Ein Fluggi aus England und Anmerkungen zur Situation hier:
The Welfare State isn't now, and never was, a genuine Gain for the Working Class
Der Sozialstaat war nie ein wirklicher Fortschritt für die Arbeiterklasse und ist es auch heute nicht! Für jeden, der Sozialleistungen bezieht, ist sein wahrer Charakter - Unterdrückung - täglich erfahrbar.
Fowlers Vorschläge, das System der sozialen Absicherung zu reformieren, zeigen zumindest, was für ein Schweinepack die derzeitige Regierung ist. Labour Party und TUC antworten darauf, indem sie uns zu einer Kampagne »Verteidigt den Sozialstaat« aufrufen. Halten sie uns für vollkommene Idioten? Fowlers Vorschläge sind keine grundlegende Reform des Sozialstaats, wie man uns glauben machen will. Sie zielen lediglich auf seine Anpassung an die veränderten Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit und auf die Vertiefung der Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse. Neben dem halbherzigen Versuch, unter den Leistungen und Regelungen aufzuräumen, die sich als Konfliktpotential angesammelt haben und so die »Armutsfalle« zu beseitigen, zielen sie auf die Kürzung der Unterstützungen für »die Armen«. Diese sollen abhängiger gemacht werden, sie sollen gezwungen werden, ihre Energien mehr dem Überleben als dem Revoltieren zu widmen und die anderen Teile der Klasse sollen durch die Drohung mit der »Hölle Armut« eingeschüchtert werden. Schließlich soll die Trennungslinie zwischen Armen und relativ Wohlhabenden, jenen, die Jobs und Durchschnittslöhne haben, deutlicher sichtbar gezogen werden.
Denn auf diese Wohlhabenden soll sich die »Demokratie der Haus-, Zweitwagen- und Aktienbesitzer« stützen; in ihnen sehen die Tories das lebende Bollwerk gegen den Widerstand, der sich an der Neuaufteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der herrschenden Klasse entzündet. Jeder, der Augen hat, kann das sehen.
Weniger leicht zu sehen ist, daß der Sozialstaat nie ein wirklicher Fortschritt für die Arbeiterklasse war und es auch heute nicht ist. Noch viel weniger sollten wir um seine Verteidigung kämpfen. Für jeden, der heute Sozialleistungen bezieht, ist sein wahrer Charakter - Unterdrückung - tagtäglich erfahrbar. Das entsetzliche Elend der Alten, die von unzulänglichen Renten leben. Der endlose bürokratische Sumpf bei den Mietbeihilfen. Die Arroganz der Hohepriester des Gesundheits- und Sozialwesens. Der unmenschliche Alptraum, der dem System der sozialen Sicherung anhaftet - und so fort.
Immer noch denken viele, diese ihre Erfahrungen seien nicht Ausdruck von Charakter und Funktionsweise des Sozialstaats, sondern lediglich Resultat einiger »Formfehler« und Unangepaßtheiten, die sich durch einige Reformen lösen ließen. Dieses Mißverständnis ist von Labour und anderen Linken genährt worden, seit es den Sozialstaat gibt. Sie stellen sich selbst als die fortschrittliche Kraft dar, die allein diese »Formfehler« lösen und diese »Errungenschaften« verteidigen kann. Die aktuelle Kampagne ist nur ein weiterer Versuch, »unser Volk« im Hinblick auf die aktuellen Wahlen für Labour zu mobilisieren.
Heute wird den Kürzungen und dem Monetarismus der Tories die Schuld an diesen »Fehlern« gegeben. Wir müssen wohl nicht daran erinnern, daß die Regierungen Callaghan/-Wilson sich zuerst Kürzungen der Sozialausgaben und eine monetaristische Politik zu eigen machten.
Der Sozialstaat ist genau das zeitgerechte Gesicht des kapitalistischen Staats. Er bietet all die Leistungen und die finanzielle Unterstützung, die wir brauchen, aber nicht, weil wir sie brauchen, sondern weil der Kapitalismus sie für uns braucht, damit wir für das Kapital als industrielle Reservearmee überleben. Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn der Kapitalismus die Sozialausgaben beschneidet oder nach seinen Prioritäten neue Bedingungen für ihren Bezug erläßt. Die kapitalistische Gesellschaft kommt nicht umhin, unsere Grundbedürfnisse zu decken, denn sie hat sich gerade entwickelt, indem sie unsere Möglichkeiten, uns selbst zu versorgen, systematisch zerstörte.
Der moderne britische Sozialstaat entwickelte sich über Jahrzehnte, in denen die Einzelkapitalisten nach und nach akzeptieren mußten, daß die Kontrolle der gesamten gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich die Produktion ihrer Profite abspielt, notwendig ist. Schließlich brauchen sie eine gesunde, geschulte Arbeitskraft. Arbeiter, die motiviert sind, weil sie sozusagen ihren Einsatz auf diese Gesellschaft gesetzt haben und nicht, weil sie in Angst vor vollkommener Enteignung und äußerstem Elend leben. Andererseits müssen sie direkten Zugriff auf jeden wesentlichen gesellschaftlichen Bereich haben, um ihn formen und beherrschen zu können und die Ausbreitung kapitalistischer Beziehungen in allen gesellschaftlichen Bereichen durchzusetzen.
Gegenwärtig ist die Tendenz wachsende Atomisierung und Isolierung der Klasse. Wir können aber darauf vertrauen, daß die zunehmende Armut sowie jede Veränderung des Systems zu ihrer Kontrolle, wie es Fowlers Pläne vorsehen, ein kollektives Verhalten der Menschen, schon um ihr Überleben zu sichern, umso mehr auf die Tagesordnung setzt. Andererseits wird die wachsende Entfremdung, die sich weit außerhalb der Umklammerung durch die kapitalistische Gesellschaft entwickelt, die für die kapitalistische Akkumulation grundlegende gesellschaftliche Kooperation unterminieren.
Die Anfänge kollektiver Kämpfe zeigen sich in der organisierten Jagd auf Schwarzarbeitsfahnder, in den Kämpfen gegen Krankenhausschließungen und, am deutlichsten, kürzlich in den riots und beinahe-riots.
Wir glauben, daß die einzige Lösung für Armut, Ausbeutung und soziale Trennung in der Zerstörung jeder Gesellschaftsform liegt, die diese Momente verewigt und institutionalisiert. Wir glauben, daß wir wirksamere Formen von kollektivem und individuellem Widerstand und Angriff entwickeln müssen. Das können wir nicht, indem wir für die Verteidigung des Sozialstaats kämpfen. Denn das hieße eher, die Entwicklung des Widerstands zu blockieren.
Alles, was der Sozialstaat braucht, ist ein Tritt in seine Eier.
Dieses Flugblatt einer englischen Gruppe, die sich »Red Butchers Shop Stewards Committee« nennt, haben wir hier abgedruckt, da es eine klare und eindeutige Position zum Sozialstaat vertritt. Es nimmt klar Stellung gegen alle Mythen über den Sozialstaat wie sie auch hierzulande die Arbeit von Erwerbsloseninis und Kampagnen gegen den Sozialabbau bestimmen.
1.
In der Nr. 35 der Karlsruher Stadtzeitung haben wir schon mal versucht, den Sozialstaat von seiner Entstehung wie von seiner heutigen Funktionsweise her als Instrument des kapitalistischen Arbeitszwangs zu entschlüsseln. Große politische Wirkung hat diese Analyse nicht gehabt. Die Forderung an den Staat, den Sozialstaat durch die Einführung eines »garantierten Mindesteinkommens« zu effektivieren, blieb weiter im Rennen. Allerdings ist in breiten Kreisen der Autonomen klargeworden, daß sozialstaatliche Forderungen oder gar eine Beteiligung am »Umbau« des Sozialstaats nicht unsere Sache sein kann! Die Existenzgeldforderung verlor ihre anfängliche Attraktivität und ihre Verfechter scheinen sich nun mehr auf die »politische Ebene« zu konzentrieren (Grünenhearing zur sozialen Absicherung oder auf kommunaler Ebene), was nur die Konsequenz aus diesem reformistischen Konzept ist. Aber nicht nur an der Existenzgeld-Debatte stehen entscheidende Auseinandersetzungen an, von denen die weitere Politik der Inis im sogenannten Erwerbslosenbereich abhängen wird.
2.
Das englische Flugblatt, das anläßlich einer TUC (der englische DGB) - Kampagne zum »Sozialabbau« verteilt wurde, zeigt uns, wie wichtig es ist, unsere Position zu diesem ganzen Rotstiftrummel klarzukriegen und offensiv zu vertreten. Bei der Kampagne des DGB im letzten Herbst hatten einige Initiativen versucht, mit eigenständigen Themen (Sozialhilfe, Zwangsarbeit, Asylanten ...) in die Öffentlichkeit zu treten, was aber letztlich doch nur kritisches Anhängsel der DGB-Kampagne blieb. Die dabei gemachte Erfahrung, daß auch manche Gewerkschafter Menschen wie Du und ich sind, führte zu bezeichnenden Neueinschätzungen der Gewerkschaften. (Der Artikel in der »Schwarze Katze« aus Hamburg ist ein Beispiel dafür. Die ehemals autonome Verurteilung der Gewerkschaften läßt sich offensichtlich genauso unbegründet durch differenzierende Annäherungsversuche ersetzen. Eigentlich hatten wir daher in dieser Nummer nochmal grundsätzlich was zu den Gewerkschaften und ihren aktuellen Kampagnen sagen wollen, was wir uns wegen der Arbeitsüberlastung des damit beauftragten Gewerkschaftssekretärs fürs nächste Mal aufheben!)
3.
Sowohl bei der Beteiligung an der Existenzgeldebatte wie bei der Fühlungsnahme mit den Gewerkschaften geht es letztlich um die Frage, ob es noch um eine revolutionäre Veränderung geht oder ob der Schritt zur Beteiligung an der Verwaltung dieser maroden Gesellschaft - natürlich nur zu unser aller Besten! - bereits vollzogen wird.
Unmittelbarer deutlich wird dies an der Haltung der Inis zum sogenannten »Zweiten Arbeitsmarkt«: der frühere Kampf gegen Zwangsarbeit schlägt mit diesen neuen Programmen um in Forderungen nach »Arbeitsgelegenheiten« und Beteiligung. Viele Inis versuchen als erstes, sich ihre Arbeit durch Verträge aus diesen Programmen finanzieren zu lassen. Warum sie vom Staat, gegen den sie doch vormals kämpfen wollten, nun bezahlt werden, ist kein Thema. Sie haben höchstens noch die Bedenken, daß ja auch der 2. Arbeitsmarkt auf ihre Ablehnung stößt, aber letztendlich die »Arbeit« der Gruppe absichert. Die Professionalisierung der Initiativenarbeit als Sozialarbeit zur Konflikteindämmung - dieses Konzept, das ja auch hinter dem 2. Arbeitsmarkt steckt, scheint aufzugehen. Die Initiativen jammern dann zwar darüber, daß sich die »Basis« nicht mobilisieren läßt und nur ihre Beratung als Dienstleistung in Anspruch nimmt, sehen aber die Wurzel dieses Phänomens nicht in ihrer eigenen Etablierung. Die professionalisierte Beratung wirkt ja trotz aller guten Vorsätze als Demobilisierung, indem sie den Leuten erklärt, daß ihnen soundsoviel zusteht - und kein Pfennig mehr!
Diese Professionalisierung drückt aber auch aus, daß eine Debatte über den Sozialstaat und seinen Gebrauch nie stattgefunden hat. Die Konzentration auf die Durchsetzung von Ansprüchen gegenüber dem Sozialstaat und die dafür nötige Beratung über rechtliche Anspruchsgrundlagen ließ die Frage vergessen, warum denn der Staat überhaupt einen Soziallohn finanziert, wie dieser an das kapitalistische Interesse gebunden ist. Die einfachste Lösung lag dann darin, diese Leistungen als etwas Erkämpftes hinzustellen - wozu die englischen GenossInnen das Nötige gesagt haben!
Erwerbslosenorganisation gegen Klassenkampf?
Mit dem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu Beginn der 80er Jahre wurde die Mobilisierung der neuen Massenarmut in den Metropolen als eine revolutionäre Perspektive diskutiert. Das Ansetzen an der Massenarmut sollte einen Ersatz für den in den 70er Jahren verbreiteten Bezug auf die Arbeiterklasse darstellen, die mit der Krise endgültig »geschlagen« bzw. »integriert« zu sein schien. Ähnlich wie es die englischen GenossInnen überlegen, erhofften sich einige Gruppen von den weiteren sozialen Kürzungen eine Vereinheitlichung des Widerstands von unten.
Eine widersprüchliche Hoffnung, da die Funktion des Sozialstaates darin besteht, die einzelnen Lebenssituationen aufzuspalten. In den letzten Jahren haben wir erlebt, wie der Staat mit seinen sozialen »Operationen« auf jeden Ansatz von Homogenisierung reagiert hat.
Wie weit diese Spaltungen funktionieren, zeigt selbst noch mal die Entwicklung von Initiativen im Erwerbslosenbereich. In dem Maße, wie das Konzept »Betroffenenorganisation« am fiktiven Status erwerbslos festgemacht wurde, schlägt es der Vereinheitlichung von Kämpfen ins Gesicht. Allein eine Forderung wie »Nulltarif für alle Erwerbslose« markiert das: im Unterschied zur grundsätzlichen Nulltarifforderung der 70er Jahre wird sie nun für einen Teil der Klasse aufgestellt, der sich so höchstens über sozialstaatliche Klassifizierungen abgrenzen läßt. Die Forderung nach einem Erwerbslosen-Pass war daher trotz aller Volkszählungs-Erfassungsängste folgerichtig.
Mit dieser organisatorischen und politischen Abgrenzung, die die Initiativen selbst ziehen, gehen die Spaltungsabsichten des Kapitals auf: Arbeitsplatz-»besitzer« und Arbeits-»lose« werden erstmal getrennt, um sie dann gegeneinander ausspielen zu können. Die wirkliche Situation der Klasse wird damit ignoriert. Arbeitslosigkeit ist kein sozialer Status, sondern das Medium zur Durchsetzung neuer Ausbeutungskonzepte. Arbeitslosigkeit als wiederkehrende Situation, die neue, andere, schlechtere Ausbeutungsverhältnisse durchsetzt; Arbeitslosigkeit als vorgezogener Eintritt der Ausgepowerten in die »Rente« usw. Und genauso wird übersehen, daß der Zwang zur Arbeit, der das Klassenverhältnis ausmacht, an den »Arbeitslosen« nicht vorübergeht. Sei's der »lockere« Schwarzjob, die intensivierte tägliche Reproduktionsarbeit, die kleinen Verkäufe auf dem Trödelmarkt oder die tägliche Anstrengung des Einklaufens, das besetzte Haus renovieren - gearbeitet wird hier allemal, nur wird das nicht als Arbeit wahrgenommen. Nebenbeigesagt, das Kapital versucht bei jeder Umstrukturierung uns einzureden, daß wir eigentlich gar nicht mehr arbeiten (»Tertiarisierung« genannt).
Gegen diese vielfältige Zusammensetzung der Klasse, die ihre Einheit im Kampf gegen die Arbeit findet, Arbeitslose in besonderer Weise zu organisieren oder sich als deren Vertretung zu etablieren, deckt sich mit den politischen Absichten des Regimes. Der FDP-Vorschlag, »die Arbeitslosen« an Tarifverhandlungen zu beteiligen, ist sicher etwas überzogen, aber er zeigt das Interesse des Staats, auf eine anerkannte Vertretung »der Arbeitslosen« zurückgreifen zu können! Wie das zur Durchsetzung neuer Bedingung benutzt werden könnte, belegt ja der 2. Arbeitsmarkt: die ehemaligen Kritiker der Arbeitsmaßnahmen liefern nun durch ihre Beteiligung daran die politische Legitimation der Prekarisierung. Ähnliches dürfte die FDP im Sinn gehabt haben, als sie ihren Kopf so weit aus dem Fenster streckte. Die Grünen und andere politische Gruppen sind bereits dabei, solche »Vertretungen« aufzubauen!
Wir haben hier bewußt keine bestimmten Initiativen angesprochen, sondern auf allgemeine Tendenzen hingewiesen. Es gibt nicht »die« Initiativen und die hier formulierte Kritik ist zum Teil Inhalt der Debatte unter den verschiedenen Initiativen. Umso wichtiger finden wir es, daß diese Debatte in den einzelnen Städten, in dieser Zeitung oder sonstwo geführt wird!