Wildcat Nr. 46 - Winter 1988/89 - S. 22-23 [w46fran1.htm]


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Koordiniertes Chaos

Streikbewegungen in Frankreich

In diesem Herbst und dem beginnenden Winter wird Frankreich von einer breiten und heftigen Streikwelle überrollt, die zentrale Sektoren erfaßt und das gesellschaftliche Leben chaotisiert. Streiks waren in Frankreich nie eine Seltenheit, aber was die Arbeiterklasse dort gegenwärtig in Bewegung setzt, hat neue Dimensionen. Streiks in den Krankenhäusern, Millionen nicht zugestellter Briefe stapeln sich bei der Post. Streiks bei Eisenbahn und Nahverkehr. Am Fahrkartenschalter werden Leute abgewiesen: »Bezahlt wird heute nicht!« Streiks auch in den Elektrizitätswerken und Sozialversicherungsbehörden, Streik bei Air France. Der öffentliche Dienst präsentiert sich seinen Chauffeuren als eine Maschine, die sich fast täglich an neuen Stellen festfrißt und zum Stehen kommt. Auch in der Industrie schöpfen die Arbeiter wieder Mut: Gestreikt wurde beim Staatsbetrieb Renault und – besonders heftig – in den lothringischen Kohlegruben und den elsässischen Kalibergwerken.

Die Streikwelle zeigt nicht nur ungewohnte Ausmaße. Sie trägt auch Merkmale, die sie deutlich von den institutionalisierten Arbeitskämpfen der Vergangenheit abhebt. In vielen Fällen bilden die Streikenden selbständige »Koordinationen« oder haben im Voraus solche Zusammenschlüsse gebildet, um sich für ihren Kampf zu stärken. Diese Koordinationen lehnen die Bevormundung durch Gewerkschaften durchweg ab – eine Erscheinung, die auch schon in den Kämpfen der Bahnarbeiter bei der SNCF im Winter 1986-87, in der neuen Schüler- und Studentenbewegung und beim SNECMA-Streik im letzten Frühjahr auftauchte. Die »Koordination« ist, kaum ein Jahr nachdem ihre Idee zum ersten Mal in die Wirklichkeit umgesetzt wurde, in vielfachen Formen auf dem Vormarsch. Berühmt wurde vor allem die »Koordination der Krankenschwestern Ile-de-France«. Nicht weniger Bedeutung haben aber die anderen Koordinationen des Krankenhauspersonals.

Auf den ersten Blick scheinen die Ziele der meisten Koordinationen eng begrenzt, ihr Zuschnitt zweckgebunden, ihr Ansatz berufsbezogen, also »ständisch«. Aber offenbar hat gerade die Konzentration auf genau umrissene Ärgernisse und klar bestimmbare Situationen es möglich gemacht, wieder Kämpfe mit breiter Beteiligung in Bewegung zu setzen. Diesem Faktum gegenüber entlarven sich die Appelle der Gewerkschaften zur »Einheit« und zur »Solidarität« zwischen den Berufsgruppen als schlichte Lähmungspropaganda.

Die Streikenden nehmen den Kampf nicht nur mit ihren öffentlichen und privaten Unternehmensleitungen oder – in vielen Fällen – mit dem staatlichen »Arbeitgeber« auf. Sie konfrontieren sich direkt mit der Wirtschaftspolitik der neuen sozialistischen Regierung, die mit aller Härte den Modernisierungskurs ihrer Vorgängerin fortsetzt. Bei zunehmenden Gewinnen verdammt diese alle sozialen Forderungen als inflationstreibend: Stabilisierungspolitik im Zeichen des heraufziehenden europäischen Binnenmarkts. Inzwischen schrecken die Regierungssozialisten auch vor härterer Gangart gegenüber ihren Feinden nicht mehr zurück: Gegen streikende Arbeiterinnen und Arbeiter der Post und der Verkehrsbetriebe wurde Polizei eingesetzt, und Soldaten hatten Streikbrecherarbeit zu leisten. Als die Bergarbeiter in Paris demonstrierten, lieferten ihnen Sondereinheiten der Polizei Straßenschlachten.

Natürlich versucht die Regierung derzeit, die Bewegungen durch dosierte Zugeständnisse zu spalten. Dabei kann sie an die selbstgewählte Begrenzung der Koordinationen anknüpfen, deren Macht gerade in ihrer Unabhängigkeit und Selbständigkeit besteht. In der Koordination der Krankenschwestern war allerdings immer umstritten, ob die Begrenzung auf den eigenen Berufsstand oder die Ausweitung auf andere Gruppen im Krankenhaus richtig sei. Und diese Frage scheint bis heute nicht endgültig entschieden.

Die Regierung ist allerdings gezwungen, aus einem Dilemma heraus zu handeln, das sie derzeit nicht lösen kann: Sie muß einzelnen Sektoren der rebellierenden Arbeitskraft Zugeständnisse machen, wenn sie verhindern will, daß der Unmut übergreift und die Einzelbewegungen sich vereinheitlichen. Andererseits sind Zugeständnisse problematisch. Die Krankenschwestern packte bei einer Zusage der Regierung über eine Lohnerhöhung von acht Prozent erst richtig das Mißtrauen. Wenn vorher ständig behauptet worden war, es gebe absolut nichts zu verteilen, woher kam dann der plötzliche Geldsegen?

Die Politik der Regierung findet ihre Grenze an Dominoeffekten innerhalb einer stark gespaltenen Klasse. Ist eine Gruppe oder ein Sektor durch gezielte Zugeständnisse ruhiggestellt, so brechen die nächsten mit denselben Ansprüchen los. Die Kämpfe zirkulieren. Gleichwohl fügen sie sich noch nicht zu einem neuen Ausdruck politischer Klassenmacht zusammen. Keiner der Kämpfe wurde bis jetzt zu einem Signal, das die ganze Klasse in Bewegung setzt.

Die Macht der Koordinationen ist im übrigen von einem »klassischen« Punkt her gefährdet. Verweigerten die »koordinierten« Arbeiter bei den Staatsbahnen im vergangenen Winter noch alle Verhandlungen und überließen dieses miese Geschäft – völlig gleichgültig – den Gewerkschaften, so tritt die »Koordination der Krankenschwestern Ile-de-France« ausdrücklich mit dem Anspruch auf, Verhandlungspartner der Regierung zu sein. Bürokratisierte Koordinationen als »Gewerkschaften neuen Typs«? In diese Richtungen gehen vermutlich derzeit die Hoffnungen bei vielen, die das französische »Chaos« im Sinne des Kapitals neu ordnen möchten.

Die linksbürgerlichen Modernisierer setzen allerdings bis heute noch auf traditionelle Hilfsorganisationen. Ihr Sprachrohr »Le Monde« rät den Gewerkschaften angesichts der Gefahr, links überholt und liegengelassen zu werden, »die Aufgabe eines Detektors zu übernehmen – für die Forderungen und Ansprüche einer verschiedenartigen und zersplitterten Arbeiterschaft«. Daß dazu Vorleistungen – auch von anderer Seite – nötig sind, weiß die Zeitung: »Seitens der Regierung und der Unternehmer, die sich bisher über starke und verantwortliche Gewerkschaften besorgt zeigten, setzt das voraus, daß sie bereit sind, durch soziale Verhandlungen die Gewerkschaften zu rehabilitieren – den Weg und das Terrain zu entminen.«

 

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