John Holloway: Schritte in die falsche Richtung [rhe8holl.htm]


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Schritte in die falsche Richtung

oder

Mephisto statt Franz von Assisi

John Holloway (in: Historical Materialism, No. 1, 2002)

Toni Negris Werk ist ungeheuer anziehend, nicht nur seiner eigenen Vorzüge wegen, sondern auch deshalb, weil es auf ein verzweifeltes Bedürfnis antwortet. Wir wollen alle wissen, wo es nach vorn geht. Das alte staatszentrierte Modell der Revolution ist in katastrophalem Maße gescheitert. Der Reformismus zeigt sich zunehmend korrupt und öde. Zugleich wird revolutionärer Wandel dringlicher denn je. Negri weigert sich, damit aufzuhören, die Revolution neu und immer wieder neu zu denken. Darin liegt die die große Anziehungskraft seines Werks. Das Problem besteht darin, dass er uns in die falsche theoretische Richtung führt.

Negri und nun auch Michael Hardt, der als Mitautor von Empire an seine Seite tritt, wollen die marxistische und revolutionäre Theorie nicht als negative, sondern als positive Theorie entwickeln. Daraus ergeben sich wichtige Folgerungen im theoretischen und politischen Feld wie auch für die gesamte Analyse, die in Empire entwickelt wird.

1. Teil

Hinter der Analyse von Empire steckt eine theoretische Bewegung, eine Erstarrung des autonomen Impuls. Bevor wir uns mit der Analyse selbst beschäftigen, müssen wir uns hiermit beschäftigen.

Wie ein oft zitierter Passus von Tronti belegt, hatte der autonome Marxismus die Bühne mit wütender Kraft betreten:

»Auch wir haben zuerst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Fehler. Man muss das Problem umkehren, das Vorzeichen vertauschen, noch mal am Anfang beginnen: Und der Anfang ist der Klassenkampf.« [1]

Die Kraft der autonomen Theorie rührt daher, dass sie ausdrücklich vom Subjekt, von der Arbeiterklasse, ausgeht. Sie nimmt für sich in Anspruch, eine Theorie vom Kampf zu sein, nicht aber eine Theorie der Rahmenbedingungen von Kämpfen, worauf die Hauptströmung des Marxismus hinausläuft. Als treibende Kraft der sozialen Entwicklung, als Schlüssel für die wechselnden Formen des Kapitalismus sieht sie den Kampf der Arbeiterklasse. Sie regt dazu an, über die Gesellschaft ausgehend nicht vom Unterdrückungspotential des Kapitalismus, sondern von unserem Potential nachzudenken, und eröffnet damit unmittelbar die Perspektive einer revolutionären Umformung der Gesellschaft durch unsere schöpferische Energie. Wo die orthodoxe Theorie schließt, öffnet der autonome Impuls.

Im Kern des autonomen Projekts gibt es jedoch schon immer eine Spannung. Einerseits ist der Kampf negativ geprägt, »Kampf-gegen«, ein immer im Fluss befindliches, nie ausdefiniertes Dagegensein, ständig den Begrenzungen durch die kapitalistische Unterdrückung zuwiderlaufend und über sie hinaus. Eine auf den Kampf gegründete Theorie muss eine verneinende Theorie sein, eine Theorie der Negation. Was nicht bedeutet, dass es unwichtig wäre, die sich wandelnden Formen des Klassenkampfs zu verstehen. Eine Theorie des Kampfes geht jedoch davon aus, dass diese Formen eben exakt als solche zu verstehen sind, als unstete Formen, plastische Formen, die sich nicht abmarken und ausdefinieren lassen, als Kampfformen, die sich selbst beständig negieren, Formen, die nicht einschließen, sondern überfließen. Wie der Kampf selbst, so zeigt sich auch die Kampftheorie negativ, offen, definitionsfeindlich.

Andererseits gab es in der tatsächlichen Entwicklung der autonomen Theorie [2] immer die Tendenz, zu versuchen, die Kämpfe positiv zu verstehen. Trotz der »kopernikanischen Wende des Marxismus« [3], als welche die Autonomie sich darbot, behielten die theoretischen Grundannahmen orthodoxer Autoren (z.B. Della Volpe und Lenin) fortdauernden Einfluss auf die autonomen Theoretiker. Im Ergebnis hat dies in der Autonomie zu einer Spannung zwischen der ruhelosen Negativität der Kämpfe einerseits und dem auf Abgrenzung zielenden Schub der positiven Theorie andererseits geführt. So hat man beispielsweise die Methode der Arbeiterbefragung von ihrer Beziehung zur Soziologie her problematisiert, und die autonom inspirierte Untersuchung der wirklichen Bedingungen von Klassenkämpfen ist nicht selten als Industriesoziologie verpufft. So wurde im Übermaß praktische und theoretische Energie auf das Problem der Definition der Arbeiterklasse und der gegebenen Klassenzusammensetzung verwendet, wo doch die Arbeiterklasse, versteht man sie als Kampf, undefinierbar bleibt. Auch tendierte der Begriff der Klassenzusammensetzung zeitweilig zur Erstarrung, zur Verallgemeinerung, ausgehend von den Erfahrungen einer bestimmten Arbeitergruppierung, und zur Projektion dieser Erfahrungen in ein Verständnismodell für den Klassenkampf überhaupt. Immer weniger wurde auch wahrgenommen, wie sich Kapital und Anti-Kapital wechselseitig durchdringen (was Marx auf den Begriff des Fetischismus brachte - eine von der autonomen Theorie wenig beachtete Kategorie), so dass man sich das Subjekt der Kämpfe als dem Kapital äußerlich vorstellte und die Arbeiterklasse als reines Subjekt und den kommunistischen Militanten als den Reinsten der Reinen imaginierte. All dies soll nicht heißen, dass der autonome Ansatz aufgegeben werden sollte. Ganz im Gegenteil. Die Ruhelosigkeit der Kämpfe sorgt dafür, dass der Ursprungspunkt des autonomen Impulses nichts von seiner Schärfe verliert, dies jedoch in Gegenbewegung zu einer Positivierung der Theorie, die immer wieder droht, ihn stumpf zu machen. Formulieren wir es so: Den autonomen Ansätzen ist es oft nicht gelungen, die Negativität ihres ursprünglichen Impulses so radikal zu entwickeln, wie es dieser eigentlich impliziert hätte. [4]

Vielleicht mehr als alle anderen hat gerade Negri sich bemüht, dem autonomen Denken eine positive, ontologisch gesicherte Grundlage zu geben, vor allem in den letzten Jahren. In Die Wilde Anomalie [5] beschäftigt er sich mit Spinoza, um der Theorie vom Kampf eine positive Grundlegung zu verschaffen. Hier bewegt er sich, überraschenderweise vielleicht, in den Fußstapfen Althussers, der sich Spinoza zugewandt hatte, als er versuchte, seine Theorie des Kapitalismus als einen Prozess ohne Subjekt tragfähig zu machen. [6] Negri begreift den Kapitalismus nicht als einen Prozess ohne Subjekt, jedoch bleibt das dabei auftretende Subjekt ein merkwürdig abstraktes, totes Subjekt. In diesem Werk behauptet er in seiner Beschäftigung mit Spinoza, die gesellschaftliche Entwicklung, oder genauer gesagt, die »Genealogie gesellschaftlicher Formen« sei »kein dialektischer Prozess: Negativität kommt in ihr nur in dem Sinne vor, dass man Negativität als feindliche Kraft versteht, als Bezugspunkt, der zerstört werden, als Raum, der besetzt werden muss, nicht als Motor des Prozesses«. [7] Der Motor des Prozesses ist positiv: das unablässige Drängen des Seins zu seiner eigenen Befreiung. [8] Ihm geht es darum, einen Begriff der revolutionären Kraft (die potentia der Menge) im Sinne eines positiven, nicht-dialektischen, ontologischen Begriffs zu entwickeln. Autonomie versteht sich hier unausgesprochen als der vorhandene positive Drang der potentia der Menge, welcher die potestas (die Macht der Herrscher) auf immer neues Terrain treibt.

Das Subjekt als etwas Positives zu behandeln, hat seinen Reiz, läuft aber unvermeidlich auf eine Fiktion hinaus. In einer Welt, die uns entmenschlicht, können wir als Menschen nur negativ existieren, im Kampf gegen unsere Entmenschlichung. Wer das Subjekt als positiv autonom versteht (und nicht als potenziell autonom), gleicht einer Gefangenen, die sich in der Zelle als schon Befreite imaginiert: ein verführerischer und belebender Gedanke gewiß - tatsächlich aber eine fiktive Vorstellung, eine Fiktion, die leicht zu weiteren Fiktionen führt, bis hin zur Konstruktion einer kompletten fiktiven Welt.

2. Teil

Die Probleme, die notwendig in der Positivierung der Kampftheorie liegen, werden in Hardt und Negri's Empire deutlich.

In Empire untersuchen die Autoren das Terrain, auf das in der Gegenwart der Kampf der Arbeiterklasse (die potentia der Menge) das Kapital getrieben hat. Empire wird als das neue Paradigma der Herrschaft vorgestellt:

»Im Gegensatz zum Imperialismus etabliert das Empire kein territoriales Zentrum der Macht, noch beruht es auf von vornherein festgelegten Grenzziehungen und Schranken. Es ist dezentriert und deterritorialisierend, ein Herrschaftsapparat, der Schritt für Schritt den globalen Raum in seiner Gesamtheit aufnimmt, ihn seinem offenen und sich weitenden Horizont einverleibt. Das Empire arrangiert und organisiert hybride Identitäten, flexible Hierarchien und eine Vielzahl von Austauschverhältnissen durch abgestimmte Netzwerke des Kommandos. Die unterschiedlichen Nationalfarben der imperialistischen Landkarte fließen zusammen und münden in den weltumspannenden Regenbogen des Empire.« [9]

Es liegt ein Wandel in der Souveränität vor, ein »allgemeiner Übergang vom Paradigma der modernen Souveränität hin zu einem Paradigma der Empire-Souveränität«. In letzterem lässt sich Souveränität nicht mehr territorial im Nationalstaat oder überhaupt an irgendeinem bestimmten Ort verorten. Nicht einmal die Vereinigten Staaten, die doch im Netzwerk der Macht eine besonders bedeutsame Rolle spielen, sind mehr der Ort der Macht, so wie es die imperialistischen Mächte früherer Epochen waren. Eine Folgerung hieraus wäre wohl, dass es keinen Sinn mehr hat, sich revolutionäre Transformation als Übernahme der Staatsmacht vorzustellen. [10]

Innerhalb dieses neuen Paradigmas gibt es keinen Ort der Herrschaft mehr und deshalb auch kein Innen und kein Außen, und ebensowenig gibt es noch irgendeinen äußeren Standpunkt. Empire ist ein allumfassendes Herrschaftssystem, die jüngste Neuformulierung dessen, was Negri früher als »gesellschaftliche Fabrik« oder als »integrierten Weltkapitalismus« beschrieben hatte. [11] Das heißt nicht, dass aller Widerstand und jede Veränderung unmöglich gemacht wäre. Ganz im Gegenteil: Der autonome Impuls ist für diesen Gedanken immer noch zentral. Hardt und Negri halten daran fest, dass Empire als Reaktion auf die Kämpfe der Menge begriffen werden muß. »Die Geschichte kapitalistischer Formen ist immer notwenigerweise reaktiv«. [12] Deshalb ist »die Menge (...) die wahre Produktivkraft der sozialen Welt, während das Empire ein Beuteapparat ist, der von der Lebenskraft der Menge lebt, oder - um es in Anlehnung an Marx zu sagen - ein Regime der akkumulierten toten Arbeit, das nur dadurch überlebt, dass es vampirmäßig das Blut der lebenden saugt«. [13]

Der Impuls des autonomen Denkens ist noch lebendig, aber er wird fast erdrückt vom Gewicht der positiven Theorie. Dass Klassenkampf und Klassenzusammensetzung als positive Begriffe benutzt werden, wird klar am Begriff »Paradigma«. Bei Hardt und Negri geht es vor allem um den Übergang von einem Herrschaftsparadigma zum nächsten. Dieser Übergang wird in erster Linie als Übergang vom Imperialismus zum Empire gekennzeichnet, wird aber auch mal als Übergang von der Moderne zur Postmoderne, von der Disziplin zur Kontrolle, vom Fordismus zum Postfordismus, von der Industrie- zur Informations-Ökonomie beschrieben. Uns interessiert hier nicht die Benennung, sondern die Annahme, der Kapitalismus ließe sich im Schema der Ersetzung eines Herrschaftsparadigmas durch das andere, eines Ordnungssystems durch das nächste verstehen.

Mit ihrer paradigmatischen Herangehensweise sind Hardt und Negri selbstverständlich nicht allein. Ein weiterer Ansatz, der sich massiv auf das Bild des Paradigmenwechsels stützt und in den letzten Jahren großen Einfluss hatte, findet sich bei der Regulations-Schule, die den Kapitalismus nach dem Schema eines Übergangs von einer fordistischen zur einer postfordistischen Regulationsweise analysiert. Wenn es darum geht, die gegenwärtigen Veränderungen auf der Welt zu verstehen, hat der paradigmatische Ansatz durchaus seinen Reiz. Er macht es möglich, viele auf den ersten Blick unzusammenhängende Erscheinungen innerhalb eines Gesamtzusammenhangs anzuordnen. Er macht es einem möglich, ein äußerst detailliertes und befriedigendes Bild zu malen, in denen Millionen Teile eines Puzzlespiels zusammenpassen. Das ist ungeheuer anregend, denn es legt ganze Serien von Beziehungen nahe, die vorher nicht augenfällig waren. Besonders attraktiv wirkt es auf das akademische Personal, denn es läßt ganze Welten von Forschungsprojekten erahnen, die sich ohne unschöne Ränder abschließen lassen.

Das ärgerliche Problem beim paradigmatischen Ansatz liegt jedoch darin, daß er die Existenz von der Konstitution trennt. Er beruht auf der Vorstellung einer Dauer. Das Bild der Gesellschaft wird für eine bestimmte Zeitdauer relativ unbewegt gezeichnet, und in diesem Zeitabschnitt erkennt unser Blick bestimmte feste Parameter. Das Paradigma erschafft einen Raum, für den sich sagen lässt: So ist die Welt. Ein Paradigma identifiziert. Man könnte die Auffassung vertreten, dass Identifikation denknotwendig ist. Das stimmt. Wenn jedoch die Identifikation nicht ihre eigene Negation bereits enthält und somit nicht mehr darstellt als die Wahrnehmung eines brüchigen und flüchtigen Augenblicks in der Zerreißprobe seiner eigenen Widersprüche (wir selbst), dann wird eine geordnete Welt erschaffen, eine Festigkeit, die verdinglicht. Das Paradigma zeichnet eine geordnete Welt der Wechselbeziehungen. Was am Ausgangspunkt ein negierender Impuls war, wird in positive Wissenschaft verwandelt. Die Verweigerung der Arbeiterklasse [14] wird säuberlich in einer geordneten Welt untergebracht. Obwohl Hardt und Negri daran festhalten, dass Ordnung als Reaktion auf Unordnung zu verstehen ist, haben sie ausgesprochene Mühe damit, der Übermacht der Ordnung zu entgehen, die der paradigmatische Ansatz impliziert. Wie der Titel des Buchs es nahelegt, besteht ihre Erzählung in einer Darstellung der Ordnung, nicht der Unordnung. Sie behaupten zwar, dass die Herrschaft von der Verweigerung angetrieben werde, in Wirklichkeit aber verweisen sie die Verweigerung auf einen untergeordneten Platz. Erst auf den abschließenden Seiten des Buchs erklären die Autoren: »Wir haben uns bislang ausgiebig mit dem Empire befasst; nun ist es an der Zeit, unseren Blick auf die Menge und ihre potentielle politische Macht zu richten.« [15]

Der paradigmatische Ansatz treibt die Klassifizierung auf die Spitze. Eifrig versuchen sie das Neue zu ergreifen, zu klassifizieren, zu etikettieren und in die Ordnung des Paradigmas einzupassen. Es herrscht fast unwürdige Eile, die alte Ordnung für tot zu erklären und die neue auf den Schild zu heben. »Der König ist tot! Lang lebe der König!« Kaum ist das alte Herrschaftssystem in der Krise, da wird schon das neue proklamiert.

»An diesem Punkt ist das Disziplinarsystem völlig obsolet, es muss überwunden werden. Dem Kapital muss es gelingen, die neue Qualität der Arbeitskraft negativ zu spiegeln und zu invertieren; es muß sich neu ausrichten, um wieder in der Lage zu sein, das Kommando zu übernehmen.« [16]

Die Anpassung an das neue Kommando wird als gegeben unterstellt, nicht lediglich als Projekt verstanden: Darin liegt die Substanz des neuen Paradigmas, das ist Empire.

Der Wunsch, alles passend zu machen, das neue Paradigma schon gültig zu finden, führt leicht zu Übertreibungen, die oft ganz wirklichkeitsfremd erscheinen. Ein Beispiel: »Autonome Bewegung bestimmt den Ort, der der Menge eigen ist. Reisepässe und andere Dokumente werden unsere Bewegungen über Grenzen hinweg immer weniger regulieren können.« [17] Oder: »Auf dem Feld biopolitischer Produktion gibt es keine Stechuhren; das Proletariat produziert in seiner Gesamtheit überall den ganzen Tag.« [18]

Der paradigmatische Ansatz geht über in Funktionalismus. In einer Welt der Wechselbeziehungen hat alles und jedes seine Funktion, alles trägt zur Erhaltung eines zusammenhängenden Ganzen bei. Folgerichtig bedeutet die Krise für Negri und Hardt (wie früher schon für Negri [19]) nicht so sehr ein Moment des Bruchs als vielmehr eine regenerative Kraft im Kapitalismus, eine »schöpferische Zerstörung«. So ist »die Krise - und das gilt für die gesante Neuzeit (...) für das Kapital ein normaler Zustand, der nicht sein Ende bedeutet, sondern seine Entwicklungsrichtung und sein Prinzip anzeigt.« [20] Oder auch: »Die Krise der modernen Souveränität war keine temporäre und keine Ausnahme (als eine solche könnte man etwa den Börsenkrach von 1929 bezeichnen), sondern vielmehr die Norm der Moderne. Ähnlich ist die Korruption kein Irrweg imperialer Souveränität, sondern ihr Wesen und modus operandi.« [21] Obwohl die Intention des Buchs ganz deutlich eine des Bruchs ist, scheint doch die angewandte Methode die Möglichkeit des Bruchs verschwinden zu lassen und die Bewegung einer Fotografie einzuverleiben. Der paradigmatische Ansatz läuft unvermeidlich auf das Einfrieren der Zeit hinaus.

Der Funktionalismus betrifft auch das Verständnis der Souveränität und des Staats. Die Autoren interpretieren Marx' Auffassung vom Staat als funktionalistische. Im Bezug auf Marx' und Engels' Beschreibung des Staats als geschäftsführender Ausschuss der Kapitalisten, der ihre Interessen vertritt, bemerken sie: »damit meinen sie, dass das Handeln des Staats, auch wenn es bisweilen den unmittelbaren Interessen einzelner Kapitalisten widersprechen mag, mit den langfristigen Interessen des Gesamtkapitalisten, also des gesellschaftlichen Kapitals als kollektivem Subjekt, übereinstimmt.« [22] Daher gelang es den modernen Staaten, »die Interessen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals gegen die Krise« [23] zu sichern, während heute in der postmodernen Ära »Regierungshandeln und Politik ... völlig in ein System des transnationalen Handelns integriert« [24] sind. Das Politische und das Ökonomische bilden heute ein geschlossenes System, einen »integrierten Weltkapitalismus«.

Und ganz im Einklang mit diesem paradigmatischen Ansatz argumentieren Hardt und Negri ausdrücklich antidialektisch und antihumanistisch. Hegel wird mehrfach als Philosoph der Ordnung abgetan, statt zu sehen, dass er der Philosoph war, der die subversive Bewegung in den Mittelpunkt seines Denkens stellte. Dialektik wird nicht als Bewegung der Negation, sondern als Logik der Synthese [25] begriffen. Und ganz in diesem Sinne bestehen die Autoren auf der Kontinuität zwischen Tieren, Menschen und Maschinen. Sie begreifen sich als Fortsetzer des »Antihumanismus, der für Foucault und Althusser in den 1960er Jahren ein so wichtiges Projekt war« und zitieren zustimmend Haraway, »wenn sie darauf beharrt, die Schranken niederzureißen, die wir zwischen Mensch, Tier und Maschine errichtet haben«. [26] Die Postmoderne gibt uns die Gelegenheit, »unsere posthumanen Körper und Geister [zu] erkennen, sobald wir uns als die Affen und Cyborgs, die wir sind, betrachten«. [27] Im neuen Paradigma werden »interaktive und kybernetische Maschinen ... zu neuen künstlichen Gliedern, die in unsere Körper wie in unser Denken und Fühlen integriert sind, und sie werden zu einer Linse, durch die wir die Umgrenzungen unseres Körpers wie unseres Denkens und Fühlens selbst neu wahrnehmen. Die Anthropologie des Cyberspace ist in Wirklichkeit das Erkennen der neuen Menschlichkeit.« [28] Das Problem bei dieser Auffassung ist natürlich, dass weder Ameisen noch Maschinen revoltieren, weder Ameisen noch Maschinen die Arbeit verweigern. Eine Theorie, die auf der Revolte fußt, wird schwerlich daran vorbeikommen, den besonderen Charakter der Menschheit anzuerkennen.

Angesichts ihres allgemeinen Projekts überrascht es vielleicht, dass Hardt und Negri keinen Begriff vom Kapital als Klassenkampf haben. Nicht, dass sie dem Klassenkampf keine Bedeutung beimessen; es ist eher so, dass sie das Kapital nicht als Klassenkampf verstehen. Es gibt bei ihnen eine Tendenz, das Kapital als ökonomische Kategorie zu behandeln und dabei (wie an anderen Punkten) genau die Annahmen der marxistischen Orthodoxie zu reproduzieren, die sie eigentlich zu Recht angreifen. In scheinbarem Widerspruch dazu, dass sie behaupten, den Paradigmenwechsel als Reaktion auf den Klassenkampf zu begreifen, behaupten sie etwa: Um »die Betrachtung des Kapitals selbst zu erweitern, müssen wir die Entwicklung zugleich aus der Perspektive des Klassenkampfs begreifen« [29], und implizieren damit, dass die Entwicklung des Kapitals und der Klassenkampf zwei getrennte Prozesse seien. Die eigentliche Analyse der »Entwicklung des Kapitals selbst« fußt eher auf der Unterkonsumtionstheorie als auf dem Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit. Alle Grenzen der kapitalistischen Entwicklung »rühren von einer einzigen her, sie sind durch das ungleiche Verhältnis zwischen dem Arbeiter als Produzent und dem Arbeiter als Konsument bestimmt.« [30] Um die Bewegung vom Imperialismus zum Empire zu erklären, folgen sie Rosa Luxemburgs Unterkonsumtionstheorie, nach der der Kapitalismus nur durch die Kolonisierung nichtkapitalistischer Sphären überleben kann.

»Wir können hier den Grundwiderspruch kapitalistischer Expansion erkennen: Das Angewiesensein des Kapitals auf sein Außen, auf eine nichtkapitalistische Umgebung, die das Erfordernis der Realisierung des Mehrwerts befriedigt, tritt in Konflikt mit der Einverleibung der nichtkapitalistischen Umgebung, die der notwendigen Kapitalisierung des realisierten Mehrwerts entspricht.« [31]

Nach Auffassung der Autoren findet das Kapital eine Lösung für das Zurneigegehen der nichtkapitalistischen Welt, indem es von der formellen Subsumtion der nichtkapitalistischen Sphäre zur reellen Subsumtion der kapitalistischen Welt übergeht. Und eben nach dieser Erklärung des Übergangs vom Imperialismus zum Empire wird darauf hingewiesen, dass »wir die Entwicklung zugleich aus der Perspektive des Klassenkampfs begreifen« [32] müssen.

Dieses Verständnis von Klassenkampf und Kapital als etwas Getrenntem, und diese Sichtweise, dass der »grundlegende Widerspruch der Ausdehnung des Kapitals« etwas anderes sei als die Abhängigkeit des Kapitals von der Unterwerfung der Arbeit, führt dazu, dass überhaupt nicht begriffen wird, inwiefern die Aufsässigkeit der Arbeit die Schwäche des Kapitals darstellt (besonders in der kapitalistischen Krise). Wie in allen Analysen von Negri prallen in diesem Buch zwei Titanen aufeinander: ein mächtiges, monolithisches Kapital (»Empire«) steht einer mächtigen, monolithischen »Menge« gegenüber. Die Macht jeder Seite scheint die jeweils andere nicht zu durchdringen. Das Verhältnis zwischen den beiden Seiten des kapitalistischen Antagonismus wird als äußerliches behandelt, worauf ja auch schon die Wortwahl der Autoren hinweist, die den Gegensatz zum Kapital mit dem Wort »Menge« beschreiben, also mit einem Wort, in dem sich keine Spur des Abhängigkeitsverhältnisses des Kapitals von der Arbeit mehr findet.

Es wäre natürlich ganz falsch, Negri mit allen autonomen Autoren gleichzusetzen (oder überhaupt zu versuchen, den Autonomismus als homogene »Schule« zu behandeln). Was Negri ausführt und bis ins Extrem treibt, ist das in vielen autonomen Texten enthaltene positive Verständnis vom Klassenkampf. Und damit zähmt er die ursprüngliche Stärke des autonomen Impulses und macht aus ihm den Gegenstand einer akademischen Diskussion.

Politisch ist die Betonung der Macht der Bewegung der Arbeiterklasse natürlich sehr attraktiv. Trotzdem führt das Verständnis von Arbeit und Kapital als einem äußerlichen Verhältnis zu einer paradoxen (und romantischen Vergrößerung) der Macht von beiden. Eine Analyse, die das Verhältnis von Arbeit und Kapital nicht als innerliches untersucht, unterschätzt, wie sehr die Arbeit in kapitalistischen Formen existiert. Dass die Arbeit in kapitalistischen Formen existiert, bedeutet einerseits, dass die Arbeit dem Kapital untergeordnet ist, und andererseits, dass das Kapital innerlich zerbrechlich ist. Wenn man übersieht, dass das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital ein innerliches ist, unterschätzt man also, wie sehr die Arbeit im Kapital gefangen [contained] ist (und überschätzt damit die Macht der Arbeit gegen das Kapital). Und man unterschätzt gleichzeitig die Macht der Arbeit als innerer Widerspruch im Kapital (und überschätzt damit die Macht der Kapitals gegen die Arbeit). Wenn wir die gegenseitige Durchdringung von Macht und Anti-Macht ignorieren, bleiben uns also zwei reine Subjekte auf jeder Seite. Auf der Seite des Kapitals steht das Empire, das vollkommene Subjekt, und auf der Seite der Arbeiterklasse steht: der Militante. Hardts und Negris Diskussion des Empire endet mit einem Loblied auf den Militanten: der Militante ist wohl derjenige, der das Leben der Menge am besten zum Ausdruck bringt: der Akteur biopolitischer Produktion und des Widerstands gegen das Empire.« [33]

Das Beispiel kommunistischer Militanz, das sie im Schlussabsatz des Buches vorschlagen, ist die perfekte Verkörperung des Reinen Subjekts: Der heilige Franz von Assisi!

»Es gibt eine alte Legende, welche die Zukunft kommunistischer Militanz vielleicht verdeutlichen kann: nämlich diejenige des Hl. Franz von Assisi. Man denke an sein Wirken. Um gegen die Armut der Menge zu protestieren, übernahm er deren Lebensumstände und lebte wie die Menge in Armut; und darin entdeckte er die ontologische Macht einer neuen Gesellschaft. Das Gleiche tut der kommunistische Militante, er findet in der gemeinsamen Lebenssituation der Menge deren ungeheuren Reichtum.« (S. 420) [34]

3. Teil

Ein Witz, eine Provokation? Vielleicht, aber es ist noch mehr als das. Die Vorstellung vom Heiligen Franz von Assisi als dem Beispiel kommunistischer Militanz ist der widerliche Gipfel des positiven Denkens. Seit über hundert Jahren leidet der Kommunismus unter dem Albtraum des Reinen Subjekts: die Partei, der Held der Arbeiterklasse, der unbefleckte Militante. Das Bild des Reinen Subjekts genau in dem Moment wiederauferstehen zu lassen, in dem es endlich den unanständigen Tod gestorben zu sein schien, den es verdiente, ist nicht nur ein Witz. Es ist eine Groteske. Wir hassen den Kapitalismus und kämpfen gegen ihn, aber das macht uns nicht zur Verkörperung des Guten, das gegen das Böse kämpft. Im Gegenteil: Wir hassen ihn nicht nur, weil wir die Lebensumstände der Menge übernehmen, sondern weil er uns zerreißt, weil er uns durchdringt, weil er uns gegen uns selbst wendet, weil er uns verstümmelt. Der Kommunismus ist nicht der Kampf des Reinen Subjekts, sondern der Kampf der Verstümmelten und Schizophrenen. Es gibt keine Hoffnung, wenn wir nicht hiervon ausgehen.

Unser Kampf ist negativ, unser Denken kann nur negativ sein. Unser Kampf ist eine Verweigerung, ein NEIN, ein NEIN zum Kapitalismus und daher ein NEIN zu unserem kapitalistischen Selbst. Wir sind kein Reines Subjekt, wir sind nicht Gott, die Partei oder der Heilige Franz von Assisi. Daher können wir auch überhaupt nicht über den Verzerrungen des Kapitalismus stehen und sagen, wie die Welt ist. Die Welt ist nicht, es gibt kein Sein, es gibt nur Tun, ein derart zerrissenes Tun, dass das Tun selbst Leben annimmt und als Sein erscheint, wie Marx im ersten Kapitel des Kapital zeigt. Zu versuchen, der marxistischen Theorie eine ontologische Grundlage zu verschaffen, bedeutet, sich auf den Boden von fetischisierten gesellschaftlichen Verhältnissen zu stellen, den Marxismus zu zerstören. [35] Eine Theorie des Kampfs ist notwendigerweise anti-ontologisch, eine gegen das Sein gewandte Theorie, ein Kampf zur theoretischen Wiedergewinnung des vom Sein unterdrückten Tuns. Mit anderen Worten: Kritik, die Negation des Seins, um das gesellschaftliche Tun wiederzugewinnen, das unsere einzige wahre Potentia ist. [36]

Nein, nicht Franz von Assisi (mit oder ohne seinen Heiligenstatus): die Dunkelheit, die uns leitet, muss Mephisto sein - Mephisto, der Geist, der stets verneint. Was uns vorantreibt, ist die Verneinung, die Verneinung, die die Substanz der Hoffnung, der Stoff der Träume und das Herz des Kampfes ist. [37] Das Buch von Negri und Hardt ist oft anregend und aufregend, sogar vernünftig, aber ein Großteil von dem, was sie vorschlagen, wird in ihrer eigenen verallgemeinernden Positivität erstickt. Das Ergebnis ist klaustrophobisch. Genug mit Polybius, Machiavelli, Spinoza und Harrington. Gebt uns Joachim von Fiore, Abiezer Coppe und William Blake wieder. Lasst uns toben!

Nun kriecht die feige Schlange
In sanfter Demut,
Und der Gerechte rast in der Wildnis,
Wo Löwen umherstreichen.

(William Blake, »Die Hochzeit von Himmel und Hölle«)

 

Literatur

Adorno, Theodor W. 1966: Negative Dialektik, Frankfurt: Suhrkamp.

Bloch, Ernst 1964: Tübinger Einleitung in die Philosophie, 2 Bde., Frankfurt: Suhrkamp.

Bonefeld, Werner 1994: »Human Practice and Perversion: Between Autonomy and Structure«, Common Sense 15: S. 43-52.

Guattari, Felix und Antonio Negri 1990: Communists Like Us, New York, Semiotext(e).

Hardt, Michael und Antonio Negri 2002: Empire, Frankfurt: Campus.

Hirsch, Joachim 1978: »The State Apparatus and Social Reproduction: Elements of a Theory of the Bourgeois State«, in: Holloway/Piciotto 1978b.

Holland, Eugene 1990: »Spinoza and Marx«, Cultural Logic 2, 1

Holloway, John und Sol Piciotto 1978a: »Introduction: Towards a Materialist Theory of the State«, in: Holloway und Piciotto (eds.) 1978b.

Holloway, John und Sol Piciotto 1978b: The State and Capital: A Marxist Debate, London: Edward Arnold.

Holloway, John 1997: »Krise, Fetischismus, Klassenzusammensetzung«, in: Wildcat-Zirkular 34/35.

Holloway, John 2002: Change the World Without Taking Power: The Meaning of Revolution Today. London: Pluto (kommt im Herbst 2002 auf deutsch beim Verlag Westfälisches Dampfboot heraus).

Martinez, Jose Manuel 2001: »Naturalizaciones del Marxismo: Regulacionismo, Analisis Sistemico y Autonomismo«, Bajo el Volcan, 1, 3: S. 201-212.

Marx, Karl 1959: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin: Dietz.

Moulier, Yann 1989, »Introduction«, in Negri 1989.

Negri, Antonio 1989: The Politics of Subversion, Cambridge: Polity.

Negri, Antonio 1982: Die wilde Anomalie Berlin: Wagenbach

Tronti, Mario 1977a: »Lenin in Inghilterra«, in Operai e capitale, Torino: Einaudi. Auf deutsch auch in Balestrini/Moroni: Die goldene Horde, Berlin/Göttingen: Schwarze Risse/Rote Straße 1994.

Tronti, Mario 1977b: »Vecchia tattica per una nuova strategia«, in Operai e capitale, Torino: Einaudi.

Wright, Steve 2002: Storming Heaven: Class Composition and Struggle in Italian Autonomist Marxism, London: Pluto. (Das 7. Kapitel des Buchs liegt auf deutsch vor: Negris Klassenanalyse: Die Metaphysik des »gesellschaftlichen Arbeiters«, in: Wildcat-Zirkular 40.)


Fußnoten:

[1] Tronti 1977 [1964], S. 89

[2] Einen ausgezeichneten Überblick findet man bei Wright 2002.

[3] Moulier 1989, S. 19.

[4] Bonefeld 1994, S. 44.

[5] Negri 1982.

[6] Holland 1998.

[7] Negri 1982, S. 162.

[8] Ebenda.

[9] Hardt/Negri 2002, S. 11.

[10] Hardt und Negri sprechen dies nicht sehr explizit aus, aber implizit scheint es auf jeden Fall in ihrem Ansatz zu liegen. Siehe z.B. Hardt/Negri 2002, S. 319: »Das Verschwinden einer autonomen politischen Sphäre signalisiert zugleich das Verschwinden der Möglichkeit, dass im Rahmen nationaler Politik eine Revolution stattfinden könnte, der Möglichkeit, die Gesellschaft umzuwälzen, indem man sich des Staates bedient. Die klassische Idee der Gegenmacht und die Vorstellung von Widerstand gegen die moderne souveräne Macht im Allgemeinen wird immer weniger denkbar.«

[11] Siehe Guattari/Negri 1990.

[12] Hardt/Negri 2002, S. 279.

[13] Hardt/Negri 2002, S. 75.

[14] Tronti 1977b [1964], S. 96ff.

[15] Hardt/Negri 2002, S. 400.

[16] Hardt/Negri 2002, S. 286

[17] Hardt/Negri 2002, S. 404.

[18] Hardt/Negri 2002, S. 409.

[19] Vgl. zu diesem Thema Holloway 1997, S. 87.

[20] Hardt/Negri 2002, S. 234.

[21] Hardt/Negri 2002, S. 214.

[22] Hardt/Negri 2002, S. 315. Zu einer Kritik des Funktionalismus dieser Interpretation siehe Hirsch 1978 und Holloway/Piciotto 1978a.

[23] Hardt/Negri 2002, S. 317.

[24] Hardt/Negri 2002, S. 318.

[25] Zu einer Kritik der Auffassung von Dialektik als Synthese siehe Adorno [1990].

[26] Hardt/Negri 2002, S. 105.

[27] Hardt/Negri 2002, S. 105.

[28] Hardt/Negri 2002, S. 303.

[29] Hardt/Negri 2002, S. 246, Hervorhebung von mir.

[30] Hardt/Negri 2002, S. 234.

[31] Hardt/Negri 2002, S. 239, Hervorhebung von mir.

[32] Hardt/Negri 2002, S. 246.

[33] Hardt/Negri 2002, S. 418.

[34] Hardt/Negri 2002, S. 420.

[35] Martínez 2001.

[36] Zu einer Entwicklung einiger dieser Ideen siehe Holloway 2002.

[37] Bloch 1964.


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