Frankreich: 153 ArbeiterInnen verschafften sich Gehör
Der Streik bei Cellatex - eine neue Form des Klassenkampfs?
Vorbemerkung der Redaktion: Den Text von Henri Simon aus Paris haben wir übersetzt, leicht überarbeitet und etwas gekürzt. An einigen Stellen ist die Sachlage nicht klar, dort haben wir anderslautende Infos aus der jungle world vom 9.8.2000 eingefügt. Im Anschluß die Übersetzung eines Textes von einem Genossen aus Frankreich (C.), der die Ereignisse anders einschätzt: die Lage sei nie außer Kontrolle der Gewerkschaften gewesen.
Zur Chemie und ihren Auswirkungen: Schwefelkohlenstoff wird beim Herstellungsprozess u.a. in gasförmiger Form freigesetzt. Es ist ein starkes Nervengift. Es schädigt Nervenzellen, aber auch Gewebezellen - vor allem das Knochengewebe. Leute (das ist vorwiegend bei Frauen zu beobachten), die lange in solchen Firmen gearbeitet haben, haben im Alter oft große Probleme mit der Festigkeit ihrer Knochen; diese werden dadurch nicht spröde, sondern weichen sozusagen auf (bei Frauen verformen sich oft der gesamte Beckenbereich und die Beine).
Givet, 8000 Einwohner, liegt im äußersten Norden Frankreichs an der Maas in der Nähe der Grenze zu Belgien. Vor 50 Jahren war das eine aufstrebende Industrieregion, doch heute ist es, auf beiden Seiten der Grenze, eine industrielle Wüste - auch wenn einige neue Betriebe angesiedelt wurden. 22 Prozent der aktiven Bevölkerung sind arbeitslos.
Cellatex ist eine der letzten der im Verschwinden begriffenenen Fabriken, die Viskose herstellen, eine der ersten synthetischen Fasern. Ab 1903 in Betrieb beschäftigte sie in den 50ern über 700 ArbeiterInnen. Heute bleiben davon nur noch 153, davon sind ein Drittel Frauen. Der Betrieb war mal wieder verkauft worden, von dem Chemiekonzern Rhône-Poulenc, weil er nicht mehr profitabel war - Viskose war ersetzt worden durch neue Synthetikfasern. Die Fabrik wechselt häufig den Besitzer. Einige Kapitalisten sollen an ihr interessiert sein, weil die Viskose eine sehr hohe Qualität hat, so daß sie im medizinischen Bereich verwendet werden könnte. Der letzte Eigentümer wird beschuldigt, er hätte die Firma eigens wegen des Patents gekauft und die Fabrik selbst schließen wollen. Seit 1991 verloren einige Eigentümer Geld bei solcher Beschäftigung, und die Fabrik erlebte einen Beinahe-Bankrott nach dem anderen mit immer neuen Versprechungen für die Belegschaft.
Eine gewisse Beständigkeit erfahren die ArbeiterInnen dadurch, daß sie immer wieder gebeten werden, zwecks »Rettung der Fabrik« jedes Opfer zu bringen, mehr zu arbeiten und jeder Menge »Umstrukturierungsmaßnahmen« zuzustimmen: Entlassungen, keine Lohnerhöhungen, Streichung von Lohnzuschüssen, Arbeit an Sonn- und Feiertagen. Der Grund für die Zugeständnisse der Belegschaft: fast ein Jahrhundert lang war die Fabrik der bedeutendste Betrieb der Stadt, und ganze Familien gingen dort über vier Generationen arbeiten. Sie setzten sich in der Stadt zur Ruhe, und ihre Enkel arbeiteten immer noch im selben Textiljob. Die meisten ArbeiterInnen waren in den letzten Jahren gezwungen worden, ihr jeweiliges Haus zu kaufen, das damals noch der Firma gehörte und an sie vermietet wurde, gemäß dem alten Prinzip der »Arbeiterwohnungen«... So gesehen war es immer noch die alte industrielle Struktur, mit ArbeiterInnen, die auf die »moderne Mobilität« keinerlei Bock hatten - so etwas durchzuhalten fällt in einer Gegend wie Givet nicht leicht. Und das könnte erklären, warum sie vorher so viele Kürzungen hinnahmen, und warum ihre Wut sich Bahn brach, als ihnen plötzlich mitgeteilt wurde, daß das, was sie aufgebaut hatten und um jeden Preis am Leben erhalten wollten, »keine Zukunft mehr« haben sollte.
Am 30.6.2000 bringt ein Treffen zwischen möglichen Käufern und der örtlichen Verwaltung etwas Hoffnung, vage wurde formuliert, daß Entscheidungen frühestens in drei Wochen getroffen würden und daß »jemand interessiert« sei. Doch dann wird plötzlich, am 5. Juli, vom zuständigen Handelsgericht in Charleville-Mezieres (die nächste größere Stadt mit 200 000 Einwohnern und Sitz der Präfektur des Bezirks Ardennes), ein Urteil gefällt, das den letzten Eigentümer für bankrott erklärt, was die komplette Schließung der Fabrik bedeutet, das sofortige Ende der Produktion und die kollektive Entlassung der gesamten Belegschaft.
Nicht nur Worte
Die ArbeiterInnen drohen damit, die Fabrik in die Luft zu jagen. Und das sind nicht nur Worte: die ArbeiterInnen von Cellatex wissen genau, daß sie eine gewaltige Waffe in der Hand haben, und sie sind bereit, sie zu benutzen. Ihre Waffe, die Fabrik, wurde von den Behörden in der Kategorie »Seveso-Risiko« eingestuft, der Name kommt von der Explosion jener italienischen Fabrik, die eine große Menge giftigen Dioxins freisetzte. Für die Produktion von Viskose lagert die Fabrik als Rohmaterialien einige sehr giftige oder gefährliche Stoffe: 50 000 Liter einer hochkorrosiven Schwefelsäure, 46 Tonnen an hochentflammbarem und explosivem Schwefelkohlenstoff, 90 Tonnen Natronlauge, sowie genügend weitere hochentflammbare Nebenprodukte oder Hilfsmittel. Vor diesem Ereignis hatte offensichtlich niemand den ArbeiterInnen zugetraut, sie könnten daran denken, dieses zerstörerische Material als Waffe in ihrem Klassenkampf zu verwenden - nicht einmal in höchster Wut. Die Furcht, die das Management und die Gewerkschaften teilten, bezog sich auf eventuelles Ludditenverhalten, also etwa Sabotage an den wertvollen Maschinen. Die von der KP dominierte CGT drückte dies z.B. 1968 in einem Slogan aus: »Schützt die Produktionsmittel!« Von einer völligen Zerstörung der Arbeitsstätte hatte man seit Menschengedenken noch nicht gehört gehabt. Während der Umstrukturierung der Stahlindustrie im Bezirk Ardennes war einmal ein Hauptsitz der Topmanager niedergebrannt worden, aber nie die Fabriken. Es waren nicht nur Worte. Am 5. Juli um 20.30 Uhr, ab dem Moment, an dem die ArbeiterInnen die Entscheidung über ihre »no future« kannten, begannen sie zu handeln und in Einzelheiten kundzutun, mit welchen Maßnahmen sie die Autoritäten zum Gespräch zwingen würden. Die Medien bewahren in diesen ersten Tagen völliges Stillschweigen, Einzelheiten werden erst später untergestreut, das macht es schwierig, eine Chronologie aufzustellen (alle Infos sind aus den Medien!):
- Alle ArbeiterInnen der Fabrik haben ein Flugblatt unterschrieben, in dem sie damit drohen, mithilfe der Chemikalien die Fabrik in die Luft zu jagen - für den Fall, daß niemand auf ihre Forderung eingeht, entweder die Fabrik weiterzubetreiben oder ihnen weit mehr Geld zu geben, als ihnen rechtlich im Falle der Arbeitslosigkeit zusteht.
- Die Fabrik ist besetzt, aber offensichtlich nicht mehr unter der Kontrolle der Gewerkschaften. Das Ergebnis dieser Tage bis zum 10. Juli ist die Vernichtung von Material (25 Tonnen Holzpaste, Reifen, Rollen von Gewebe und Holzkarren, die in der Fabrik benutzt wurden usw.). Die Büros sind geplündert und alle Computer verschwunden. Alle die beinahe hundert Jahre alten Bäume werden niedergerissen.
- Während der Nacht vom 5. auf den 6. Juli, eine Stunde nach der Bekanntgabe der Schließung, gibt es an vier Stellen Feuer in der Fabrik, in der Nähe des Reservoirs an Schwefelkohlenstoff, andere ArbeiterInnen, heißt es später, hätten sie mit erheblichen Schwierigkeiten gelöscht. Laut einigen Berichten sind »zehn Prozent der Belegschaft außer Kontrolle«, und am 10. Juli werden sechs ArbeiterInnen der Fabrik verwiesen - unklar durch wen - wegen Sabotage in der Weberei der Fabrik (zu diesem Zeitpunkt gibt es ein Gerücht um einen neuen Interessenten, und die Gewerkschaften wollen »die Dinge in Ordnung bringen«.)
- In einem Flugblatt mit der Unterschrift »der harte Kern von Cellatex«, das in Givet verteilt wird, wird damit gedroht, die Schwefelsäure in den Fluß zu kippen. Wieder beschuldigt man »eine Gruppe unbekannter außer Kontrolle geratener Arbeiter«.
- Der Konkursverwalter, der Präsident des örtlichen Arbeitsamts und der Abgeordnete des Bezirks werden eine Nacht in der Fabrik festgehalten.
- Bei einem Treffen mit verschiedenen Vertretern von Behörden und Gewerkschaften zur Diskussion über die »Zukunft« der Cellatex-ArbeiterInnen gießen einige ArbeiterInnen Benzin auf den Boden im Versammlungsraum und halten gut sichtbar ihre Feuerzeuge hoch, was unter den Versammelten totale Panik auslöst.
Am 10. Juli ist die Lage dermaßen explosiv und offensichtlich außer Kontrolle der Gewerkschaften, daß die Behörden die Stadt in einem Radius von 500 Metern um die Fabrik evakuieren lassen. Wenn die ArbeiterInnen den Schwefelkohlenstoff hochgehen ließen, gäbe das nicht nur eine sehr starke Bombe, sondern es könnte sich auch eine gefährliche Gasmischung über das Land verbreiten. Die Drohung zwingt alle Behörden zum Gespräch über ihre Zukunft, und so ist die Hauptforderung, falls es bei der Schließung bleibt, eine besondere Entschädigung bei Arbeitslosigkeit von 150 000 FF (etwa 45 000 DM) pro Kopf. Da die Gespräche wieder aufgenommen wurden und die Fabrik nicht in die Luft gejagt wird, dürfen die AnwohnerInnen am nächsten Tag wieder in ihre Häuser.
In einer solchen Situation ist es unmöglich, eine Linie zu ziehen zwischen den »Harten« und den »Weichen«. So etwas kann sich verändern, verschieben aufgrund von Gerüchten, des Eingreifens irgendwelcher Beamter, Gewerkschaftsvertreter oder Politiker, dem verschiedenen kollektiven und individuellen Druck. Auch wenn die Woche am Montag, dem 10. Juli, nach einem ersten Ausbruch gewalttätiger Aktionen scheinbar ruhiger anfängt, war die Entschlossenheit aller 153 ArbeiterInnen die gleiche geblieben. Die Fabrik war besetzt, die Eingänge waren mit Barrikaden aus brennenden Reifen versperrt, das Material und das Zubehör (echt oder vorgetäuscht), das benötigt würde, um den Schwefelkohlenstoff zu zünden, deutlich sichtbar aufgestellt. Die Fabrik wurde zu einer Art Festung. Die meisten ArbeiterInnen nehmen am Sit-In teil, Tag und Nacht, und rollierende Schichten zu 25 stehen Streikposten am Eingang und im Innern.
Als Antwort auf ein Projekt mit einem Besuch von Funktionären im Zusammenhang mit einer eventuellen Weiterführung des Betriebs kommt etwas »Disziplin« auf in der Fabrik, begleitet von ein wenig Aufräumen. Während dieser Woche denken alle Autoritäten sicherlich, man könne zu einer Einigung kommen, die ArbeiterInnen erscheinen ruhiger. Überall enden solche Situationen, nach einem ersten Ausbruch der Wut, und sollte es auch Wochen und Monate dauern, damit, daß die entlassenen ArbeiterInnen irgendeinem Sozialplan zustimmen, der sie reibungslos in die Armee der Arbeitslosen einreiht. Dies ist sicherlich die Hoffnung aller Herrschenden, und sie versuchen, dieses Ziel auf verschiedene Weisen zu erreichen. Die erste davon ist, Tag um Tag zu diskutieren und dabei den Gegner zu erschöpfen und die ArbeiterInnen um ihre Entschlossenheit zu bringen.
Aber bei Cellatex haben sie sich verrechnet. Sie haben die Lage unterschätzt und nicht gesehen, daß es sich diesmal um eine neue Situation handelte, die völlig »außer Kontrolle« geraten war. Als die Gespräche keinerlei Fortschritt machen, bitten die ArbeiterInnen am Mittwoch, dem 12. Juli, erneut um eine Evakuierung der AnwohnerInnen (aus den Medien erfahren wir nicht, auf welche Weise die ArbeiterInnen ihren Beschluß fassen und wer für sie spricht, offensichtlich einige Gewerkschaftsdelegierte der CGT). Tags darauf fahren Delegierte (diesmal unterstützt durch den Chef des Chemiezweigs der CGT) nach Paris, um im Arbeitsministerium Gespräche zu führen. Die Lage bleibt sehr angespannt. Als wohlmeinende Behörden unter dem Vorwand der »Sicherheit« die ArbeiterInnen bitten, das Entsorgen der gefährlichsten Chemikalie zu erlauben, hieß die Antwort Nein: »Noch heute, wenige Minuten nachdem die Produkte abgefahren sind, werden die Gespräche eingestellt. ... Solange ich meine Sicherheit nicht habe, werden sie die ihre auch nicht bekommen.«
Diese Gespräche sind nicht sehr erfolgreich, und Montag abend, am 17. Juli um 20.30 Uhr, werden 5000 Liter Schwefelsäure, symbolisch rot eingefärbt, damit die ansonsten farblose Flüssigkeit für die anwesenden Medien gut sichtbar ist, in den Fluß gelassen. Die Feuerwehrleute, die gerufen worden waren, um zu verhindern, daß aus der Drohung der ArbeiterInnen Schäden erwüchsen, hatten dazu offenbar eine Vorrichtung angebracht, die jetzt von den ArbeiterInnen aufgebrochen wurde. Die Folgen der Aktion waren dennoch begrenzt: Mehr als 200 Feuerwehrleute waren am Gelände und eine unbestimmte Anzahl Bullen, die im allgemeinen den Blicken der ArbeiterInnen entzogen waren. Einmal beschwerten sich die BesetzerInnen über Versuche, Zivilbullen auf das Betriebsgelände zu schleusen. Die Feuerwehrleute schaffen es jedenfalls unter dem Schutz der Bullen, eine Art Damm zu bauen und den Fluß zu stauen, so daß die korrosive und umweltgefährliche Flüssigkeit nicht in die Maas und damit nach Belgien und Holland fließen konnte. Die ArbeiterInnen drohen damit, alle zwei Stunden weitere 10 000 Liter der Säure in den Fluß zu leiten. Diese Drohung wurde ständig verschoben und nie ausgeführt. Augenblicklich eingetreten ist dagegen der Effekt der Warnaktion: Die erste Konsequenz war die sofortige Wiedereröffnung der Gespräche auf der Ebene des Zentralstaats. Der Chef der Chemiegewerkschaft verhandelte direkt mit der Arbeitsministerin, um den Rahmen dessen festzulegen, was den ArbeiterInnen für die Aufhebung ihrer Aktion gewährt werden könne, mit gerade soweit gehenden Zugeständnissen, daß eine Spaltung der ArbeiterInnen zwischen dem harten Kern und dem Rest erreicht werden könnte. Der Gewerkschaftsführer ist bereit, eine Schlüsselrolle dabei zu spielen, aber auch er muß mit etwas rüberkommen.
Doch andere Effekte reichten wesentlich weiter: Einerseits reichte das Medienecho in Frankreich und darüber hinaus in Europa (insbesondere in Belgien und Holland, die von einer eventuellen Verseuchung der Maas direkt betroffen gewesen wären; die Regierungen übten Druck aus, zu einer Lösung zu kommen) so weit, daß alle möglichen Leute meinten, sie müßten einen Kommentar zu dieser Arbeiteraktion abgeben, was deren Echo noch einmal verstärkte. Andererseits ging es bei diesem Echo nicht nur um die Fakten selbst und deren mögliche Folgen, sondern um die industrielle Beziehung im Ganzen: beide Seiten, Kapital und Arbeiterseite, beobachteten genauestens diese neue Situation und versuchten, daraus Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Später gab es sogar vor dem Fabriktor und den Streikposten eine Demonstration von ArbeiterInnen aus dem Bezirk zur Unterstützung der BesetzerInnen.
Augenblicklich kam nicht nur die Wiederaufnahme der Gespräche in Gang, sondern was an den Forderungen der ArbeiterInnen vorher verweigert worden war, wurde plötzlich bewilligt. Nicht genau die Forderungen, wie sie aufgestellt worden waren, aber doch soviel, daß die Blockade überwunden werden könnte. Während der Gespräche, zuerst in Paris und dann in Charleville-Mezieres, hielten die ArbeiterInnen in und außerhalb der Fabrik den Druck aufrecht: Auf die großen Feuer am Eingang warfen sie Gummihandschuhe, die normalerweise für die Arbeit verwendet wurden, mit einigen Tropfen Schwefelkohlenstoff, was große Explosionen ergibt. Das diente dazu, die internationalen Medien zu beeindrucken, die sich in Givet versammelten. Einige ArbeiterInnen zeigten Bierflaschen mit etwas mehr der gefährlichen Flüssigkeit, die über einen Docht gezündet gefährliche Molotowcocktails ergaben, mit denen man einen Krater von drei Metern Durchmesser und 50cm Tiefe erzeugen konnte - und gleichzeitig eine giftige Wolke. Gleichzeitig wurden Hunderte Bullen in das Gebiet geholt, aber sie bleiben in einiger Entfernung und außer Sicht.
Nach acht Stunden Gesprächen wurden den Cellatex-ArbeiterInnen am Mittwoch, den 19. Juli, neue Vorschläge gemacht, drei Tage nach dem ersten Schritt zur Umsetzung ihrer Drohungen. Sie stimmen den Vorschlägen einstimmig zu, stimmen damit gleichzeitig der Schließung der Fabrik zu sowie dem Ende ihrer Aktionen. Danach konnte Sicherheitspersonal die Kontrolle über die gefährlichen Chemikalien übernehmen und damit etwaige subversive Aktionen des »harten Kerns« verhindern.
Was haben die Cellatex-ArbeiterInnen erreicht? Um das zu verstehen, müssen wir kurz das französische System der Unterstützungszahlungen an Arbeitslose erläutern: grundsätzlich gibt es Kohle für Entlassene, der Betrag hängt ab von den Jahren, die man in dieser Firma beschäftigt war sowie von der Höhe des Lohns. Arbeitslosengeld in Höhe von 65 Prozent des Lohnes der letzten zwei Jahre, wird regelmäßig gekürzt, mit einigen Anpassungen für Alte und Umschulungsmaßnahmen. Wenn all diese Ansprüche erschöpft sind, besteht das einzige Recht auf Geldzahlungen in einer besonderen Arbeitslosenunterstützung »RMI« (3000 FF im Monat, ca. 900 DM). Die Lage der einzelnen ArbeiterInnen kann sehr unterschiedlich sein, und es ist leichter zu sagen, was sie bekommen, denn das ist eine eher egalitäre Zahlung:
- eine besondere Entschädigung von 80 000 FF (ca. 24 000 DM) pro Kopf (teilweise zu zahlen vom früheren Eigentümer, dem Konzern Rhône-Poulenc); gefordert hatten sie 150 000 FF (ca. 45 000 DM), das ursprüngliche Angebot lag bei 36 000 FF (ca. 10 800 DM).
- eine monatliche Ausgleichszahlung bei Arbeitslosigkeit, so daß sie zwei Jahre lang auf denselben Lohn kommen wie zuletzt in der Fabrik, für alle, die länger als sechs Monate bei Cellatex beschäftigt waren und unabhängig vom individuellen Status. [Nach einem anderen Bericht in der jungle world vom 9.8.2000 gilt die Garantie des Lohnniveaus bei Antritt eines niedriger bezahlten Arbeitsplatzes.]
- einen besonderen Zuschuß bei Umschulungen [laut jungle world s.o.: »Ferner sollen sie an einem zwölfmonatigen Umschulungsprogramm teilnehmen können - 80 Prozent des Lohnes werden fortgezahlt.«]
- eine besondere Einrichtung soll die Umsetzung dieser Übereinkunft überwachen (vermutlich mit einigen Möglichkeiten der Repression ausgestattet, um ein Wiederaufflammen des Kampfes zu verhindern).
Diese für die Cellatex-ArbeiterInnen wichtigen Zugeständnisse sind auf nationaler Ebene noch bedeutender: Im Moment gibt es harte Diskussionen zwischen den Gewerkschaften, den Verbänden der Bosse und der Regierung um eine drastische Reform des Systems der Arbeitslosenunterstützung. Dabei geht es mehr oder weniger darum, arbeitslose ArbeiterInnen zu zwingen, jede Arbeit zu jedem Lohn anzunehmen, mit der Drohung im Hintergrund, nach mehrmaligem Verweigern jegliche Zahlungen gestrichen zu bekommen. In gewisser Weise klingt der Kampf der Cellatex-ArbeiterInnen wie eine Antwort für alle ArbeiterInnen auf derartige Projekte. Im wesentlichen lautet seine Botschaft: Kampf lohnt sich (natürlich nicht jede Art Kampf) und kann all die schmutzigen Tricks des Systems der Arbeitslosenunterstützung entwerten. Der Hall dieses Kampfes wurde für die ArbeiterInnen dadurch noch verstärkt, daß die politische Macht bereits seit einiger Zeit behauptet, die Wirtschaft sei am Aufblühen, und daß alle Institutionen einschließlich des Staats viel mehr Geld hätten als üblicherweise vorhanden.
Als der ungewöhnliche Kampf vorbei war, standen die zahllosen Kommentare im Verhältnis einerseits zum Echo unter den ArbeiterInnen und andererseits zur Angst der Leute in der herrschenden Klasse, solche Kämpfe mit unvorhersehbaren Folgen wieder aufflammen zu sehen. Die Soziologen wurden mobilisiert. Jemand meinte, Cellatex sei »die Geschichte derer, die sich in den Märchen von der Internet-Revolution, dem boomenden Wachstum und den immer kürzer werdenden Schlangen im Arbeitsamt nicht wiedererkennen.« Die Gewerkschaften, die von der Ministerin für ihr verantwortliches Handeln gelobt wurden, stimmen überein: »Die Verhandlung bleibt der Wert, in den die Gewerkschaftsbewegung ihr Vertrauen setzt.« Einige Politiker sind sich dessen bewußt, daß solche Drohungen das System als Ganzes gefährden. Der Innenminister kann abrupt erklären: »Es kann nicht angehen, solch ökonomischen Terrorismus zu tolerieren.« Ein anderer Minister führt deutlicher aus, was unter »Ökoterrorismus« verstanden wird: »Das Problem ist nicht die Menge an Säure, die in den Fluß geleitet wurde. Es ist die Tatsache, daß das Einleiten gewollt und kollektiv organisiert war. Noch nie gab es eine solche Handlungsweise in der Industrie.« Tatsächlich war Cellatex eine der »umweltschädlichsten« Fabriken in Frankreich gewesen, ganz vorne bei Verschmutzungen mit Zink, bei Ölprodukten die Nummer Zwei und an 28. Stelle bei krebserregenden Produkten. Bei voller Produktion leitete die Fabrik Woche für Woche dieselbe Menge an Schwefelsäure in den Fluß, wie die Arbeiter nun auf einmal hineingekippt hatten.
Ein Soziologe erklärt, daß ein solcher Kampf den »Verlust einer kollektiven Kultur« bedeute. Angewendet auf die vorherrschende Ideologie, daß ArbeiterInnen und Management als »verantwortungsvolle Personen« Hand in Hand arbeiten müssen, hat er in gewisser Weise recht. Lange Zeit galt bei den Gewerkschaften in Kämpfen das Leitmotiv »Schutz der Produktionsmittel«, und die Gewerkschaften waren auch in der Lage, diese Linie durchzusetzen. Der Kampf bei Cellatex enthüllt etwas völlig anderes: Was soll dieser »Schutz« sein, wenn diese Produktionsmittel durch den Kapitalismus selbst zerstört werden? Warum dann das Material nicht als Waffe für den Kampf verwenden? Zu Zeiten, in denen eine Menge Fabriken und Jobs verlagert werden, ausschließlich gemäß den kapitalistischen Interessen, fühlen sich die ArbeiterInnen keineswegs gefangen in dieser Ideologie, nach der sie die Produktionsmittel schützen müßten, die ihnen früher einmal Arbeit und Lohn gaben. Es ist kein daher kein Zufall, daß der Kampf bei Cellatex auf ein solches Echo stieß, und ungeachtet aller öffentlichen Erklärungen folgten diesem Kampf andere, die exakt denselben Charakter aufwiesen.
Dieselbe Kampfform breitet sich aus
Zwei Wochen, nachdem der Kampf bei Cellatex beendet war, benutzten ArbeiterInnen in verschiedenen Teilen Frankreichs dieselbe Drohung wie die Cellatexbelegschaft, um zu bekommen was sie forderten, auch wenn ihre Situation etwas anders war. Aber dieses Mal wurden die Kämpfe in den Medien nicht sehr breit veröffentlicht, das macht es nicht so einfach, Details zu berichten (diese halbe Zensur folgt sicherlich aus der Notwendigkeit für die Herrschenden, diese Kämpfe zu deckeln, um eine eventuelle Ausweitung zu verhindern). Ohne genaueres Wissen darüber, wie diese Kämpfe begannen und sich entwickelten, hier also einige Einzelheiten:
Forgeval - Valenciennes, Industriestadt mit 50 000 Einwohnern im Norden Frankreichs, nicht weit von Givet, ebenfalls hohe Arbeitslosenrate. Dieser Kampf findet gleichzeitig mit Cellatex statt. Wir können nichts darüber sagen, ob es die gemeinsame Konsequenz aus derselben Situation war oder der Einfluß eines Kampfes auf den anderen. Diese Metall-Fabrik mit 127 Beschäftigten wird am 10. Juli für bankrott erklärt und alle ArbeiterInnen entlassen. Die Drohung ist derselben Art wie bei Cellatex: Der Betrieb lagert 36 000 Liter entflammbaren Öls, das stellen sie unter die wertvollen Pressen und drohen damit, sie anzuzünden. Außerdem drohen sie auch damit, Öl in einen nahegelegenen Kanal zu schütten. Flaschen mit Acetylen haben sie in Reifen aufgestellt als Explosivwaffen. Die Drohung besteht darin, all das effektiv zu benutzen, falls sie auf ihre Forderungen nach Aufbesserung ihrer Entschädigungszahlungen und ihrer Rechte nicht die entsprechende Antwort bekommen. Sie bekamen schnell, was sie forderten. Keine weiteren Details.
Adelshofen - Schiltigheim, Vorort von Strasbourg, Elsaß, im Osten Frankreichs, Arbeitslosenrate 5,7 Prozent, weit unter dem nationalen Durchschnitt. Eine Brauerei mit 400 Beschäftigten, gehört zur internationalen Gruppe Heineken, die diese Fabrik schließen will und nach St. Omer im Norden Frankreichs verlagern. Laut den ArbeiterInnen ist die Fabrik lebensfähig und sie haben keine Ahnung, warum sie geschlossen werden soll. Eine Verbindung zu Cellatex ist nicht erkennbar. In 22 Jahren gab es in dem Betrieb nur einen einzigen Streik. Die Nachricht von der Schließung ist nicht neu, seit Monaten waren die ArbeiterInnen informiert worden, und die Gewerkschaften hatten ihnen, um die Schließung zu verhindern, immer nur Demonstrationen vorgeschlagen, die sich, einberufen und kontrolliert durch die Gewerkschaften, jedoch immer nur ohne Effekt wiederholten. Die neue Kampfform begann am 19. Juli: Der Personalchef wird in der besetzten Fabrik festgehalten; die Basisdelegierten verweigern weitere Diskussionen im Betriebsrat. Die Flaschen mit dem Gas, das für die Gabelstapler in der Fabrik benutzt wurde, könnten zum Zünden zweier Behälter mit Ammoniakgas verwendet werden. Die ArbeiterInnen kippen 68 000 Liter Bier auf die Straßen der Stadt und blockieren den gesamten Verkehr um die Fabrik. Schließlich akzeptieren sie eine Vereinbarung über eine teilweise Schließung der Fabrik, höhere Entschädigungszahlungen und Garantien für die Jobs der Nichtentlassenen.
BFEF - Bertrand Faure, Zulieferer beim Autohersteller PSA-Peugeot, Sitzehersteller in Nogent-sur-Seine, 5000 Einwohner, etwa 100 km südöstlich von Paris. Anfang September muß die Fabrik (236 Arb., davon 80 Prozent Frauen) schließen, weil die gesamte Produktion nach Asien verlagert werden soll. Die Besetzung beginnt am 27. Juli und geht Tag und Nacht, um einen eventuellen Abtransport der Maschinerie in der Ferienzeit (August) zu verhindern. Sie drohen damit, die Fabrik niederzubrennen sowie die fertigen Sitze und Gasflaschen hochzujagen (die Fabrik ist in der Nähe eines AKW), wenn bis zum 1. August bei den Verhandlungen nichts Neues passiert.
[Laut jungle world vom 9.8.00 gab es je nach Betriebszugehörigkeit zwischen 40 000 und 80 000 FF (12 000 bzw. 24 000 DM)]
CEE - Continentale d'Equipments Electriques - Meaux, weit draußen gelegene Vorstadt im Osten von Paris, 146 ArbeiterInnen. Der Betrieb hat fusioniert mit einer Société Française Industrielle de contrôle et d'equipment, die die gleiche Art Elektrozubehör herstellt. Von 188 ArbeiterInnen in verschiedenen Betrieben werden nur 69 ihren Job behalten. Meaux trifft es dabei am härtesten. Als am 20. Juli 80 Namen von entlassenen ArbeiterInnen (von denen einige schon 30 Jahre in der Firma arbeiten) per Fax hereinkommen, beginnt der Streik mit einer Besetzung. Sie machen ein »symbolisches« Feuer nahe der Fabrik und fordern dieselben Zugeständnisse wie bei Cellatex (80 000 FF und volle Löhne für zwei Jahre). Der Ausgang ist uns nicht bekannt. [nach H.S., Paris]
Zum Streik bei Cellatex
Es geht mir nicht darum, einen Kampf zu bekritteln, aber im Gegensatz zu Henri Simon will ich zuerst die Fakten darlegen und dann eine Analyse der Bewegung versuchen und nicht von Anfang an wunderbare, neuartige oder radikale Aspekte behaupten.
Cellatex ist eine Fabrik mit 153 Beschäftigten, die ein obsoletes Produkt herstellen: Viskose) in einer ausgebrannten Region mit über 22 Prozent Arbeitslosigkeit. Der Unternehmer will die Fabrik schließen.
Was tun die Arbeiter von Anbeginn der Bewegung am 5. Juli an? Sie greifen nicht den Patron an (z.B. andere Beschäftigte in anderen Fabriken derselben Unternehmensgruppe besuchen), sondern sie wenden sich zuerst an den Staat (Präfekt der Region, Arbeitsministerin), damit diese sie aus der Situation herausholen, und sie verschanzen sich in der zur »Festung« umgewandelten Fabrik. Diese Haltung hat die Zustimmung der Arbeiter, denn ungefähr 107 Beschäftigte von 153 beteiligen sich in Schichten von 25 an der nächtlichen Besetzung.
Was die Originalität dieser Bewegung ausmacht ist die Tatsache, daß die Gewerkschaften die Karte der Vermittlung bis zum Letzten ausspielen. Und um das tun zu können, schwenken sie die Drohung »alles in die Luft zu sprengen« mit 47 000 Liter Schwefelkohlenstoff (heute weiß man, daß das nie in ihrer Absicht lag). Das genügte, um am 12. Juli mit Verhandlungen zu beginnen.
Zitat: »Einige ArbeiterInnen zeigten Bierflaschen mit etwas mehr der gefährlichen Flüssigkeit, die über einen Docht gezündet gefährliche Molotowcocktails ergaben, mit denen man einen Krater von drei Metern Durchmesser und 50 cm Tiefe erzeugen konnte - und gleichzeitig eine giftige Wolke.« Nein, das ist die Leimrute, lediglich eine nicht-explosive Mischung, die unter der Aufsicht eines Spezialisten der Feuerwehr zusammengemixt wurde (siehe Libération vom 21.7.00)!
Um während der Verhandlungen den Druck zu erhöhen, beschließen die Gewerkschaften, am 17. Juli die Fässer mit einer Schwefelsäuremischung in einen Arm der Mass zu kippen. Diese medial perfekt inszenierte Aktion griff ebenfalls nicht den Unternehmer an. Man könnte sogar ihren Sinn hinterfragen. Nur wenige »Entnervte« haben am 20.7. gegen das Aussetzen des »Kampfs« gestimmt, weil sie naiverweise gedacht hatten, man würde die Fabrik in die Luft sprengen. Das sind sicherlich diejenigen, die am 15.5. ein Flugblatt rumgegeben hatten (dessen Inhalt ich leider nirgendwo habe finden können), das mit »der harte Flügel von Cellatex« unterschrieben war.
Die Streikenden haben erhebliche finanzielle Zugeständnisse erhalten, aber an ihrem Kampf war nichts Neues, keine Rückbesinnung auf die »direkte Aktion« oder eine Rückkehr zum »Anarcho-Syndikalismus«. Die von den Delegierten gewollte Vermittlung wurde durch Erklärungen von verschiedenenen Seiten vervollständigt. Während die Delegierten offensichtlich die Aktion unterstützten, hat der Verantwortliche der Textilabteilung der CGT (C. Larose) nichts dagegen unternommen, als er sagte, er sei nicht einverstanden. B. Thiault, der Chef der CGT, erklärte, das sei nicht sein Problem, und R. Hue (Chef der KPF) hat zu erkennen gegeben, er sei gegen eine solche Art von Aktion. Die Sozialistische Partei hat angegeben, daß sie die Verzweiflung der Arbeiter verstehe, daß aber so etwas nicht korrekt sei. Die Trotzkisten (LCD, LO) haben die Aktion unterstützt.
Ein positiver Punkt bleibt: es wurde begonnen das Arbeitswerkzeug in Frage zu stellen - aber es ist ein nicht realisierter Anfang geblieben.
C., Paris