Vom schwierigen Versuch, die kapitalistische Krise theoretisch zu bemeistern
1) Was bringt uns eine Theorie der Krise?
Es ist erstmal einfacher zu sagen, was uns die Krisentheorie nicht bringt: Sie bedeutet nicht, daß wir uns ein Bild malen vom 'kapitalistischen System', das an seinen eigenen Widersprüchen zugrundegeht und wir brauchen nur abwarten. Krisentheorie heißt auch nicht, daß 'wir Theoretiker' genau rausfinden könnten, welchen Stöpsel wir ziehen müssen, damit 'das System' zusammenbricht. Mit einer solchen Betrachtungsweise würden wir unsere eigene Rolle gnadenlos überschätzen.
Krisentheorie ist zunächst ganz banal für uns selber als Analyse wichtig: wo stehen wir, wie schätzen wir die Lage ein? Erleben wir gerade den Durchmarsch des Kapitals oder reichen alle ihre Maßnahmen von Umstrukturierung nicht hin, um zugrundeliegende Probleme zu lösen und zu einem »langanhaltenden, selbsttragenden Aufschwung« zu kommen, wie das immer genannt wird? Zweitens ist sie wichtig für die politische Auseinandersetzung und für unsere Argumentation. Wir müssen aufzeigen können, daß der Kapitalismus endlich ist - und wie er es heute ganz konkret ist! Das ist keinesfalls trivial in einer Zeit, in der man den Kapitalismus als 'Ende der Geschichte' hinzustellen versucht (hat)! Eine gute Krisentheorie erforscht die gegenwärtige kapitalistische Produktionsweise und ihre erkennbar bevorstehenden Entwicklungstendenzen. Daraus können wir sehr begrenzte, aber für die praktische Aktion ausreichende Zukunftsaussagen machen. Natürlich ist marxistische Krisentheorie zur Zeit eine recht minoritäre Angelegenheit. Es kann aber ganz schnell gehen, daß 'die Leute' von uns wissen wollen, was das ist »Krise« und wie wir die Lage sehen (siehe Indonesien!) ...
2) Warum sollte man sich Gedanken über die Krise des Kapitals machen?
Für uns Revolutionäre ist es von entscheidender Bedeutung, daß die kapitalistische Gesellschaft nicht nur ungerecht ist, sondern instabil. Ja, daß sie sogar instabil sein muß! Marx hat gezeigt, wie gerade ihre Antriebskraft zum tendenziellen Fall der Profitrate führt: Indem der lebendigen Arbeit ein immer größeres Quantum an toter Arbeit entgegengestellt wird (Fabriken, Maschinen, Wissenschaft ...), fällt die Profitrate. Ricardo hatte noch versucht, den historisch zu beobachtenden Fall der Profitrate auf äußere Faktoren zurückzuführen, auf die unproduktiver werdende Landarbeit. Demgegenüber hatte Marx gezeigt, daß die Ursache im Kapital selber liegt - und zwar gerade darin, daß die (Industrie-)Arbeit produktiver wird!
Das Gesamtkapital kann diese Schere letztlich immer nur durch periodische Entwicklungssprünge überwinden, in denen sich die massive Entwertung der Arbeitskraft mit einer Steigerung der Gebrauchswertseite verbindet - also kurz gesagt: intensivierte Ausbeutung und besserer Lebensstandard. In der Geschichte des Kapitalismus setzte das immer voraus, daß die Wertmassen entscheidend gesteigert werden konnten und das hieß immer: frisches Fleisch vom Land und aus dem Ausland in die industriell organisierte Produktion reinzuholen.
Seit etwa drei Jahrzehnten ist diese Quelle in Westeuropa, Japan und den USA erschöpft. Leute wie der Historiker Wallerstein gehen davon aus, daß weltweit die Möglichkeit, Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft in industrielle Prozesse zu rekrutieren, zwischen 2020 und 2030 erschöpft sein wird. Wir können daraus nicht ableiten, daß der Kapitalismus damit automatisch verschwinden wird - aber man kann sicher sein, daß der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, danach nicht mehr existieren wird. Und daß wir damit gerade in den Jahrzehnten leben, wo das entschieden wird.
3) Was ist Krise?
Krise heißt vom Wortstamm her und in der Medizin 'Wendepunkt im Krankheitsverlauf, an dem sich das Schicksal des Patienten entscheidet'. Unter Krise stellt man sich Firmenzusammenbrüche, massive Geldentwertung, Panik usw.vor - sie hat also was dramatisches und plötzliches. Zweitens gibt es im Kapitalismus ein konjunkturelles Auf und Ab mit einer Periode von etwa sieben Jahren, das ebenfalls als »Krise« bezeichnet wird. Drittens gibt es im modernen Kapitalismus Stagnationsphasen, die sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken können. Solche Phasen gab es bisher drei, zur Zeit erleben wir die längste seit 200 Jahren.
Die Merkmale der aktuellen Stagnationsphase sind:
- die Akkumulationsrate hat sich im Vergleich zur Phase des Nachkriegsbooms halbiert;
- die Zusammensetzung der Investitionen war im Nachkriegsboom 2 zu 1 Erweiterungs- zu Rationalisierungsinvestitionen; seit Mitte der 70er ist dieses Verhältnis 1 zu 2;
- jeder konjunkturelle Kriseneinbruch war tiefer, die darauf folgende Erholung schwächer als der/die vorhergehende;
- es kommt zu einer riesigen Ausweitung des Geldvolumens durch einen letztlich kreditfinanzierten Aktienboom.
4) Geschichtlicher Abriß unter dem Gesichtspunkt der Krise
4.1 Goldene Jahre?
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in den meisten Ländern zu Aufruhr und Streikbewegungen. Soweit diese in den drei Kontinenten stattfanden, wurden sie gnadenlos massakriert, das berüchtigste Beispiel hierfür ist Algerien im Mai 1945, wo die französische Kolonialmacht einen Aufstand militärisch niederschlug und dabei 40 000 Menschen ermordete. In den USA führten die Streikbewegungen (v.a. der Ford-Streik 1944) zur endgültigen Anerkennung der Gewerkschaften und zur Etablierung eines Sozialstaats mit hohen Arbeiterlöhnen. In Japan und der BRD wurden die Streiks in die Zange zwischen Wirtschaftskrise und politischer Repression genommen. Die Währungsreform führte in der BRD zu einer scharfen Erhöhung der Arbeitslosigkeit und zu Hunger und Elend (Arbeitslosigkeit 1948: 4,5%, 1950 12%). Niederschlagung der Streiks, Schüsse in Demos, KPD-Verbot sind Stichworte für die politische Repression (die Entwicklung in Japan war noch deutlich repressiver, es würde aber in diesem Zusammenhang zu weit führen, darauf einzugehen). Dies machte die Arbeiterklasse, die sich mit zwölf Millionen Flüchtlingen aus den verlorenen Ostgebieten und in den 50er Jahren aus der DDR neu zusammensetzte, gefügig zum deutschen Wirtschaftswunder auf der Basis von Niedriglöhnen; ein Industriearbeiter in der BRD verdiente in den 50er Jahren ein Fünftel seines US-amerikanischen Kollegen. (Bereits Ende der 50er Jahre wurde der Zustrom aus dem Osten durch die Anwerbung von »Gastarbeitern« in Süd-Europa ergänzt und später dann weitgehend ersetzt.)
Das, was die mainstream Linke heute als »das goldene Zeitalter des Fordismus« u.ä. hochleben läßt und hypostasiert, dauerte in der BRD nicht mal ganz 15 Jahre: von Anfang der 50er bis Mitte der 60er Jahre. Erste Krisensymptome in den Abschwungphasen 1962/63 und vor allem 1966/67 werden von den Unternehmern benutzt, um die »Störenfriede« aus der Produktion rauszusäubern, wie sich der BDI damals ausdrückte.
4.2 Die erste Abschwungphase
Die Phase von Mitte der 60er bis Ende der 70er (also weitere 15 Jahre) kann man als Kampf darum sehen, ob die Kapitalisten ihre Krise auf die ArbeiterInnen abwälzen können - die ArbeiterInnen blieben in diesem Kampf siegreich: die Reallöhne stiegen weiter, und zwar in einer Phase, in der die Arbeitslosigkeit sprunghaft zunahm, viele ArbeiterInnen »entdeckten« die Arbeitslosigkeit. (Der mainstream-Linken ist gar nicht bewußt, daß erst jetzt - im Ergebnis der Kämpfe - das Bild der Wohlstands- und Konsumgesellschaft zutrifft! Erst 1969 hatten über 80 Prozent aller Haushalte einen Kühlschrank; bei Waschmaschinen werden die 80 Prozent Mitte der 70er Jahre erreicht; und beim Auto beginnt das »goldene Zeitalter« noch später.)
Es kommt in dieser Phase zu zwei Krisenmaßnahmen, die bis heute fortwirken:
4.2.1 15.8.1971 Nixon-Schock (Ende von Bretton Woods)
Von heute aus gesehen markiert das den Übergang von der zyklischen Rezession zur historischen Krise: In einem überraschenden Zug löst der damalige US-Präsident Nixon den Dollar von seiner Goldparität, wertet ihn gegen den Yen und die DM ab, erhebt Sonderzölle von 10% auf Importe in die USA und verhängt einen »Lohn- und Preisstopp« (5%). Allein von 1969 bis 1971 hatten sich die an den weltweiten Finanzmärkten gehandelten Dollarströme verdoppelt und damit in drei Jahren soviel zugenommen wie in den vorhergehenden Jahrhunderten (allerdings geht es hierbei um Summen, die uns heute lächerlich vorkommen).
Durch die Lösung der Goldbindung und die freigehandelten Währungen müssen international tätige Unternehmen ihre (zukünftigen) Investitionen vor Währungsschwankungen absichern; aus dieser Unsicherheit entsteht der Derivathandel (wodurch die Finanzströme um so stärker anwachsen). Die Abkopplung des Dollars vom Gold wirft aber auch krisentheoretisch das Problem auf: was ist dann noch das Geld? Vor allem ehemals operaistische Theoretiker wie Negri, Montano, Marazzi und Cleaver, die diesen Schachzug theoretisch mitvollziehen wollten, verloren den Kopf und brabbeln seither was vom Ende des Wertgesetzes, denn offensichtlich sei die Stärke des US-Dollars nur noch auf die Stärke seiner Kampfbomber gegründet. In Wirklichkeit passiert etwas, das in allen kapitalistischen Stagnationsphasen passiert ist: der Kredit ändert seine Form, um den Kriseneinbruch zeitlich dehnen zu können. Dabei wird Geld scheinbar ex nihilo geschaffen.
4.2.2 Im Herbst '73 nehmen die Ölmultis den Yom-Kippurkrieg und das dadurch ausgelöste Öl-Embargo der OPEC zum Anlaß, die Erdölpreise zu vervierfachen. Diese »Ölkrise« hat vor allem drei Auswirkungen:
- unmittelbar auf die Arbeiterklasse: Energiepreis-Erhöhungen schöpfen zwangsweise Kaufkraft der ArbeiterInnen ab: die Preise steigen gerade in den Sektoren massiv, die den Hauptteil des Arbeiterkonsums ausmachen: Heizöl, Haushaltsgeräte, Kraftfahrzeuge, Benzin, Waschmittel, Brot, Medikamente usw. Das heißt, es ist ein Angriff gegen die Arbeiterklasse insgesamt, vor allem aber gegen Arbeitslose, Rentner usw., also speziell gegen die ärmeren Schichten der Arbeiterklasse.
- Euro-Dollars werden zu Petro-Dollars: Das gegen die Arbeiterklasse durchgesetzte »Zwangssparen« führte zur Anhäufung riesiger Geldsummen in den Erdölstaaten, die diese über die Großbanken wieder in den internationalen Finanzkreislauf einspeisten. Und dort blieben sie weitgehend auch - sie flossen nicht (ausreichend) in produktive Investitionen, um den Verfall der Akkumulationsrate aufzuhalten.
- Kriege ums Öl: Daß Kriege um die Energieressourcen geführt werden, ist nichts Neues, bereits Stalingrad ging um den Versuch Deutschlands, Zugriff auf die Erdöl-Reserven Bakus zu kriegen. Seit 1973 wurden immer wieder Kriege um das Erdöl und seine Transportwege geführt (Irak, Horn von Afrika, Kosovo, Tschetschenien ...).
4.3 Das weltweite Abbremsen
Ende der 70er kommt es zur größten, weltweiten Rezession seit 1929. Erst jetzt sprechen auch die bürgerlichen Theoretiker von einer tiefen Krise. In diesen Jahren kommen Reagan und Thatcher an die Macht, die vor allem für eine neue Wirtschaftspolitik (»supply side«, Angebotspolitik) und verschärften Klassenkampf von oben stehen: Reagans erste Amtshandlung bestand darin, daß er streikende Fluglotsen in Handschellen abführen ließ. Die Niederlage der Fiat-Arbeiter 1980, der Stahlarbeiter und 1984 der Bergarbeiter in Großbritannien machten deutlich, daß eine Epoche zuende gegangen war. In der BRD leitete die SPD/FDP-Regierung mit ihrer »Operation '82« einen verschärften Krisenkurs ein, den die Kohlregierung danach nahtlos fortsetzen konnte.
Allerdings geriet »supply side« und verschärfte Krisenpolitik schnell an die Grenzen, da sie nicht selektiv genug wirkte (Schulden-Krise in den drei Kontinenten, in den USA häuften sich die Unternehmenszusammenbrüche), die Arbeitslosigkeit schoß auf Levels wie in den 30ern hoch, die sozialpolitischen Folgen drohten unkontrollierbar zu werden. In einem dramatischen Schwenk senkte die amerikanische Bundesbank die Zinsen, und Reagan wurde zum größten Keynesianer des Jahrhunderts, sein Rüstungskeynesianismus brachte die höchsten Staatsdefizite, die es in der Geschichte bis dahin gegeben hat. Das führte dazu, daß sich alle verschuldeten: sowohl die Unternehmen als auch die Privathaushalte häuften die bis dahin höchsten Schulden auf.
4.4 Die dritte Abschwungphase
Um den scharfen Kriseneinbruch zu Beginn der 90er Jahre deutlich zu machen und sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie stark seine Auswirkungen auf die Klassensituation waren, muß man sich kurz die Situation in Westeuropa Ende der 80er Jahre vergegenwärtigen. 1988/89 war es ausgehend von Frankreich zu einer europaweiten Krankenschwesternbewegung gekommen. In einer Mischung aus sozialem Protest und Arbeiterkampf hatte sich diese Bewegung überallhin ausgebreitet und sehr schnell Zugeständnisse erkämpft. Ebenfalls in dieser Zeit kam es zu wilden Streiks in der Metallindustrie, darunter zum erstenmal auch in der berüchtigten Halle 54 bei VW. Im Winter 1989/90 streikten die Kita-ErzieherInnen in Westberlin 10 Wochen lang - es war der längste Streik in der Nachkriegsgeschichte in Berlin und einer der längsten in der BRD - praktisch ohne Ergebnis, denn nun war die Mauer gefallen und andere Themen wurden angesagt. Vom Streik der ErzieherInnen nahm fast niemand Notiz.
4.4.1 Sonderboom und Sonderkrise: die Situation in der BRD
1989/1990 beginnt international der nächste Kriseneinbruch, der wiederum tiefer ist als der Einbruch Ende der 70er Jahre. In der BRD kommt es durch die Wiedervereinigung zunächst zu einem Sonderboom (fast 1 Million Menschen werden zusätzlich vom Arbeitsmarkt aufgesogen) bis etwa in den Herbst 1991. Dann wird diese Sonderentwicklung durch eine Zinserhöhung der Bundesbank brüsk abgedreht. Ab Januar '93 fallen sämtliche Wirtschaftsdaten (Produktion, Konsum usw.) rapide nach unten, vor allem aber fällt der Kampfgeist: Es ist atemberaubend, wie widerstandslos diesmal die Unternehmer ihre Krisenprogramme durchziehen können. Es gibt einige Kämpfe, die fallen aber eher durch ihre Nichtradikalität auf, als daß sie der Entwicklung wirksam entgegentreten würden. Von heute aus gesehen würde ich fast sagen: im Gegenteil! die Welle von defensiven Kämpfen, wo um Arbeitsplätze gebettelt oder sogar für Arbeitsplätze hungergestreikt wurde, hat die Unternehmerdrohung mit dem »Standort Deutschland« sogar noch medienwirksam in Szene gesetzt!
Irgendwie kam alles zusammen: Anfang des Jahres griffen die USA den Irak an und veranstalteten eines der brutalsten Massaker. Im Herbst '91 kam es in Hoyerswerda zum ersten Pogrom gegen ausländische ArbeiterInnen, nachdem diese ausstehende Lohnzahlungen gefordert hatten. Im Jahr darauf kam es in Rostock und vielen anderen Städten zu Angriffen auf eingewanderte Menschen.
Innerhalb von kürzester Zeit war eine neue Situation entstanden, die gerade für jüngere GenossInnen vielleicht das einzige ist, was sie kennen: untertarifliche Bezahlung, Arbeiterkämpfe nur noch in Form von gewerkschaftlich kontrolliertem Betteln um Arbeitsplätze, der Rassismus nimmt in seiner gesellschaftlichen Bedeutung gewaltig zu, die Arbeitslosigkeit verdoppelte sich erneut auf offiziell mehr als 4 Millionen.
Das muß man im Auge behalten, wenn man die Situation in der BRD einzuschätzen versucht: der scharfe Kriseneinbruch hat in vielen Ländern dazu geführt, daß die Arbeiterkämpfe defensiv(er) wurden (in Italien gingen die Kämpfe fast immer gegen den staatlichen Versuch, die Renten zu kürzen, in Frankreich gegen Arbeitsplatzabbau usw.), aber in der wiedervereinigten BRD kam dazu, daß die Jugendrevolten, die sich bisher immer links organisiert hatten, ausblieben bzw. vielerorts eine rechte Jugendkultur vorherrschend wurde (in England gab es 1990 den Poll tax riot, in Frankreich im Frühjahr '94 eine breite, militante Jugendbewegung usw.).
Summasummarum waren wir also mit dem tiefsten Kriseneinbruch in diesem Jahrhundert und einer sehr desolaten Situation auf seiten der Klasse konfrontiert.
4.5 Neuer Einbruch?
Seit der Asienkrise 1997 und der »Rubelkrise« 1998 entfaltet sich der bisher schärfste Kriseneinbruch in der langen Stagnationsphase. In Japan droht die wirtschaftliche Entwicklung von der Rezession in Depression umzukippen. Unter den Herrschenden mehren sich die Stimmen, daß die Situation in China sozialpolitisch nicht mehr handlebar ist und das Regime möglicherweise sogar einen Krieg vom Zaum brechen wird, um an der Macht zu bleiben. Der Boom in den USA beruht auf einer historisch beispiellosen Kreditausweitung (pro Kopf[!] sind die Amis im Moment mit 1000$ verschuldet, mit denen sie Aktien auf Pump gekauft haben!), ein Crash an den Börsen könnte die tiefste Krise des Jahrhunderts auslösen [siehe den nächsten Artikel]. Diese Entwicklung ist entscheidend dafür, ob die Kriseneinbrüche 1997 in Asien und 1998 in Rußland lokal begrenzt bleiben, oder ob es synchron zu einer weltweiten Krise kommt. Der letzte weltweit synchrone Kriseneinbruch war 1973/74. Die Krisen seither waren zwar tiefer, aber sie waren zeitlich verschoben, so daß sich die nationalen Ökonomien jeweils am Schopf des anderen aus dem Sumpf ziehen konnten. Ein gleichzeitiger weltweiter Kriseneinbruch würde eine ganz andere Dramatik entwickeln.
5) Ende eines Gesellschaftssystems - unsere Rolle
5.1 Unsere Vorstellungen
Es gibt grundsätzlich zwei Vorstellungen davon, wie wir zu einer Revolution kommen, die mit dem Kapitalismus wirklich Schluß macht: die eine ist voluntaristisch, sagt also in letzter Instanz: es hängt vom Willen der Menschen ab; die andere ist materialistisch, sagt also in letzter Instanz: es hängt von den materiellen Bedingungen ab. Die zweite Vorstellung ist in der deutschen Debatte in den letzten Jahren oft mit dem Label »deterministisch« totgeschlagen worden. Das hängt auch damit zusammen, daß die zwei »materialistischen Schulen« im traditionellen Marxismus stark diskreditiert sind. Die erste Schule bestand in den Versuchen der Zweiten und Dritten Internationalen, aus geschichtsphilosophischen Bemerkungen im Werk von Marx geschichtsdeterministische Vorhersagen zu machen, eherne Gesetze der Geschichte, wo die Arbeiterklasse unter der Führung der Partei ihre »materialistisch« vorgegebene historische Mission abarbeitet [siehe dazu die sehr gute Kritik von Loren Goldner in der Beilage zu Zirkular 46/47]. Die zweite, wesentlich ernsthaftere Debatte entspann sich um diverse Versuche, die Marx'schen Reproduktionsschemata auf die Wirklichkeit zu beziehen bzw. den tendenziellen Fall der Profitrate auf den realen historischen Verlauf "umzurechnen" (Grossmann) [darauf wird noch einzugehen sein; siehe auch »Ökonomisches Gesetz und Klassenkampf« in diesem Zirkular!].
Im Verlauf dieser Debatten sind zwei Schlagworte gegen den Marxismus eingeführt worden, die nicht widerlegt werden können: Zusammenbruchstheorie und Determinismus. Der Terminus »Zusammenbruchstheorie« wurde zuerst 1887 von einem bürgerlichen Kritiker des Marxismus verwandt. Der Revisionist Bernstein nahm ihn wieder auf, weil es für Reformisten immer sehr wichtig ist, die Stabilität und letztlich die mögliche Ewigkeit des Kapitalismus zu »beweisen« - und sich diesbezüglich gegen den Marxismus abzugrenzen. Natürlich könnte man den Marxismus als Zusammenbruchtstheorie bezeichnen, wenn man darunter versteht, daß er die Historizität der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die Grenzen, innerhalb derer kapitalistische Produktion allein möglich ist, beschreibt. Ganz ähnlich steht es mit dem Determinismus-Vorwurf: Marx ist »deterministisch«, indem er immer wieder beschreibt, wie bestimmte Produktionsweisen und bestimmte Gesellschaftsformen zusammengehören. Er ist nicht deterministisch, weil er an keiner Stelle behauptet, der geschichtliche Verlauf sei vorgegeben. In der Regel werden gegen den Determinismusvorwurf seine Briefe an Vera Sassulitsch angeführt, wo er von der Möglichkeit sprach, daß die russische Revolution den Kapitalismus überspringen könne; und gegen den Vorwurf der »Zusammenbruchtstheorie« läßt sich anführen, daß das Wort im Werk von Marx an keiner Stelle vorkommt. Wichtiger für unsere Debatte ist aber zu begreifen, daß es manchmal gar keinen Sinn macht, sich gegen die »Vorwürfe« zu wehren - und man sich zuweilen lieber fragen sollte, was denn daran falsch ist, wenn der Marxismus zeigt, daß der Kapitalismus letztenendes zusammenbrechen muß.
Zusammenbruchs- und deterministische Theorien sind aber auf jeden Fall zu kritisieren, wenn sie den Menschen die Möglichkeit absprechen, im historischen Verlauf zu selbstbestimmten Subjekten ihrer eigenen Geschichte werden zu können. Als Passepartout-Vorwurf gegen jede materialistische Analyse schüttet der Determinismusvorwurf das Kind mit dem Badewasser aus und stellt dem unhistorischen, strukturalistischen Determinismus spiegelbildlich einen genauso unhistorischen und philosophischen Begriff der »Freiheit« oder der historischen Beliebigkeit (»Kontingenz«) entgegen.
Das Determiniertsein der Menschen durch strukturelle Gesetzmäßigkeiten ist für Marx eine Kritik an einer »Gesellschaftsformation, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert«. Ironisch spricht er im Zusammenhang des Kapitalismus von den »Naturgesetzen« der Produktion, was sowohl die strukturalistischen Marxisten wie die Kritiker des Determinismus wörtlich nehmen, ohne die darin enthaltene Kritik zu sehen. So wie Marx es faßt, ist es zugleich eine Kritik des bürgerlichen zeitlosen Freiheitsbegriffs, der auf dem Besitzindividualismus beruht - und den unreflektierten Ausgangspunkt der heute modischen Kritik an »Determinismus« bildet. (zur Kritik am »vor-kantianischen Determinismus« des offiziellen Marxismus siehe auch die Beilage im Wildcat-Zirkular 46/47; dort z.B. S. 29)
5.2 Unsere Chancen
Materialistisch gesehen gibt es nur dann eine ernsthafte Aussicht auf eine den Kapitalismus radikal umstürzende Revolution, wenn der Kapitalismus an seine Grenzen gekommen ist. Denn der Kapitalismus zeichnet sich gerade dadurch aus, daß er seine Grenzen quantitativ ständig verschieben muß - und daß er sie in der Geschichte auch qualitativ verschieben konnte, wenn sein Ende gekommen zu sein schien. Und er kann die Revolte der Ausgebeuteten zum Motor seiner Entwicklung machen (die Umdrehung, das Kapital sei in der Krise, weil ihm niemand mehr durch Kämpfe Flöhe ins Ohr setzt, gilt nicht!). Ob die Menschen sich erheben, hat letztlich was damit zu tun, ob sie das gegebene System für »erträglich« halten im Sinne von »das beste aller denkbaren Systeme«. Natürlich weiß jemand, der morgens um 4 Uhr aufstehen und zur Arbeit gehen muß, daß hier etwas nicht »gerecht« zugeht; solange er aber nicht die Möglichkeit sieht, etwas Besseres zu erkämpfen, bekommt das System, gegen das er nicht rebelliert, eine gewisse Legitimation. Solange die ArbeiterInnen daran glauben konnten, daß es zumindest ihren Kindern besser gehen wird, konnten sie der Plackerei ein Quentchen Sinn verleihen. Solange die Menschen nicht kollektiv handeln, müssen sie Vorstellungen entwickeln, warum die Welt so ist, wie sie ist, und warum sie selber sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Und diese Mythen und Rationalisierungen sind dann oft das größte Hindernis für gemeinsame Kämpfe.
Auch deshalb sind die Debatten um »Globalisierung«, den angeblichen »Boom in den USA« usw. so stark aufgeladen. Es geht auf der ideologischen Ebene darum, eine inzwischen dreißigjährige weltweite Stagnationsphase des Kapitalismus als Triumphzug (»Globalisierung«) zu verkaufen, oder zumindest die Behauptung aufrechtzuerhalten, man wisse den Ausweg (»wir müssen es nur so wie die USA machen!«).
5.3 Die Vorstellungen der Menschen
Die weltweiten Aufstände zwischen 1905 und 1917/18 hatten keine klare Vorstellung vom Kommunismus - und wenn, dann waren das Vorstellungen, an denen heute sicherlich nicht mehr anzuknüpfen ist. Die Leute hatten in ihrer Mehrheit die Schnauze voll vom Krieg, vom Hunger ... und sie hatten eine Vorstellung davon, daß etwas Besseres möglich sei.
Aber sie haben mit ihren Kämpfen - trotz der Bolschewiki könnte man sagen! - ein weltweites Gesellschaftssystem in die Krise gebracht. Das gleiche gilt für die Kämpfe in den 60er und 70er Jahren. Und wenn heute Millionen von Menschen versuchen hierherzukommen, heißt das ja erstmal, daß sie hier für sich selber relativ die besten Chancen sehen. Migranten wollen »mehr Geld« und ein »besseres Leben« ... auch daran läßt sich nur anknüpfen, wenn man in den dahinter liegenden Bedürfnissen der Menschen die eigentliche Triebkraft der Geschichte sieht, »das befriedigte erste Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene Instrument der Befriedigung [führt] zu neuen Bedürfnissen«, wie es Marx und Engels in der Deutschen Ideologie ausgedrückt haben.
5.4 Resümee
Im Verlauf der Beschäftigung mit Krisentheorien und historischen Krisenverläufen sind wir immer mehr von unserer ursprünglichen Ansicht abgekommen, hinter der Krise des Kapitals immer den offenen Klassenkampf aufzuspüren. Solche Positionen des »immer« sind entweder unhistorisch und unmaterialistisch à la Holloways Anleihe bei Hegel (»reine Unruhe des Lebens«), oder es sind dialektische Spielereien à la Mattick: »Die Bewegungsgesetze des Kapitals sind nach Marx die ökonomisch verkleidete Form der Entwicklung der aktuellen Klassengegensätze innerhalb der warenproduzierenden Gesellschaft, so daß es dasselbe ist, ob man von der proletarischen Revolution oder dem ökonomischen Zusammenbruch des Kapitals spricht.« (Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus oder Revolutionäres Subjekt; Berlin 1973; Vorwort von Paul Mattick (Dez. 1972); S. 17)
Aber natürlich bleibt es immer der Kern einer marxistischen Krisentheorie, die Krisenentwicklung mit dem Antagonismus zu verbinden, d.h. mit dem schon im Begriff des Kapitals enthaltenen Klassenverhältnis, das sich durch alle Lebensbereiche hindurchzieht und gerade nicht »immer« als offene Revolte erscheint.
In der Krise des entwickelten Kapitalismus schimmert auch immer die Möglichkeit eines besseren Gesellschaftssystems auf: denn Krisen sind nicht mehr wie in den Jahrhunderten zuvor Ausdruck des Mangels, sondern des Überflusses: es gibt zuviel Waren, zuviel Arbeitskräfte, zuviel akkumuliertes Kapital:: Überproduktion, Arbeitslosigkeit, Konkurse ... D.h. in der Krise wird handgreiflich klar, was »das Kapital« eigentlich ist: die Entfremdung der produktiven Möglichkeiten (!) der vergesellschafteten Menschen zu einer ihnen feindlichen, destruktiven und sie beherrschenden Macht...
J. / Berlin