Zug um Zug2>
Nochmal: Der Eisenbahnerstreik in Frankreich
Die Berichterstattung aus dem »Ausland« ist natürlich immer etwas problematischer, du bist dabei auf Einschätzungen der dort lebenden GenossInnen angewiesen. Inzwischen ist zum Beispiel der Artikel über die Studentenbewegung, den wir in der Nr. 41 der wildcat gekürzt abgedruckt hatten, stark überarbeitet in der Nr. 1 der Cahiers du Doute erschienen. Diese Überarbeitung verstärkt unseren Eindruck, daß die »Gewaltlosigkeit« der französischen Schüler und Studenten eine des Autors ist. Verständlich ist das vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit bestimmten Ideologien, die an den Kampfformen die Radikalität eines Kampfes festmachen wollen. Dagegen arbeitet der Artikel raus, daß die Bewegung sich ausweiten und radikalisieren konnte, weil sie sich die Alternative »Gewalt Gewaltlosigkeit« nicht aufzwingen ließ. Schräg wird's da, wo der Autor daraus schon wieder so was wie eine eigene Ideologie zimmert. Eine Gefahr, vor der auch der folgende Artikel der ebenfalls als Beitrag in der Nummer 1 der »Hefte des Zweifels« erschien keineswegs gefeit ist doch damit greifen wir schon vor!
Unsere gekürzte Übersetzung des Artikels über den Streik der französischen Eisenbahnarbeiter in der wildcat Nr. 41 hat von zwei Seiten Kritik gekriegt. Die Autoren selbst haben uns kritisiert, weil wir den Artikel zu stark gekürzt hätten (dazu im folgenden genaueres) und auch nicht angegeben hatten, wo er herstammte. Dies ging damals noch nicht, inzwischen ist der Artikel als Beitrag in der Nr. 2 von Liaisons erschienen. Zwei Leute haben uns und den Artikel kritisiert, weil er zu wenig auf die Umstrukturierung und die Arbeitsbedingungen eingeht. In selbiger Nummer von Liaisons ist ein sehr ausführlicher Artikel zur Umstrukturierung der französischen Eisenbahnen (siehe dazu auf dieser Seite den Aufruf an ÜbersetzerInnen); zum anderen trifft diese Kritik einige unserer Auslassungen, die wir hier also kurz nachtragen wollen:
1.) Einkommensunterschiede und Beschäftigtenzahlen:
Von den knapp 250 000 Beschäftigten der SNCF verdienen nahezu 200 000 zwischen 6 000 und 12 000 FF monatlich brutto. 22 000 liegen mit ihrem Einkommen darunter (Mindestlohn 2460 FF), ebenso viele darüber. Ein Lokführer fängt mit 7770 FF brutto im Monat an und verdient wenige Jahre später um 10 000. Nur wenige, die Fahrer der Hochgeschwindigkeitszüge, haben gut 11 000 FF im Monat (Zahlen von 1986).
2.) Angriff auf die Lohnstruktur bei der SNCF:
Vor dem Streik errechneten sich die Einkommenszuwächse auf drei Ebenen: a) »echelons« = Altersstufen nach Dienstjahren (automatisch); b) »niveaux« = Beförderungsstufen nach »Qualifikation und Verantwortungsbereich« (prüfungsabhängig); c) »indices« = Gehaltsgruppen (abhängig von einer Kombination aus Prüfungsergebnissen und Dienstalter).
Die SNCF wollte die automatischen Gehaltserhöhungen nach Dienstalter unberührt lassen, der Angriff richtete sich auf die Ebenen b) und c). Die »niveaux« sollten nur noch nach »Bewährung« zuerkannt werden, die »indices« nach »persönlichen betrieblichen Arbeitsergebnissen«.
Des weiteren haben die Autoren kritisiert, daß wir ihre Auseinandersetzung mit der Krise der französischen Gewerkschaften rausgelassen haben. Diese betraf im wesentlichen zwei Punkte: a) die französischen Gewerkschaften sind in der Krise, weil sie den Arbeitern keine Lohnerhöhungen mehr rausschlagen können, sondern im Gegenteil die ständige Verschlechterung von Löhnen und Arbeitsbedingungen vertreten müssen; b) die französischen Gewerkschaften sind von der Linksregierung im Versuch sie zu stärken stärker institutionell in Mitbestimmungs- und Selbstverwaltungsgremien eingebunden worden; dort dürfen sie nun über Ferienwohnungen, Sporteinrichtungen und ähnliches mitreden und entscheiden. Der traditionell dünne Kader dieser Gewerkschaften hat das nicht verkraftet, sie mußten ihre wenigen Kräfte in diese institutionelle Arbeit werfen und haben somit noch stärker den Kontakt zur Basis verloren. Damit ist etwas eingetreten, was es vorher in solchen Hochburgen der Gewerkschaften wie den Eisenbahnen noch nie gab: die Gewerkschaft hatte den Streik nicht vorausgesehen und wurde von ihm völlig überrascht. (Auf die paradoxen Auswirkungen, die die »institutionelle Stärkung« der französischen Gewerkschaften auf diese hatte, geht der folgende Artikel übrigens ein.)
Warum schon wieder ein Artikel über den französischen Eisenbahnerstreik?
Wir denken, daß in diesem Streik einige Elemente einer neuen politischen Klassenzusammensetzung bisher am deutlichsten zutage getreten sind: die Fähigkeit zur Selbstorganisation am Ort und über den örtlichen Zusammenhang hinaus / ohne Zuhilfenahme gewerkschaftlicher Apparate / die Kompromißlosigkeit und radikale Ablehnung der Verhandlungslogik / neue Subjektivität und neue Inhalte im Arbeiterkampf Weil der Streik so bedeutende Merkmale zeigt, wollen wir mit der Übersetzung eines zweiten Artikels der Diskussion weiteren Antrieb geben.
Der Artikel hat unserer Ansicht nach neben vielen Stärken aber auch Schwächen. Er benutzt unhinterfragt die (kapitalistische!) Kategorie der »Qualifikation«. Bei seiner Diskussion formaler Qualifikation zieht er dann oberflächliche Vergleiche zur BRD (siehe Fußnote 9). Seine grundlegende These ist, daß der (französische?) Kapitalismus keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr hat, nur noch »zerstörerisch« ist, die Gesellschaft sei »von der Geißel der Arbeitslosigkeit zerschunden« usw. Deshalb seien die Gewerkschaften in der Krise, weil sie den Arbeitern keine Verbesserungen mehr garantieren können. Wir meinen, daß aus der (richtigen) Analyse aktueller Verwertungsschwierigkeiten auf diese Art allzuleicht eine neue Theorie vom Untergang des Kapitalismus aus seiner inneren Logik heraus entsteht. Nicht zufällig erscheinen die Arbeiter einerseits als Subjekte der Kämpfe, von denen eine neue Definition der Klassenverhältnisse ausgeht, und andererseits als (potentielle) Objekte von »Arbeitslosigkeit«, »neuer Armut«, »Prekarisierung«, »Unsicherheit«. Ein drittes Problem ist seine Herangehensweise: Er unterlegt den Organisationsstrukturen, die sich die Arbeiter im Kampf geben, sein ideologisches Raster von der »direkten Demokratie«. Das ist besonders bedenklich, wenn man weiß, daß »Demokratie« der Kampfbegriff der bürgerlichen Presse war, den sie nach Bedarf zum Lob oder zur Diffamierung der Streikenden eingesetzt hat.
Wiederum haben wir unsere Übersetzung sehr stark gekürzt. Wer den ganzen übersetzten Text haben will, kann 2,50 DM auf unser Konto überweisen, wir schicken dann Kopien. Diesmal haben wir mit dem Autor vor der Veröffentlichung nochmal diskutiert. Die unterschiedlichen politischen Einschätzungen sind damit natürlich nicht ausgeräumt. Der Autor hofft aber, daß sein Artikel eine Diskussion auslöst. Beiträge an uns oder (auf französisch, englisch oder spanisch) an »Cahiers du Doute«.