Wildcat-Zirkular Nr. 56/57 - Mai 2000 - S. 32-42 [z56fichi.htm]


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Denunziation statt politischer Auseinandersetzung

»Antisemitismus« und »Relativierung von Auschwitz«

Eine wirkliche Debatte über »Antisemitismus« findet in der linken Öffentlichkeit nicht statt. Der Begriff wird bevorzugt im politischen Meinungsstreit eingesetzt. Er scheint als Schlüssel zu funktionieren, über den man sich die Welt erklärt und Gegner einordnet. Darin hat er andere Begriffe abgelöst, die diese Funktion in den 80er und 90er Jahren hatten: Sexismus, Rassismus oder in den 70er Jahren Imperialismus... Die Begriffe selbst erklären nichts. Sie funktionieren auf einer moralischen Ebene und dienen der eigenen Positionierung, nicht der Untersuchung. Sie werfen keine Fragen auf, sondern täuschen das Wissen um die Antwort vor.

Wenn Moral ins Spiel kommt, wenn sie wirksam werden kann, ist das ein Zeichen dafür, daß es bei einer Frage um etwas Wichtiges geht, um den Grundkonsens der bestehenden Gesellschaft: Antifaschismus und Demokratie. Es geht nicht mehr um eine konstruktive Auseinandersetzung, um Untersuchung, um Kritik, sondern um die Verteidigung des Bestehenden seitens einer Linken, der jede Hoffnung auf revolutionäre Veränderung abhanden gekommen ist.

Was historische Wahrheit ist, wird heute vor Gericht festgestellt. Dagegen haben sich in Frankreich Ende der 70er Jahre einige Linksradikale gewandt, die dem bürgerlichen Staat jegliches Recht dazu absprachen. In der Folge sind sie selbst der Unterstützung des »Negationismus«, d.h. der Leugnung der Massenvernichtung in Auschwitz bezichtigt worden. Dazu beigetragen hat die Tatsache, daß ehemalige Genossen von ihnen heute bei rechtsextremen Positionen gelandet sind und z.T. die Partei Le Pens unterstützen.

Gegen den Vorwurf des »Antisemitismus« oder der »Relativierung von Auschwitz« ist Gegenwehr schwer. Denn die politischen Gegner wollen meist gar nicht inhaltlich darüber reden, der Grund für den Vorwurf ist ein anderer: das Festhalten an einer revolutionären Position, an einer Kritik an Demokratie und Antifaschismus. Der Text »Le Fichisme ne passera pas« ist deshalb keine Verteidigung gegen den Vorwurf des Negationismus, sondern er begründet erneut die Kritik an der Demokratie.


»Le fichisme ne passera pas«

oder

»The X-Filers«

Diejenigen, die Akten [frz. fiche, engl. file] über andere anlegen, werden nicht durchkommen.

Der folgende Text basiert auf der französischen Version vom Oktober 1999. Wir haben sie mit der englischen Version »THE X-FILERS« vom Januar 2000 verglichen und diese in vielen Punkten übernommen, weil die Argumentation verständlicher ist.
Die Originaltexte sowie auch anderes Material in englisch und französisch sind auf http://www.geocities.com/Paris/chalet/6118/ nachzulesen.

Kontakt: AREDHIS, BP 306, F-60203 Compiègne Cedex, Frankreich.

»(..) Die IS darf nicht nach den vordergründig skandalösen Aspekten bestimmter Formulierungen in ihren Veröffentlichungen beurteilt werden, sondern nur nach ihrer zentralen und ihrem Wesen nach skandalösen Wahrheit.« (Situationistische Internationale)

»Zu unserem Unglück hatten wir recht.« (Amadeo Bordiga)

Gegenüber dem Staatsanwalt Pinard berief sich Flaubert auf die grundsätzliche Moral von Madame Bovary. In dieser Rolle wären wir wenig glaubhaft. [1]

»Man kann wohl kaum unschuldig und Schriftsteller sein«, sagte schon 1950 die Schriftsteller-Internationale zur Verteidigung eines der ihren, der des Diebstahls angeklagt war. So unerträglich es ist, als Schuldiger behandelt zu werden, so absurd ist es, seine Unschuld zu beschwören, wenn man einen Artikel »Für eine Welt ohne Unschuldige« veröffentlicht hat.

Armand Robin, der Autor von La Fausse Parole [Das falsche Wort], verlangte seine Aufnahme in alle schwarzen Listen.

Leugnen heißt gestehen. Wer sich verteidigt, klagt sich an.

Fast dreißig Jahre waren wir aktiv tätig und haben Ideen entwickelt. Unsere Taten drückten aus, was wir waren.

Plötzlich warf man uns vor, nicht das zu sein, was wir getan hätten. Die uns besser Gesonnenen meinten, wir hätten unklugerweise dem Revisionismus Vorschub geleistet. Andere, ob Phantasten oder Lügner, gingen weiter: für sie sind wir schändliche Negationisten, Leugner des Holocaust, und um es deutlich zu sagen: mehr oder weniger Faschisten. Müssen wir erklären, daß wir nicht das sind, was man von uns behauptet? Ein »negativer« Beweis ist ein Un-Sinn.

Wir können nichts tun für die Irregeleiteten, die sich nie für die Tausende von Seiten interessiert haben, die wir geschrieben oder veröffentlicht haben und jetzt ihr Urteil darüber fällen im kümmerlichen Licht von fünfzig Zeilen, die fürsorglich für sie ausgesucht wurden.

Wir haben auch nichts mehr zu diskutieren mit Spürhunden und Gelegenheitsforschern, die an der »Ultra-Linken« nur interessiert, ob sie etwas mit der Ultra-Rechten zu tun hat. Was würde man zu einer Geschichtsschreibung der deutschen kommunistischen Linken sagen, in deren Mittelpunkt jene ihrer Mitglieder gerückt wären - und es waren nicht die schlechtesten -, die zum Nationalbolschewismus übergetreten sind? Ähnlichen Wert haben Arbeiten, die etwa Nerval [frz. Dichter] unter psychiatrischem Blickwinkel beurteilen, Marx über sein Verhältnis mit seinem Hausmädchen neu interpretieren oder den Anarchismus allein von den in die libertären Reihen infiltrierten Provokateuren ausgehend untersuchen.

Was diejenigen anbelangt, die mit unseren Schriften und Aktivitäten vertraut sind, weil sie häufig mit uns verkehrten - manche gewiß zwanzig oder dreißig Jahre lang - und plötzlich außer sich sind über einige herausgesuchte Zitate, so disqualifiziert sie eine derartige Haltung auf allen Ebenen und besonders auf der intellektuellen.

Die Verleumdung war, soweit sie es sein konnte, ein Erfolg: Also in den Medien, als Skandal. Aber genauso schnell, wie der Denunziant freudig begrüßt wird, wechselt das Spektakel das Thema. Eines Tages wird jeder mal eine Viertelstunde berühmt. Vorhang.

Der lächerliche Charakter der Kampagne gegen die Ultra-Linke und ihr magerer Realitätsgehalt zeigt sich darin, wie wir die Rolle des Bösewichts im Krimi zugewiesen bekamen. Aus der Verleumdung wird Fiction - ein Zeichen dafür, daß sie in die Schlußphase eintritt.

Einen Skandal kann man nicht widerlegen. Presse und Verlage machen nicht die Meinung, sie spiegeln sie wider, sprechen von dem, wozu der Leser schon ein Verhältnis hat, was schon gefiltert ist.

Wenn die Medien ein unbekanntes Thema aufgreifen (im vorliegenden Fall La Banquise), mag der Leser davon beeinflußt werden. Wenn es aber keinerlei Bezug zu seinem Leben hat, wie tief geht dann dieser Einfluß? La Banquise hat dann dieselbe Bedeutung wie ein Zugunglück in China: wie hundertfünfzig toten Chinesen räumt man ihr ein paar Spalten ein und für dreißig Sekunden Aufmerksamkeit.

Der französische Leser, der an einem Abend des Jahres 1984 nach dem Mord an G. Lebovici seine Zeitung aufschlägt und überhaupt nichts von der IS weiß, erfährt, daß ein gewisser Guy Debord angeblich Verbindungen zum internationalen Terrorismus habe. Bevor er das in der nächsten Minute wieder vergißt, schließt er daraus das, was er schon vorher dachte: Mit der extremen Linken sollte man so wenig wie möglich zu tun haben.

Eine ganze Seite in Le Monde, die auf anständige Weise das kommunistische Denken darstellt, wäre bar jeden Sinnes, sie wäre allenfalls ein Symptom für etwas. Hat also eine Seite, die demselben Denken feindselig gegenübersteht, in derselben Zeitung mehr Bedeutung?

Ein Sympathisant der Kommunistischen Partei, der in den fünfziger Jahren bei Mattick oder »Socialisme ou Barbarie« herumgeblättert hätte, würde indigniert gesagt haben: »Wer sowas schreibt, kann nur von den Amerikanern bezahlt sein!« Und der Käufer des »Parisien Libéré« hätte stirnrunzelnd gesagt: »Ich verstehe zwar nicht viel davon, aber zumindest geht es gegen die Russen!«

Unsere Texte von 1970, 1979 oder 1983 können nur von ihren Lesern verstanden werden und nicht von denjenigen, die sie heute durchgehen auf der Suche nach unserem »Revisionismus« - und schon gar nicht von denen, die sich für oder gegen das Schwarzbuch des Kommunismus begeistern und für die die Geschichte Kriminologie ist und Politik Denunziation.

Man kann sich nur in den Augen derer in Verruf bringen, für die und mit denen man lebt. Die öffentliche Meinung betrachtet die Individuen oder Gruppen mit radikalen Absichten als Träumer, Verrückte oder Unruhestifter. Für den durchschnittlichen Abonnenten von Le Monde oder Le Figaro ist es genau so schwierig zu verstehen, daß La Banquise nie mit dem Faschismus liebäugelte, wie die historische Vision dieser Zeitschrift zu akzeptieren. Daß es diesen Flirt nicht gab, ergibt sich aus der Gültigkeit der Vision. Einen anderen »Beweis« gibt es nicht.

Weil wir Revolutionäre sind, haben wir mit dem Faschismus so wenig zu schaffen wie mit dem Stalinismus. Das Problem (dessen Lösung noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird) besteht darin, daß dieser Satz für diejenigen nahezu sinnlos ist, für die das Wort »Revolution« keinen Inhalt hat. Es wäre sinnlos, von Leuten, die für unsere Gedanken generell nicht zugänglich sind, zu erwarten, daß sie uns in einem speziellen Fall (wir haben den Gaskammer-Leugner Faurisson nie unterstützt) verständen, besonders wenn die Denunziation gegen uns dabei eine Kritik am Antifaschismus als Beweis für Kumpanei mit dem Faschismus nimmt: Anti-Anti-Faschismus = profaschistisch! Klar wie das Glas von Lenins Mausoleum.

Möglicherweise hätte die in die Augen springende Logik eines so schönen Syllogismus in anderen Bereichen bei den Linken die minimale kritische Reaktion ausgelöst, die sie eigentlich von der Rechten und ihrem extremen Flügel unterscheiden sollte. Aber diesmal war der Angriff gleichbedeutend mit einer demokratischen Widerlegung der revolutionären Theorie und zwar über die Konfrontation Negationismus/Antinegationismus, die der Zeitgeist in Frankreich heute als Jahrhundertkonflikt darstellt. [2]

Wir sind schuldig. Nicht im Sinne der Anklage, aber es gibt Gründe, warum man uns anklagt. Die Ankläger befassen sich mit unserem starken Punkt, nicht mit unseren möglichen Schwächen, Vereinfachungen oder Provokationen. Guter oder schlechter Geschmack stehen hier nicht zur Debatte. »Genau besehen ist das Gespür für Provokationen immer noch der am meisten begrüßenswerte Aspekt des ganzen. Eine Wahrheit wird immer davon profitieren, wenn sie auf verletzende Weise ausgedrückt wird.« (Breton, Konferenz vom 17. November 1922) Die Neigung einer Gesellschaft, von einer einzelnen Handlung oder isolierten Äußerung geschockt zu sein, entspricht ihrer Toleranz gegenüber ihren eigenen Unmenschlichkeit, die sie Jahr für Jahr in rosigen Farben darstellt. »Wenn mein Theater stinkt, dann nur deshalb, weil andere Stücke so gut riechen.« (Genet, L'Étrange Mot d', 1967) Die Gesellschaftskritik hat noch kein Mittel gefunden, sich mit Vorsicht auszudrücken.

Wir sind schuldig, weil wir denken, der Nazismus war ein Konzentrat des Kapitalismus; um ihn zu »vermeiden«, wäre nicht weniger als eine Revolution notwendig gewesen, und die Menschheit wird sich zukünftige blutige Diktaturen nur ersparen, wenn sie die kapitalistische Gesellschaft hinter sich läßt.

Ist es nur eine Frage des Vokabulars? Gewiß nicht. Wenn wir, um den Gebrauch des Wortes Kapitalismus zu vermeiden, sagen würden: Die bestehende Gesellschaft, das zwanzigste Jahrhundert, die moderne Welt, ... haben Auschwitz gemacht, würde sich die Inquisition genau so entfesseln. Sie akzeptiert nicht, die Nazi-Schreckensherrschaft auf ihren Ursprung zurückzuführen: eine auf dem Kapitalismus basierende globale Ordnung/Unordnung. Zu viele Leute haben ein starkes Interesse daran, daß sich der Nazismus vor allem durch seinen Haß auf das andere erklärt, durch seinen Antisemitismus, seine Ausgrenzung, kurz, durch die Nazis. Infolgedessen wollen sie heute, in Frankreich, daß Le Pen nicht dadurch bekämpft wird, daß man die Gesellschaftsordnung bekämpft, die ihn hervorbringt, sondern indem man eben diese Gesellschaftsordnung gegen ihn verteidigt, also die Linke unterstützt und sogar die Mitte und gemäßigt rechte Politiker, solange sie gegen die extreme Rechte sind.

Diejenigen, die den Begriff »Kapitalismus« seiner Bedeutung entleeren, sind die Gleichen, die »die Revolution« als einen Slogan behandeln. Uns unterscheidet von den Denunzianten, daß sie die Gesellschaft letztendlich gar nicht so schlecht finden. Sie denken, daß man heute »freier« ist als 1950, die Anti-Terror-Einheiten »trotz allem« besser sind als die Armee und die Jugend auf dem Berufsgymnasium doch besser aufgehoben ist als im Bergwerk oder auf der Straße. Genau da liegt unser Verbrechen: Wir weigern uns, Vergleiche zu ziehen.

»Die Konzentrationslager sind die Hölle einer Welt, deren Paradies der Supermarkt ist.« (La Banquise, Nr. 1, 1983) Es ist klar, daß es für uns weder Paradies noch Hölle gibt. Eine schreckliche Wirklichkeit hat ihr infernalisches Abbild geschaffen. Die Schrecken des modernen Konsums erzeugen ihre paradiesischen Bilder. In beiden Fällen behandelte der Satz in La Banquise sie als Abbilder, und weder verglich noch negierte er die Realitäten, die ihnen zu Grunde liegen.

»Der Natur nach gibt es keinen Unterschied zwischen dem 'normalen' Regime der Ausbeutung des Menschen und dem der Lager. Das Lager ist einfach das unverstellte Bild der mehr oder weniger verschleierten Hölle, in der noch so viele Menschen weltweit leben.« (Robert Antelme, Pauvre-Prolétaire-Déporté, 1948) Gewiß, die Endlösung ist in diesem Satz nicht explizit enthalten, denn Antelme spricht von Konzentrations- und nicht von Vernichtungs-Lagern. Aber wer würde Antelme den Prozeß machen wegen der Absicht, die Grauenhaftigkeit der Lager bagatellisieren zu wollen? (Er war kein Ultra-Linker, eher ein radikaler Humanist, der 1946 der KPF beitrat und vier Jahre später ausgeschlossen wurde.) Unser einziger Fehler ist die Überlegung, daß die Vernichtung die Zuspitzung der Konzentration ist.

Die Konzentrationslager sind die Hölle einer Welt, deren Paradies der Supermarkt ist. Warum ist dieser Satz unzulässig? Warum vergißt der Linke alles, was wir gerade gesagt haben, sogar was er vielleicht bei Antelme gelesen haben mag, und liest daraus eine schändliche Gleichsetzung der Gaskammer mit einer Warteschlange im Supermarkt? Weil er, ohne für den Supermarkt zu schwärmen, darin nichts von Grund auf Schreckliches sieht. Ebenso wie er einen demokratischen Staat und keine Niedriglöhne möchte, träumt er von einer großen menschengerechten Welt, selbstverwaltet, stadtteilbezogen organisiert und mit dem Fahrrad erreichbar, wo weniger Barbie-Puppen verkauft werden und mehr pädagogisch wertvolle CD-ROMs, wo in recycelter Verpackung Kaffee angeboten wird, für den dem bolivianischen Erzeuger sein »gerechter« Preis gezahlt wird. Für den, der keine Kritik des Supermarktes durchführt als Handelskonzentration und Ort der Beraubung in allen ihren Formen, scheint die Formel aus La Banquise bestenfalls ein abgedrehtes Paradoxon zu sein, im schlimmsten Fall eine Infamie.

Für uns wie für unsere Ankläger bestimmt das Verständnis des Supermarktes (und folglich der Gesellschaft) das Verständnis der Lager und nicht umgekehrt. Es wäre also sinnlos zu hoffen, wir könnten die Ankläger entwaffnen, indem wir uns in Bezug auf Auschwitz verteidigen; es geht vielmehr darum, sie in Bezug auf den Supermarkt anzugreifen. Bei dieser Affäre ging es niemals um die Analyse des Nazismus oder des Völkermords, sondern um eine Art, hier und jetzt gegenüber dieser Gesellschaft Stellung zu beziehen. Im Grunde hat sich nichts geändert, seit 1968 ein republikanischer Polizist einem von uns vorwarf: »Mit eurem Quatsch werdet ihr uns den Faschismus bringen! » Dreissig Jahre später, wegen Auschwitz oder nicht, kommt die gleiche Erpressung.

Die Anschuldigungen gegen uns beruhen auf dem Skandal. Aber die Realität erweist sich Tag für Tag als skandalös bis zur Karikatur. Es ist die Wirtschaft, nicht La Banquise, die plante, in Oswiecim/Auschwitz einen Supermarkt zu errichten. Skandal ist der plötzliche Schock für eine Welt, die den Anblick ihres eigenen Spiegelbilds nicht erträgt. Die Ware ist das eigentlich Erniedrigende, sagt ein Text, der 1998 sein 150. Jubiläum feierte.

Unsere Zivilisation ist zu reich an Abscheulichkeiten, als daß ihr das intellektuelle oder moralische Recht zugestanden werden könnte, die Hierarchie ihrer eigenen Untaten festzulegen und zu entscheiden, welche Verbrechen das Gesetz autorisiert und welche es ahndet. Diese Welt erklärt sich nicht über ihre Extreme, sondern über das Alltägliche. Der Gulag liefert nicht den theoretischen Schlüssel für die UdSSR und die Vernichtungslager nicht den für den Hitlerismus. Krisen, Kriege und Massaker sind Ausdruck für die Krämpfe, die die Gesellschaft schütteln, erhellen aber nicht die Logik, die zu ihnen führt. Trotzdem wirft die Demokratie dem Nazismus vor allem den geplanten Mord vor, und die Revisionisten bleiben dabei, das sei nicht geplant gewesen. Was hätten wir in dieser Debatte im Jahr 2000 mehr zu sagen als 1980 oder 1983? Uns empört das tägliche Verbrechen, das diese Gesellschaft darstellt, in der wir leben, und von diesem Verbrechen ausgehend kann man sie begreifen.

In den 70ern ersetzten die »neuen Philosophen« in Frankreich und die Bewunderer Solschenizyns Auschwitz durch den Archipel Gulag. Zwanzig oder dreißig Jahre später ziehen einige Linke einen Minikrieg auf gegen eine revolutionäre Kritik, in der sie die Förderung des Neonazismus erkennen wollen. Der demokratische Befehl hat sich nicht geändert: Wenn ihr den Totalitarismus nicht als öffentlichen Feind Nr. 1 anerkennt, seid ihr seine Komplizen. Wer darauf besteht, von Kapitalismus zu reden, wenn allgemein dazu aufgefordert wird, den Blick auf die »wahren« Prioritäten zu richten, als da seien Diktatur, Vormachtstellung, Rassismus, Intoleranz - verliert jegliche Anerkennung und wird für die Hetzjagd freigegeben.

Diese kleine Kampagne hatte zumindest den Verdienst, daran zu erinnern, daß nicht alles vereinnahmt werden kann und daß die Gesellschaft des Spektakels Kritik manchmal schlecht verdaut, wenn sie ein bißchen radikaler ist. Gewiß würde sich jedes Individuum oder jede Gruppe mit revolutionären Absichten wünschen, wenn man sie in die Öffentlichkeit zerrt, daß man sich dort wegen dem, was sie ist, mit ihr befaßt. Aber die Betroffenen wissen, daß die Fabrikation von Monstern nicht erst zum Ende des 20. Jahrhunderts erfunden wurde. Thiers massakrierte die Aufständischen von 1871 nicht für ihr demokratisches Kommune-Programm, sondern als Mörder oder Brandstifter. Die III. Republik in Frankreich warf die Anarchisten nicht in ihrer Eigenschaft als Individualisten oder Kollektivisten ins Gefängnis, sondern als Bombenleger. Lange Zeit haben die »anerkannten« Zeitungen Marx als einen Agenten Bismarcks oder Lenin als einen deutschen Spion demaskiert. La Banquise versuchte zu erklären, warum es keine Monster gibt. Es wäre lächerlich, wenn wir zu beweisen versuchten, daß wir keine solchen Monster sind, indem wir beweisen, daß wir keine Negationisten sind.

Erst der Stalinismus machte aus der Verleumdung eine Gewohnheit für einige und eine Zwangsvorstellung für viele. Einige Jahrzehnte später können die Wyschinskijs aus Aubervillier [Aubervillier: Vorstadt von Paris, traditionell von der KPF regiert; Wyschinskij: Chefankläger bei stalinistischen Säuberungsprozessen in den 30ern] immer noch lästig werden, weil sie gesunden Menschenverstand mit Moral verknüpfen, und sie tun das mit der tugendhaften Selbstgerechtigkeit derer, die stets unter dem Banner des Guten kämpfen. Mit dem populären Umfeld vertraut vergessen sie niemals, sich als Söhne des Volkes oder als Widerstandskämpfer zu geben. Sie haben eine Familie, sie arbeiten und sie schreiben und das sind gewiß keine pornographischen Romane. Sie haben auch ein Publikum, und Buch um Buch beruhigen sie es. Sie sind Freunde der guten Sache und modern genug, um die altmodische Militanz zu meiden, sie sind nicht sektiererisch, sie frühstücken mit einem Gewerkschaftsführer und lassen ihn dann stehen und marschieren mit den Trotzkisten. Während ihrer gesamten stalinistischen Vergangenheit waren sie Dissidenten und bei Mao äußerst kritische Reisende. Sie verkörpern den rebellischen Geist der 68er, der zum Realismus gefunden und keine Angst hat, einen Stimmzettel in die Wahlurne zu werfen: Der Selbstgerechte respektiert, was es zu respektieren gilt. Ihre Bücher sind keine Bücher, sondern gute Taten. Wie sollten sie unrecht haben? Sie haben von vornherein recht: Was vom Guten angeprangert wird, das kann nur das Böse sein.

Doch nicht jedermann trägt das Zeichen des Guten: Wer die Demokratie kritisiert, verliert die Anerkennung. Wenn es gegen uns geht, reicht es, wenn die Denunzianten ihre Entrüstung äußern. Die Lektüre von La Banquise ruft bei unseren Anklägern nicht Meinungsverschiedenheiten hervor, sondern Übelkeit. Gibt es ein besseres Argument als das Leiden? Solch starker Schmerz und Zorn können nicht lügen. Die emotionale Erpressung macht den Gegner zum Monster. Die netten Jungs gegen die Dreckskerle, mehr steckt da nicht dahinter.

Jeder politische Prozeß ist ein Prozeß mit bestimmten Absichten. Aus diesem Grund würde es nichts bringen, die Anklage gegen ihre Urheber umzukehren. Gewiß, die Demokratien ließen den Judenmord geschehen. Natürlich wurden die höheren Ränge des französischen Faschismus nicht mit »Bordigisten« besetzt, sondern eher mit Führern, die aus den ex-sozialistischen und ex-stalinistischen Reihen kamen. Gewiß, diejenigen, die uns als angeblich versteckte Antisemiten angreifen, stützen eine PCF, deren ehemalige und gegenwärtige russische Genossen sich fließend einer heftigen antijüdischen Rhetorik bedienen, der gegenüber die Phrasen Le Pens noch zurückhaltend erscheinen. Gewiß, die Ex-Gaullisten, die sich auf uns stürzen, priesen dreißig Jahre lang eine Dritte-Welt-Politik, die dem Nationalbolschewismus in nichts nachstand und schüttelten mehr als eine Foltererhand. Gewiß juckt uns der Wunsch, allen diesen Aktivisten, Journalisten und Akademikern, die eine Linke unterstützen, die sich seit mehr als einem Jahrhundert an das Vaterland anschließt, zuzurufen: Der nationale Sozialismus ist eure Politik. Das alles ist wahr, aber sich damit aufzuhalten, würde einmal mehr dem Gegner das Kompliment zurückgeben - »Der Faschist, das seid ihr!« - wo es doch gerade darum geht, mit jeder Stigmatisierung zu brechen. Im Gegensatz zu unseren Feinden haben wir keinen Feind. Wir sind nicht gegen das Lohnverhältnis, weil der Boss ein Nummernkonto in der Schweiz hat. Es bedeutet wenig, ob diejenigen, die uns als Feinde behandeln, schmutzige Hände haben oder solche, die weiß sind wie der Schnee Sibiriens. Lassen wir sie doch ihre Ehrbarkeit steigern, die ihnen Lebensinhalt und Broterwerb ist.

Jede Politik muß nach ihren Methoden beurteilt werden. Während sich die Gesellschaftskritik mit der Lebensweise oder den Institutionen befaßt, tut die Politik der Denunziation das genaue Gegenteil: verbissen führt sie den Kampf gegen Individuen, sanftmütig dagegen ist sie gegenüber gesellschaftlichen Zusammenhängen. Sie ruft zur ethischen Säuberung auf, zur Reinigung, zur Ausrottung aller Bösewichte. Sie liefert selbst Namen und verlangt, daß man ihr welche liefere. Sie geht davon aus, daß die Gesellschaft gut wäre ohne die Profiteure, die den Reichtum für sich beanspruchen, ohne die Nazis, ohne Pädophile und mehr noch ohne die, die sich weigern, das falsche Ziel zu wählen, nämlich uns. An die Stelle einer historischen Sichtweise, wo sich gesellschaftliche Kräfte gegenüberstehen, tritt eine Gegenüberstellung von herrschender Figur und unterdrückten Personen, von Henkern und Opfern, deren Ursprung man nicht wahrnimmt, außer in der Ideologie, im Haß, im Willen auszuschließen, zu herrschen - ein Wille, der eben so gut den Finanzhai, den Nazi, den Vergewaltiger, den Negationisten und gewiß auch seinen ultralinken Komplizen antreibt. Wichtig ist, sich auf der Seite des Guten zu positionieren und das Volk mit geheimen Insider-Informationen zu füttern.

Revolutionäre haben immer schon versucht zu sagen: So stehen die Dinge, und so könnten sie verändert werden. Die Wahrheit ist niemals ein Geheimnis, es geht darum zu verstehen, nicht zu demaskieren. Sie nimmt dem Experten sein Privileg. Sonst hätten nur die Physiker das Recht, über Atomkraft zu reden oder die Biologen über Gentechnik, und der einfache Mensch wäre auf ewig gezwungen, die Sichtweisen der Spezialisten gegeneinander abzuwägen, die ihm immer um eine Entdeckung voraus sind. Ein Kriterium einer revolutionären Kritik ist das Voraussetzen von Gleichheit - nicht weil sie davon ausgeht, daß der erstbeste in der Lage ist, in sechs Monaten genau so viel zu wissen wie ein Nobelpreisträger, sondern weil sie andere Fragen stellt. Die Gesellschaftskritik gründet auf Gegebenheiten, die - ohne evident zu sein - fundamental und für alle begreifbar sind. Das »Geheimnis« besteht darin, daß es kein Geheimnis gibt.

Der schlimmste Experte ist der für das Verdeckte. »Glaubt das Unmögliche!« Die Verschwörungstheorie geht davon aus, daß sich hinter allem, was gesagt wird, das Gegenteil verbirgt. Sie nimmt eine manipulierte Wahrheit an und also Manipulierer. Nicht in der Lage zu verstehen, was die Grundlage unserer Gesellschaft darstellt - arbeiten, kaufen, verkaufen, dorthin gehen, wohin uns der Gesetzesvertreter schickt - gräbt sie das Dokument aus, das die Raffgier des Bosses, die Korruption des Bürgermeisters, den Justizirrtum, die bewegte Vergangenheit des Politikers, das unerhörte Geschlechtsleben des Milliardärs, die Intrigen, die Einflußnahme, die Verflechtung, die schwarze Kasse usw. beweisen soll. Ob sie die »wahren« Herren der Welt aufdeckt oder die Mafia, das Gold Moskaus, die Trilaterale, die Moon-Sekte oder Opus Dei, Big & Small Brothers, Mossadagenten oder Stasi-Maulwürfe - diese Sichtweise bringt zerstreute Fakten miteinander in Zusammenhang. Genau diese armselige Sichtweise ist es, die im jüngsten inquisitorischen Delirium den Gipfel der Karikatur erreichte. Wenn das Hirn an okkulte Mächte glaubt, schließt es sich kurz.

Seit zweihundert Jahren gibt es eine verbreitete reaktionäre Position (u.a. im Faschismus), die Gesellschaft als verfault, doch in ihren Fundamenten gesund zu beschreiben, das gute Korn durch Ausreißen des verdorbenen finden zu wollen und zu diesem Zweck die Einflüsse aufzudecken, die umso unheilvoller sind, je verdeckter sie sind. Die Politik als Denunziation setzt eine aufgeklärte Elite voraus, die fähig ist, dem gewöhnlichen irregeleiteten Sterblichen diejenigen aufzuzeigen, die ihn verderben. Was ist der Unterschied zwischen »Das Parlament in den Händen der Banken« [3] und »Die Ultra-Linke spielt das Spiel des Neonazismus«, außer daß die Informationsinflation heute Henri Coston [4] für das CNRS (Centre national de la recherche scientifique, Nationales Forschungszentrum) arbeiten läßt.

Der Unterschied zwischen uns und denen, die uns anklagen: Wir führen keine Akten über sie.

Ehemalige Mitglieder von La Banquise: J.-P. C., G. D., J. H., D. M.

 

»Das Proletariat fragt nicht, was die Bourgeois bloß wollen, sondern was sie müssen(Karl Marx, Deutsche-Brüsseler Zeitung, 12. September 1847, MEW 4, S. 193)

»Es gibt nichts, das nicht zu verstehen ist.« (Isidore Ducasse, Poésies, 1870)

»Das sagt das, was es sagt, buchstäblich und in jeder Hinsicht.« (Rimbaud an seine durch die Lektüre von 'Une saison en Enfer' bestürzte Mutter)

»Ich betrachtete ihn mit gewissem Interesse, denn zum ersten mal hatte ich einen Menschen getroffen, dessen Beruf es war, Lügen zu verbreiten - wenn man von Journalisten absieht.« (Orwell, Mein Katalonien, 1938)

»Deutschland hat die Krise, die es zur Welt der Konzentrationslager führte, mit der seiner Geschichte eigenen Originalität interpretiert. Aber die Existenz und der Mechanismus dieser Krise sind auf ökonomische und gesellschaftliche Grundlagen des Kapitalismus' und des Imperialismus' zurückzuführen.« (D. Rousset, L'Univers concentrationnaire, 1946)


Fußnoten:

[1] Der Leser, der diesen Text mit meinem Beitrag zu dem Sammelband Libertaires et Ultragauches contre le négationnisme (Ed. Reflex, 1996) vergleicht, wird feststellen können, daß Le Fichisme ne passera pas eine Selbstkritik ist an meiner Verteidigung gegen den Angriff vor drei Jahren. Die passende Antwort auf die Verleumdung wäre gewesen, entweder zu schweigen oder ein Gegenangriff - und nicht eine Rechtfertigung, die die Konfusion noch verstärkte. (Gilles Dauvé)

[2] Der einzige Revisionismus der Geschichte, bei dem es wirklich um etwas ging und der daher für die Theorie von Interesse ist, war der, der vor hundert Jahren die Zweite Internationale spaltete und seither als Modell des Reformismus und ebenso als Inspiration für eine reaktionäre Politik diente : klassenübergreifendes Bündnis, die Reintegration des Proletariats in die Nation, Tarifgemeinschaft unter der Ägide des Staates, sowie Zustimmung zum Imperialismus. Kurz, die Ehe von Nation und Arbeiterbewegung, etwas später von G. Valois, dem Begründer des Faisceau (faschistische franz. Organisation) zusammengefaßt in der Formel »Nationalismus + Sozialismus = Faschismus«.

[3] »Le Parlement aux mains des banques«, erschienen im November 1956 in Contre Courant; der Autor war Paul Rassinier, einer der Gründerväter des Gaskammer-Revisionismus.

[4] In mehr als fünfzig Jahren produzierte H. Coston eine lange Reihe von Büchern, vollgepackt mit detaillierten unwichtigen Daten, die alle zu dem Schluß führen, daß das französische Volk von einer außenstehenden Minderheit beherrscht wird, seien es die Freimaurer, die Protestanten, das internationale Bankenwesen oder, als Krönung, die Juden.


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