Wildcat-Zirkular Nr. 56/57 - Mai 2000 - S. 28-31 [z56asem2.htm]


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Einige Gedanken zu »Antisemitismus und die Grenzen des Klassenbegriffs«

H. beabsichtigt mit seinem Text, »auf einige blinde Flecken des Wildcat-Verbundes aufmerksam zu machen«. Er bemängelt eine »Indifferenz gegenüber Antisemitismus, die ihre Wurzeln in einem fehlenden Ideologiebegriff und einem zum reinen Prinzip erstarrten Klassenbegriff« hätten. Als Beleg führt er einige Beispiele an. Zum einen die Auseinandersetzungen um die rassistischen Pogrome 1991/92 u.a. in Mannheim und Hoyerswerda, zum anderen die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den Thesen um die »Ökonomie der Endlösung«, wie sie von Susanne Heim und Götz Aly entwickelt wurden. Was zeigt sich historisch im Nationalsozialismus und im Deutschland der 90er Jahre? »Gerade in klassenkampflosen Zeiten hilft eine Theorie, die als Reflexion auf den Klassenkampf selbst entstand [gemeint ist der Operaismus; p.], wenig weiter, weil ohne offenen Klassenkampf die totalisierende Bewegung des Kapitals sich auch im Bewußtsein zeigt; das Kapitalverhältnis sich auch ideologisch totalisiert und zusammenschnürt«.

Das Problem, daß in all den Kämpfen, die in den letzten Jahren geführt wurden, kaum Ansätze zu einer revolutionären Antwort auf die kapitalistische Barbarei zu finden sind (um es positiv auszudrücken), versucht H. durch einen Spagat zwischen Klassenanalyse und Kritischer Theorie zu lösen. Mir erscheint allerdings, daß dieser Versuch lediglich zeigt, daß es fundamentale Widersprüche zwischen Adorno, Postone, ihren aktuellen neulinken Propagandisten und einem Ansatz radikaler Klassenanalyse gibt. Es wäre besser, sich diese Unterschiede klarzumachen und sich zu entscheiden, anstatt alles in einem großen Brei aufgehen zu lassen.

Vorneweg, wir müssen uns klarmachen, daß es zwei unterschiedliche Ebenen der Kritik gibt: Einmal die Frage, inwieweit wir historisch die gesellschaftlichen Entwicklungen als Ausdruck des Kampfes gegen die Arbeit und der gewaltsamen Aneignung von Arbeitskraft begreifen können. Zum anderen die nach der eigenen politischen Umsetzung in der aktuellen Auseinandersetzung. Trennen wir also mal die Kritik an dem Flugblatt in Mannheim und all den anderen Tritten in das linke Fettnäpfchen ab.

Klassenkampf kann also das »notwendig falsche Bewußtsein« durchbrechen. Stellt sich die Frage nach der Klasse (und Klassenkampf, der entscheidende Punkt) und nach dem Bewußtsein. Ideologie ist die unwillkürliche (falsche) Erklärung der gesellschaftlichen Zustände und dessen, was wir tun. Sie geht von dem aus, was wir vorfinden und knüpft an tradierte Denkmuster an. Da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ständig ändern, ist auch das Bewußtsein dieser Veränderung unterworfen. Die Behauptung, es gebe den »ewigen Antisemitismus« oder das »Deutschtum«, mag oberflächlich plausibel erscheinen, schaue ich mir immer wieder auftauchende Stereotype an. Ich denke aber, daß sich der Inhalt dessen, was sich als Antisemitismus äußert, in den letzten Jahrzehnten sehr wohl verändert hat. Um dahinter zu schauen, ist es aber unerläßlich zu betrachten, was sich historisch real an den Lebensbedingungen verändert hat. Eine »materialistische Kritik« müßte ansatzweise genau das leisten; um den von H. gewählten Ausgangspunkt zu nehmen, die »Nationalisierung der Massen« um die Jahrhundertwende als erste Ursache des Scheiterns aller revolutionären Kämpfe dieser Zeit. Wir müßten einerseits fragen, inwieweit die politischen Organisationen der »Arbeiterbewegung« die Gesamtheit der Kämpfe jener Zeit repräsentiert haben. In Polen und Rußland selber - wer waren die Träger des (auch sozialdemokratischen) Antisemitismus; spielten die russische Sozialdemokratie und der Bund in den Städten, in denen ein Großteil des jüdischen Proletariats lebte, wirklich die entscheidende Rolle; wie sahen z.B. im Londoner Eastend und in der New Yorker Lower Eastside, den Städten, in denen um die Jahrhundertwende schon Millionen jüdischer Arbeiter und Arbeiterinnen lebten, die Auseinandersetzungen um Antisemitismus aus?

Außerdem müßten wir fragen, inwieweit die Kämpfe denn real die Möglichkeit gehabt hätten, die regionalen und nationalen Schranken zu überwinden. Dies ist auch notwendig, um einer Mythologisierung der »revolutionären Klasse« vergangener Zeiten zu entgehen. Diese Frage ist auch an den von H. zitierten Artikel »Der Zionismus - Die Mißgeburt der Arbeiterbewegung« von Le Brice-Glace [siehe TheKla 14, S. 9-36] zu stellen. Abgesehen davon, daß mir die »vorkapitalistische jüdische Gemeinschaft« etwas idealisiert erscheint, problematisiert auch er nicht das Verhältnis eines vom ländlichen Handwerk geprägten Proletariats in Osteuropa zu den in die westlichen Großstädte emigrierten jüdischen Arbeitern und Arbeiterinnen.

Ich denke, die »antagonistische Klassengesellschaft«, von der H. schreibt, daß sie sich 1914 und 1933/39 aufgelöst hat, können wir uns auch in der Vergangenheit nicht als zwei antagonistische Gesellschaften vorstellen. Wir können aber in Kämpfen die Momente entdecken, die über das Kapitalverhältnis hinausweisen. H. gerät hier selber in die Falle der Personifizierung, die seine Enttäuschung, daß es heute so gar nicht mehr revolutionär ausguckt, dahin bringt, daß es auch kein Klassenverhältnis mehr gibt.

Zur Geschichte des Holocaust haben S. Heim, G. Aly u.a. Ansätze geliefert für ein Verständnis dessen, was an realen Auseinandersetzungen und Kämpfen hinter dem stand, was sich als Antisemitismus geäußert hat. Sie versuchen, den Holocaust als Endpunkt eines »Klassenkriegs von oben« gegen die »Drohung der Revolution von unten« zu verstehen. Die Tatsache, daß die systematische Ermordung von Juden und der Krieg auch von Proletariern durchgeführt worden ist, steht dabei gar nicht zur Debatte. Aber daß es der »spezifisch deutsche Antisemitismus« war, der den Holocaust verursacht hat. Der Nationalsozialismus und seine Vernichtungspolitik waren nicht »rational und irrational und doch nichts von beiden«. Auschwitz war die Konsequenz einer Reihe von bornierten Kämpfen, die in ihrer Gesamtheit die kapitalistische Gesellschaft zu zerstören drohten, die nur dadurch gerettet werden konnte, daß gesellschaftlich eine Hierarchie durchgesetzt wurde, die am Ende die Vernichtung der »Überflüssigen« durchführte. Daß sich dies so durchführen ließ, hat natürlich auch mit der Tradition des Antisemitismus in Europa und der Stellung der allermeisten Juden gerade in Osteuropa zu tun. (An dieser Stelle: Der Begriff »Luftmenschen«, den Susanne Heim zitiert, entstammt einer »soziologischen« Beschreibung der Lebensweise der polnischen Juden durch einen NS-Funktionär, der damit ausdrücken wollte, daß die Mehrheit der Juden in Polen ohne Subsistenzmittel, von der Hand in den Mund als städtische Armutsbevölkerung (einschließlich Handwerkern und Kleingewerbetreibenden) lebte. Es ist kein Begriff, der Juden als die Abbildung der »abstrakten Seite des Kapitals« bezeichnen sollte)

Schließlich noch zur Kritik an politischen Auseinandersetzungen. Es ist falsch, bei dieser Kritik nur einen Part zu betrachten und anzuklagen; ich muß mir klarmachen, welches die Gegenpositionen sind, auf die geantwortet wurde. Im Falle der radikalen Linken und ihrer Auseinandersetzung nach 1945 mit Auschwitz stimmt es nicht, daß der »Linksradikalismus« »nie kritisch auf Auschwitz (reflektiert)« hat und es immer einen Reflex gegen Israel gegeben hat, um das eigene Versagen »wiedergutzumachen«. Bis Ende der 60er Jahre war nach allem, was mir bekannt ist, bei aller Kritik an der Politik des Staates Israels eine »Reflektion auf die eigene Rolle als Linke in Deutschland« relativ gängig. Die Begeisterung vor allem von Anarchisten für die Kibbuze war ja auch von dem Gedanken getragen, daß die Überlebenden des Holocaust eine bessere Gesellschaft schaffen würden.

Daß sich seit Ende der 60er Jahre eine Form des Antiimperialismus als »Antizionismus« entwickelt hat, hängt auch mit dem staatlichen Umgehen mit dem Holocaust zusammen. Die Leute, die z.T. persönlich an dem Massenmord beteiligt waren, setzten in den 60er und 70er Jahren zynisch den Vorwurf des Antisemitismus gegen die ein, die versuchten, die Gesellschaft zu stürzen, die Auschwitz möglich gemacht hat. Daß manche sich hilflos gewehrt haben, indem sie die Kritik noch weiter überzeichneten (um den Zusammenhang von Faschismus damals und dann Springer, Schleyer deutlicher zu denunzieren), zeigt politische Schwäche und tatsächlich eine nicht begriffene und aufgearbeitete Vergangenheit; aber keinen »strukturellen Antisemitismus«. Ebenso wäre zu fragen, was denn die Kritik an dem Flugblatt zu den Ausschreitungen in Mannheim sein soll. Vielleicht könnte ich einen Versuch, in einer Situation einzugreifen, der sich im nachhinein als aussichtslos erweist, als hilflos und in der Situation als Legitimation des Geschehens kritisieren.

Wenn ich aber gleichzeitig jeden Versuch, zu analysieren, was tatsächlich passiert ist, als »Verschwörungstheorie« abtue, dann drehe ich mich im Kreis. Was ist denn der Unterschied zwischen einem riot und einem Pogrom, die H. blumig als »Angriff auf die Insignien des Staates« bzw. »kumpelhaftes Gespräch« beschreibt, wenn nicht der Unterschied zwischen einem spontanen Aufstand und einer bewußten staatlich und unternehmerisch aktiven Kanalisierung der Wut der Menschen?

Die entscheidende Frage, die H. stellen will, wie es möglich wird, als Klasse die Formen gesellschaftlichen Bewußtseins zu durchbrechen, kann ich leider auch nicht theoretisch beantworten. Aber, um mal ein Marx-Zitat anzubringen:

(»Resultate aus der [im Text bis hierher] entwickelten Geschichtsauffassung:) »4. daß sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.« (Deutsche Ideologie, MEW 3, Dietz 1962, S. 70)

Klar ist, daß es eine reine Anklage des falschen Bewußtseins nicht bringen kann. Das führt, daß hat H. ja richtig dargestellt, an die Seite des Staates.

P., HH.


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