Seattle:Reform der WTO oder Zerstörung des Kapitalismus
Das Scheitern der WTO-Konferenz in Seattle wurde von den Gegnern des weltweiten Freihandels und des Neoliberalismus als Sieg einer breiten Bewegung gefeiert. In Wirklichkeit scheiterte die Konferenz an den gegensätzlichen Vorstellungen der Staatsmänner aus den USA, Europa und den Ländern der »Dritten Welt«, was wiederum seinen materiellen Grund in der heutigen Ungleichzeitigkeit der Konjunktur- und Krisenbewegungen auf der Welt hat. (Zur krisenhaften Situation des US-Kapitals, das sich zur Zeit noch durch diese Ungleichzeitigkeiten über Wasser halten kann, haben wir einen längeren theoretischen Beitrag von Fred Moseley übersetzt, der die bejubelte Ära der Prosperität in den USA infrage stellt). Zweitens waren es nicht die wohlgeordneten Protestveranstaltungen, die Seattle in die Schlagzeilen brachten, sondern die Sachbeschädigungen und Straßenkämpfe einer kleinen Minderheit, wobei es zu Dynamiken kam, die mehr Leute in diese Kämpfe einbeziehen konnten. NGOs und kritische Bürgerinitiativen waren planmäßig in den Ablauf des WTO-Gipfels einbezogen worden [1] - und sie bedankten sich dafür durch klare Distanzierungen von den »Chaoten«, bis hin zur Mitwirkung an der Polizeirepression.
Das Gute an Seattle war, daß dort der Konflikt zwischen den radikalen Kritikern des Kapitalismus und den »zivilgesellschaftlichen« Errettern vor dem »Turbokapitalismus« [2] offen ausgebrochen ist. Beim Weltwirtschaftsgipfel in Köln war noch die Illusion verbreitet, es könne ein Bündnis aller Kritiker geben - obwohl schon der staatlich gesponserte Alternativgipfel zeigte, daß es zwischen Kritikern des Kapitalismus und den neuen Verwaltern des Elends keine Gemeinsamkeit mehr geben kann. Statt die Gegensätze herunterzuspielen, wird es in den nächsten Jahren darauf ankommen, sie zuzuspitzen und die Beteiligung der demokratischen Kritiker an der Herrschaftssicherung überall zu demaskieren.
In seiner Verteidigung der Rebellen schildert Cruz Muro hautnah, wie er die Gegensätzlichkeit der Protestformen auf der Straße erlebte. Loren Goldner versucht, die »Schlacht von Seattle« in die langfristige Entwicklung der Klassenkämpfe in den USA einzuordnen. Schonungslos legt er die Grenzen und Borniertheiten innerhalb der Bewegung offen, hält Seattle aber trotzdem für einen möglichen Wendepunkt in der langen Geschichte von verlorenen Kämpfen. Die Presseerklärung von buko und iz3w drucken wir ab, weil sie - auch im Rückblick auf die Aktionen in Köln - die Radikalität der Proteste unterstreicht und die Begrenztheit einer bloßen Kritik des Neoliberalismus oder der WTO betont. Sie hebt sich damit deutlich von Stellungnahmen anderer linker Vereine ab, die schon aufgrund ihrer eigenen Integration in die Institutionen der demokratischen Gewaltherrschaft an einem Bündnis zur Reform des Staats und der Finanzmärkte basteln wollen. [3] Seattle hat deutlich gemacht, daß zwischen dem Handeln der immer etablierteren Staatslinken und dem Kampf um Befreiung Welten liegen.
Fußnoten:
[1] Dies wird genauer von Michel Chossudovsky in seinem vor dem Gipfel verfaßten Text »Seattle and beyond: disarming the new world order« beschrieben. Der Text ist auch bezüglich der WTO informativ, endet aber wie bei den Kritikern des Neoliberalismus üblich mit dem Aufruf zur Rettung des Sozialstaats und der Demokratie vor den Mächten des globalen Finanzkapitals.
[2] Es gehört zu den Meilensteinen theoretischer Degeneration, daß ausgerechnet dieser, vom Militärexperten und Berater der US-Regierung Eward N. Luttwak geprägte Ausdruck als Kritikersatz in der Linken so beliebt ist. Luttwak's Programm ist es, den guten alten Kapitalismus mit intakter Kleinfamilie, gesunder Marktwirtschaft und ordentlicher Ausbeutung vor dem »Turbo« zu retten.
[3] So empört sich ein Artikel in der SoZ (Zeitung der VSP) vom 20.1.00 über die zu »pauschale« Kritik der Presseerklärung von buko/iz3w an den Nationalstaaten und sieht im »Dialog« von NGOs mit der WTO interessante Ansatzpunkte zum politischen Eingreifen. Beim Weltwirtschaftsforum in Davos verkündeten die Veranstalter stolz, sie hätten einige NGOs für den Dialog gewinnen können, um so die Proteste auf der Straße zu schwächen.