wurde uns rasch klar, wie die Kriegführung selbst, die Lagerpolitik der NATO, das Abschneiden der Fluchtwege nach Westeuropa und die Aushungerung geduldeter Flüchtlinge miteinander in Verbindung zu bringen waren. So ist noch während der ersten Kriegshälfte, als die Kriegsparteien die militärische Eskalation von Tag zu Tag weiter vorantrieben, der Text »Flüchtlingspolitik im Krieg« entstanden. Er ist zum Teil von Mutmaßungen gekennzeichnet - im Kosovo gab es überhaupt keine JournalistInnen mehr, und der weitere Kriegsverlauf war nicht abzusehen - , aber er stellt auch einen Versuch dar, trotz dieses Wissenskollapses der Diskussion gegen den Krieg argumentativ auf die Beine zu helfen. Eine nachträgliche Glättung des Textes aus der Perspektive ex post - nachher ist man immer schlauer - schien uns nicht angeraten. Wir sollten uns darauf einstellen, bei künftigen Kriegen und Flüchtlingsdramen unter ähnlich prekären Bedingungen diskutieren, schreiben und handeln zu müssen. (...)

Auch mit dem Einsatz einer gewaltigen Kriegsmaschinerie soll künftig der Aufbruch von Menschen aus Kriegs-, Bürgerkriegs-, Krisen- und Elendsgebieten verhindert werden. Es geht um die »Regionalisierung« von Fluchtbewegungen - wir erinnern uns an die fast panisch beschworene »heimatnahe« Unterbringung der Flüchtlinge, die von Regierung und die Medien seit Kriegsbeginn »Heimatvertriebene« genannt wurden.

Die inszenierte Hilfsbereitschaft bei der Aufnahme eines kleinen Kontingentes kosovo-albanischer Kriegsflüchtlinge diente eher der Förderung der Akzeptanz der Bombardierungen, als dass sie im Widerspruch zur »heimatnahen« Unterbringung der Flüchtlinge gestanden hätte. Zudem setzte vor allem die deutsche Regierung damit erstmals eine zwischen den Staaten des Westens ausgehandelte so genannte Lastenteilung durch. Die Aufnahme von Flüchtlingen stellten die Regierungen nicht mehr als Erfüllung berechtigter Ansprüche von Geflohenen, sondern als staatlichen Gnadenakt vor.

So wurde der NATO-Krieg zur zweiten Zäsur der deutsch-europäischen Flüchtlingspolitik nach der Grundgesetzänderung von 1993. Fünfzig Jahre lang war das Prinzip, dass Flüchtlinge nicht zu Verschiebemassen zwischen kriegführenden Parteien werden dürfen, in Europa im Großen und Ganzen unangefochten. Seit dem Kriegsgeschehen in und um den Kosovo scheint es so, als habe dieses Prinzip nie existiert. Die NATO-Militärs haben die »heimatnahe Unterbringung«, wie es die sozialdemokratisch-grünen Politiker der deutschen Regierung und der EU-Gremien nennen, durch die Internierung der Flüchtlinge in unmittelbarer Nähe des Kriegsgeschehens durchgesetzt und durch die Zuarbeit zahlloser Nichtregierungsorganisationen abgesichert.

Viele NGOs sind in der Folge des Kriegs auf eine offiziöse Sichtweise der neuen europäischen Flüchtlingspolitik eingeschwenkt. Über eine gemeinsame Entwicklungspolitik, wirtschaftliche Assoziationsabkommen, kulturelle Zusammenarbeit und Strukturanpassungsprogramme sollen möglichst alle staatlichen und nichtstaatlichen Akteure des Westens über die Flüchtlingspolitik zueinandergebracht werden, wie der EU-Gipfel zur Flüchtlingspolitik in Tampere im Oktober 1999 demonstrierte. Sechs flüchtlingsfeindliche Aktionspläne gegen ausgesuchte Herkunftsländer (Irak, Albanien/Kosovo, Afghanistan, Somalia, Sri Lanka und Marokko) von Flüchtlingen wurden in Tampere verabschiedet.

Die Ergebnisse des EU-Gipfels sowie die aktuell von Innenminister Schily inszenierte Debatte über das Asylrecht sind als Fortsetzung der im Krieg forcierten Politik zu kritisieren und zu bekämpfen. In diesem Sinne soll dieses Heft eine Aufforderung und ein Beitrag zur Diskussion sein.

Als eine der wesentlichen praktischen Möglichkeiten sehen wir die Unterstützung der Flüchtlinge, die in der Bundesrepublik von der Politik des Aushungerns betroffen sind. Unsere Solidarität gilt aktuell insbesondere den in Berlin seit mehreren Monaten andauerndem Widerstand von Bürgerkriegsflüchtlingen gegen ihre unmenschliche und entwürdigende Behandlung durch das DRK, darüber hinaus aber auch den zahllosen weiteren Projekten der medizinischen Unterstützung, der Unterbringung und der Fluchthilfe.


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Zirkular: [Nr. 55] [Ausgaben] [Artikel]