Wildcat-Zirkular Nr. 59/60 - Juli/August 2001 - S. 6-8 [z59parad.htm]


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Zirkular: [Nr. 59/60] [Ausgaben] [Artikel]

Was ist dran am »Paradigmenwechsel«?

- Vorbemerkung zum Migrations-Teil -

»So bleibt nur die Wahl zwischen einer maßvollen Zuwanderung mit dem Ziel, die Probleme zu mildern, die bei abnehmender Bevölkerung entstehen, oder dem Versuch, die Verhältnisse auch ohne Zuwanderung stabil zu halten. Der zweite Weg erscheint allerdings wenig realistisch angesichts wachsenden Migrationsdrucks aus Ländern der Dritten Welt, der in Zukunft kaum geringer werden dürfte.« (Klaus Natorp, Weniger werden wir auf jeden Fall, FAZ 30.11.00)
»Sicher ist es der Wille des Kapitalisten, zu nehmen, was zu nehmen ist. Uns kommt es darauf an, nicht über seinen Willen zu fabeln, sondern seine Macht zu untersuchen, die Schranken dieser Macht und den Charakter dieser Schranken.« (Karl Marx)

Als am 4. Juli 2001 die von der Regierung bestellte Kommission »Zuwanderung« ihren Bericht vorlegte, blieb alles so unklar wie bisher. Die Unternehmer reagierten prompt mit dem Vorwurf, ihr Bedarf an zusätzlicher Arbeitskraft werde von der Kommission mit der genannten Größenordnung von zunächst 50 000 Zuwanderern weit unterschätzt, und zudem habe sie die notwendigen Reformen des Arbeitsmarktes vernachlässigt, mit denen mehr Druck auf das hier ansässige Arbeitskraftpotential gemacht werden müsse - allerdings hat die Kommission dieser Frage sogar ein eigenes Kapitel gewidmet und betont den Zusammenhang zwischen neuen Zuwanderungskonzeptionen und durchgreifenden Reformen des Sozialstaats und Arbeitsmarktes. Die CDU verwarf den Bericht der Kommission rundweg, obwohl die inhaltliche Nähe zu ihren eigenen Überlegungen kaum zu übersehen war. Hier geht es in erster Linie um die noch nicht entschiedene Frage, ob Migration und Rassismus als leicht zu bedienendes Thema für den Bundestagswahlkampf offengehalten werden soll.

Verunsicherung beherrscht auch die Diskussionen in Flüchtlingsgruppen und antirassistischen Initiativen. Obwohl die Kommission selbst vom »Paradigmenwechsel« spricht, scheinen ihre Vorschläge in Frage zu stellen, ob es tatsächlich zu einer grundlegenden Änderung kommen wird. Die genannte Größenordnung von zugelassener Einwanderung bleibt weit hinter dem zurück, was in den letzten Monaten von Kapitalseite oder aufgrund der prognostizierten Bevölkerungsentwicklung an Bedarf angemeldet wurde, und wirkt wie eine bloß moderate Ausweitung des »Greencard«-Konzepts für Hochqualifizierte. Im Gegenzug widmet sich die Kommission ausführlichst der Beschleunigung der Asylverfahren, der lückenloseren Überwachung und Kontrolle von Einwanderern (z.B. durch den Ausbau des Ausländerzentralregisters) und der forcierten Abschiebung der Illegalisierten. Sie versucht nach allen Seiten hin einen politischen Kompromiß zu formulieren - sicher auch in Hinblick auf die Bundestagswahl, um eine Entwicklung wie in Hessen zu verhindern. Den Unternehmern wird eine allmähliche Ausweitung im Rahmen der nun »gestalteten Zuwanderung« versprochen, humanitäre Gruppen werden mit Vorschlägen zu Schulbesuch und Gesundheitsversorgung von »Illegalen« sowie »antirassistischer« Aufklärungsarbeit bedient, der politischen Mobilisierung des Rassismus wird der Ausbau des Grenz- und Abschiebungsregimes und die deutliche Unterscheidung zwischen erwünschten, d.h. nützlichen, und unerwünschten Einwanderern entgegengehalten.

Dabei ist die Unklarheit der Situation nicht nur durch den anstehenden Wahlkampf bestimmt, sondern ebenso durch die Ungewißheit der weiteren Wirtschaftsentwicklung: in einer Situation wirtschaftlicher Krise und steigender Arbeitslosigkeit wird die Frage der Migration nochmal ganz anders diskutiert werden, als in den letzten Jahren, als in vielen Bereichen tatsächlich Engpässe an Arbeitskräften auftauchten - zumindestens an solchen, die zu den gebotenen Bedingungen zur Arbeit bereit waren. Dies bedeutet aber nicht, dass die Gier des Kapitals nach neuer Arbeitskraft damit obsolet würde - wie es eine rein technisch-rechnerische Betrachtung des Arbeitsmarktes unterstellt. In der ganzen Zuwanderungsdebatte geht es nie allein um die Frage des zahlenmäßigen Ausgleichs »fehlender« Bevölkerung oder Arbeitskräfte, sondern um eine neue Durchmischung der Klassenbeziehungen und das Aufbrechen von Rigiditäten auf dem Arbeitsmarkt. In dem nachfolgenden Thesenpapier gehen wir genauer darauf ein.

Die Verunsicherung innerhalb der antirassistischen Politik beruht auch darauf, dass der sichtbare Schwenk in der politischen Diskussion genauso wie im Bereich »Antifa« das eigene Lager polarisiert: nach Jahren der Niederlagen in den eigenen Kampagnen gegen das staatliche Grenzregime keimt bei den einen die Hoffnung, nun mit dem Rückenwind der unternehmerischen Interessen wenigstens kleine Verbesserungen der Einwanderungsmöglichkeiten »erreichen« zu können und sich daher mit Legalisierungskonzepten direkt oder indirekt an dieser Wende der staatlichen Politik zu beteiligen. Bei anderen, die den Zusammenhang zwischen Rassismus und dem Gesellschaftssystem des Kapitals nicht ganz aus den Augen verloren haben, fordert gerade dieser Rückenwind zur Kritik heraus, bedeutet er doch die systematischere Selektion der Einwanderer nach den Kriterien der Verwertbarkeit, d.h. ihrer Nützlichkeit für die Ausbeutung. In der Parole »Jeder Mensch ist ein Experte« schwingt dieser positive Bezug auf die Nützlichkeit mit: »Experten« sind Menschen immer nur im Hinblick auf egal wie bestimmte äußerliche Anforderungen; wenn ich für was auch immer »Experte« sein muß, um Zutritt zu bestimmten Lebensbedingungen zu erhalten, liegt darin schon die Negation meiner eigenen Bedürfnisse.

Hinter diesem Streit bleibt aber das grundsätzlicher Dilemma verborgen, dass beide Seiten nicht den Rahmen einer auf den Staat bezogenen Kampagnenpolitik »für Flüchtlinge« verlassen. Auch wir plädieren in den folgenden Beiträgen massiv dafür, uns mit den Veränderungen in der Einwanderungspolitik auseinanderzusetzen - aber in einem anderen Sinn. Statt im Bezug auf den Staat den Mythos der Machbarkeit und Planbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zu zementieren - das ist eines der wesentlichen propagandistischen Anliegen der Süssmuth-Kommission: »Gestaltung«! -, geht es uns um die Grenzen ihrer Macht und Machbarkeit. Wir plädieren dafür, uns auf die Konflikte und Kämpfe zu beziehen, die sich mit der absehbar zunehmenden Einwanderung (ob »legal« oder »illegal«) entwickeln werden. Dabei geht es uns gerade nicht um eine Beteiligung an der staatlichen Ausgestaltung dieser Zuwanderung, sondern um den Bezug auf die Momente von Rebellion und sozialem Kampf, die mit der proletarischen Neuzusammensetzung verbunden sind.


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Zirkular: [Nr. 59/60] [Ausgaben] [Artikel]