Die Situation der MigrantInnen in Buenos Aires
Seit dem 3. Dezember 2001 - als die Bankguthaben eingefroren und später der 1:1-Umtausch des Peso gegen den Dollar aufgekündigt wurde - verlassen die bolivianischen und peruanischen MigrantInnen in Scharen das Land. Mit Fernsehern, Kühlschränken und anderem, wenn möglich.
Die Situation der lateinamerikanischen MigrantInnen vor dem währungspolitischen Angriff lässt sich folgendermaßen beschreiben: Drei Millionen Menschen aus Bolivien, Peru und Paraguay sollen in den letzten Jahren mehr oder weniger heimlich in die Großregion um Buenos Aires eingewandert sein; sie bauen - meist auf öffentlichem Niemandsland in der ausufernden Stadtlandschaft - 85 Prozent (!) des Gemüses und der Früchte an, die die Menschen in der Region verzehren - während Argentinien nach wie vor Agrarprodukte auf den Weltmarkt exportiert (v.a. Getreide und Fleisch).
Zudem stellen sie einen großen Anteil der Hausangestellten und Bauarbeiter, der Textilarbeiterinnen und der urbanen Servicearbeiter wie Boten und Frischwaren-Ausfahrer. 1998 waren im legalen, formellen Arbeitssektor von Buenos Aires acht Prozent NichtargentinierInnen beschäftigt. Hinzu kommt, dass der Beschäftigungsanteil des informellen Sektors in Argentinien inzwischen bei ungefähr 40 Prozent liegen soll - und hier arbeiten die meisten MigrantInnen. Eine Haushaltsangestellte verdient ca. fünf Dollar pro Stunde - 400 $ im Monat, wenn sie bei der Familie wohnt und ganztätig arbeitet. Auf dem Bau kommt man als Facharbeiter auf 30 bis 50 $ am Tag, Unqualifizierte auf etwa 300 $ im Monat im Dienstleistungsbereich. In Paraguay oder Bolivien erreicht man hingegen kaum 80 $ im Monat. Zudem ist das Schul- und Bildungswesen in Argentinien nach wie vor gratis, und eine Mindestversorgung in den Krankenhäusern wird staatlich garantiert.
Buenos Aires galt seit über hundert Jahren als so europäisch und urban wie keine andere Metropole auf der südlichen Halbkugel. Seit zehn Jahren findet eine Ruralisierung und Indianisierung der Großregion statt.
Die lateinamerikanischen EinwandererInnen finden keinen regulären Platz in der Gesellschaft, haben aber eine Erwartung auf soziales Glück und eine bessere Zukunft, die sich von keiner Währungskrise oder Austeritätspolitik hat zähmen lassen. Seitdem es die Einwanderung aus den anliegenden Ländern gibt, versucht der Staat, diese MigrantInnen behördlich einzukreisen, die Einwanderung zu regulieren. Dadurch hat sich eine Einwanderungs-Bürokratie herausgebildet, wie wir sie aus der BRD kennen. Zur Jahreswende 1998/99 hat die Regierung ein neues Migrationsgesetz lanciert: Kriminalisierung der heimlich Eingereisten, der kommerziellen Fluchthilfe und der Beschäftigung von Illegalen, und »rigorose Kriterien bei der Selektion von Ausländern, wenn sie sich niederlassen wollen«. Zwei Jahre zuvor war genau das gleiche Gesetz im Parlament gescheitert, nur ein Paragraf wurde 1998 nicht wieder vorgelegt: finanzielle Belohnung für die Anzeige einer Person ohne legalen Aufenthalt.
Seit 1997/98 verschärfen Polizei, Politiker und Medien die Hetze gegen die lateinamerikanischen ImmigrantInnen: z.B. nahm allein das Kommissariat des Viertels Once (Innenstadt) 1998 täglich durchschnittlich 52 NichtargentinierInnen fest, insgesamt 12 500. Offiziell wurden 1998 ca. 5 000 Personen abgeschoben. Im Januar 1999 verhaftete die Polizei von Buenos Aires in einer Woche 1 500 illegale lateinamerikanische Migranten. 1998 bekam Siemens einen Großauftrag zur Herstellung neuer Ausweise, Errichtung von Wahlregistern (vergleichbar mit Landeseinwohnerämtern) und zur Ausstattung von 175 Grenzübergängen mit Kontrollinformatik.
Zugleich verschärft sich der allgemeine Rassismus auf der Straße gegen indianisch Aussehende. Der Rassismus der aus Europa Eingewanderten hatte immer etwas Absolutes: die Existenz von Menschen indianischer Abstammung wird bis heute in breiten Kreisen schlichtweg geleugnet. Es gebe keine Argentinier indianischer Herkunft, war und ist Mehrheitsmeinung.
Die halblegale Einwanderung und die Kontrolle von Aufenthalt und Arbeit in der Region hat einen Markt an informellen Dienstleistungsagenturen geschaffen, in der Vermittlungslücke zwischen Behörden und Migranten. Schon bei der Einreise beginnt das Geschäft der Agenturen. Als Touristen Einreisende müssen 1 500 $ vorweisen. Für eine Stunde kann man sich das Geld z.B. von Busgesellschaften borgen, zu einer Leihgebühr von 10 Prozent. Eine behördliche Wohnsitz-Anmeldung von MigrantInnen in Buenos Aires kostet 200 $. Man braucht u.a. eine Geburtsurkunde, ein Führungszeugnis und eine Einreisebestätigung. Es gibt Kleinunternehmen, die für ein Mehrfaches der 200 $ alles erledigen, noch dazu, ohne dass man Monate, wenn nicht Jahre bei den Behörden warten muss. ...
Auszug aus: »Argentinien 2002 - Arbeitspapier der Materialien für einen neuen Antiimperialismus, März 2002«