Wildcat Nr. 46 - Winter 1988/89 - S. 27-31 [w46fran3.htm]


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Frankreich: Krankenhäuser im Aufruhr

»Wir haben es satt, auf einer Galeere zu arbeiten!«

Die verschiedenen Kategorien (Berufsgruppen) in den französischen Krankenhäusern sind stärker gespalten als hier. Die Krankenschwestern haben einen höheren Status, bis 1987 war das Abitur Voraussetzung für die Aufnahme an den Krankenpflegeschulen. In den Kliniken, Psychiatrien und Altenheimen, im öffentlichen und privaten Sektor, gibt es drei große Gruppen von Arbeitskräften:

Bei Berufsbeginn erhalten die Krankenschwestern einen Lohn von etwa 5600 Frs, der nach 25 Dienstjahren bis auf 9500 Frs steigen kann. Aber viele Krankenschwestern verdienen selbst nach 30 Jahren nicht mehr als 7500 Frs. Der Anfangslohn der Hilfsschwestern beträgt 4800 Frs und steigt bis auf 6000 Frs. Das Hilfspersonal (ASH) wird nach dem SMIC, dem dynamischen Mindestlohn aller Berufsklassen, bezahlt, der zur Zeit bei 4000 Frs liegt.

Für den Beruf der Krankenschwester gibt es allgemeine Bestimmungen, aber auch spezielle Regelungen, die sich auf den jeweiligen Sektor beziehen – privat, öffentlich, Psychiatrie usw. Es existieren keine allgemeinen Bestimmungen über die Bezahlung und die Anerkennung der Dienstzeit. Wechselt eine Schwester zum Beispiel vom öffentlichen zum privaten Bereich, so werden ihre geleisteten Dienstjahre nicht anerkannt. Unter anderem deshalb fordern die Krankenschwestern mit Nachdruck ein gemeinsames Statut für ihren Beruf.

Die Situation in der »weißen Fabrik« ist in Frankreich von den gleichen Problemen gekennzeichnet wie in anderen Ländern: die Zahl der ArbeiterInnen steigt in diesem Sektor in den 80er Jahren rapide an; 1981 waren es erst 250 000 Krankenschwestern. Aber im Verhältnis zu der aufgezwungenen Arbeit ist das Personal knapper geworden. Heute bleibt eine Krankenschwester durchschnittlich nur noch acht Jahre in ihrem Beruf. In vielen Krankenhäusern sind Planstellen nicht – oder mit jugendlichen ABM-Kräften (tucistes) und ZeitarbeiterInnen – besetzt. Seit einigen Jahren bietet die Krankenhausverwaltung nur noch einem Drittel der SchülerInnen nach dem Abschluß eine Stelle an. Wie in der BRD machen die Personalkosten in Frankreich 70 Prozent der Krankenhauskosten aus. Die Kostensenkungen setzen daher hier zuerst an. Gleichzeitig wird das Krankenhaus stärker den Kriterien der Produktivität und Profitabilität unterworfen. An einigen Krankenhäusern werden flexible Arbeitszeiten und Informationssysteme »für den optimalen Einsatz von Arbeitszeit« erprobt.

Die Organisierung im Krankenhaus

Nur wenige der Krankenschwestern, durchschnittlich fünf Prozent, sind gewerkschaftlich organisiert. Unter dem nichtqualifizierten Personal ist die kommunistische Gewerkschaft CGT etwas stärker vertreten. Neben der CGT erklären sich außerdem noch vier weitere Gewerkschaften für die Interessenvertretung zuständig: die sozialistische CFDT, die christliche CFTC, die besonders wirtschaftsfriedliche FO, darüberhinaus die CGC als Verband der leitenden Angestellten.

Die CGT tritt der Koordination der Krankenschwestern von Anfang an feindlich gegenüber, da sie diese Bewegung nicht kontrollieren kann. In den Vollversammlungen kommt es zu teilweise gewalttätigen Zusammenstößen. Die CGT versucht über ihren Einfluß unter dem geringer qualifizierten Personal, AS und ASH, in die Bewegung einzudringen. Aber auch dort entwickelt sich die Bewegung unabhängig von der CGT. In der Sitzung des Zentralkomitees der KPF vom 12. und 13. Oktober verändern die kommunistischen Gewerkschafter ihre Position gegenüber den Koordinationen, die an diesem Tag über 100 000 auf die Straße bringen. Da ihre Aktivisten mit fliegenden Fahnen überlaufen, ruft sie nun selbst zum Eintritt in die Koordinationen auf.

Die Gewerkschaftsführungen von CFTC, CFDT, FO und CGC verständigen sich und versagen den Koordinationen die Anerkennung. Sie erklären sich schnell bereit, den Vorschlägen des Gesundheitsministers zuzustimmen und setzen sich von der Koordination bewußt ab, indem sie ihre Demonstrationen an anderen Orten veranstalten.

Die UNASIIF (siehe Libération-Artikel) unterstützt zunächst die Bewegung, zieht sich dann aber zurück und kämpft sogar aktiv gegen die Fortdauer des Streiks. Nachdem ihr altes Büro abgedankt hat, schließt sich das neue seit dem 13.10. dem Streik wieder an.

Die Explosion der Koordinationen

Neben der Koordination der Krankenschwestern entstehen mehrere weitere Koordinationen für einzelne Berufsgruppen im Krankenhaus: für die Krankengymnasten, das Laborpersonal, für die Krankenschwestern in der Psychiatrie usw. Die wichtigste unter ihnen ist die Koordination der AS und ASH. Darüberhinaus bildete sich schon nach dem ersten Streiktag die Koordination des Krankenhauspersonals. Sie will das gesamte Personal, unabhängig von beruflichen Abgrenzungen, zusammenführen und wendet sich bewußt gegen den Korporatismus der Koordination der Krankenschwestern. In ihr finden sich AS und ASH, Laborpersonal und auch einige Krankenschwestern. Ein treibender Faktor in ihr scheint die politische Gruppe Lutte Ouvrière zu sein.

Die Koordination der Krankenschwestern bevorzugt aber als Bündnispartner die Koordination der AS und ASH, die durch Basisaktivisten der CFDT angeregt wurde. Sie ist stärker berufsbezogen und fordert ein eigenes Statut für die Hilfsschwestern.

Die Forderungen

Bei allen Koordinationen tauchen folgende Forderungen auf: 2000 Frs Lohnerhöhung, Mindestlohn von 6000 Frs im Monat, 13. Monatslohn und die Integration der Prämien in den Grundlohn, damit sie bei der Rentenzahlung berücksichtigt werden.

Neben diesen Forderungen, die ein verbindendes Moment aller Berufsgruppen im Krankenhaus ausmachen, verlangt die Koordination der Krankenschwestern besondere Regelungen für ihre Berufsgruppe:

Zwischen Berufsstand und Arbeiterklasse …

Die Bewegung der Krankenschwestern hatte von Anfang an einen massenhaften und zugleich spezifischen Charakter. Sie mobilisierte fast den gesamten Berufszweig. Die Mobilisierung im privaten Sektor ist wegen der Repressalien zwar schwächer, aber bei allen Verhandlungen fordern die Krankenschwestern, daß alle im öffentlichen Sektor erzielten Erfolge auf den privaten Bereich übertragen werden. In vielen Krankenhäusern in Paris und in der Provinz traten auch andere Kategorien an den Krankenhäusern in den Streik und brachten damit eine neue Dynamik in die Bewegung. In einigen Einrichtungen werden die Streiks durch gemeinsame Streikkomitees aller Berufszweige organisiert. Die Mobilisierung der anderen Berufe bleibt aber hinter derjenigen der Krankenschwestern zurück.

Die Bewegung der Krankenschwestern drückt ein starkes Bestreben nach Kontrolle über ihren Kampf aus: es verwirklicht sich in den Wahlen der Delegierten in ganz Frankreich. Pro Hospital oder Klinik werden drei Delegierte zur nationalen Koordination geschickt. Es entwickelt sich ein typisches Muster, das diese Kontrolle sichern soll: nach jedem Aktionstag am Donnerstag wird am Freitag weitergestreikt, um an den Krankenhäusern Versammlungen abhalten und die Delegierten zur nationalen Koordination am Samstag wählen zu können. Auch wenn es Tendenzen der Bürokratisierung beim Büro der Koordination gibt und dessen undemokratische Zusammensetzung kritisiert wurde, so besteht doch eine starke Identifikation mit der Koordination als eigenem Zusammenschluß. Die gewerkschaftlichen Organisationen werden bewußt zurückgewiesen.

Die Krankenschwestern wollen an ihren besonderen Forderungen festhalten, damit diese nicht wie bei den Gewerkschaften untergehen. Und sie wollen auch deswegen unter sich bleiben, um nicht die Kontrolle über ihre Bewegung zu verlieren.

Hinter der Heftigkeit und Entschlossenheit, mit der die Forderung nach einem Statut vorgetragen wird, steckt die Furcht, daß der Beruf der Krankenschwester in Frankreich im Rahmen der europäischen Vereinheitlichung abgewertet wird. Sie befürchten, daß sie bis 1992 den schlechter qualifizierten Krankenschwestern in anderen europäischen Ländern (BRD, Italien usw.) angeglichen werden und damit schlechtere Löhne zu erwarten haben. Diese Furcht drückt sich auch in ihrer ständig wiederholten Forderung nach Abschaffung des »Dekrets vom 23.12.87« aus.

Die Forderung kennzeichnet ein korporatistisches Moment der Bewegung – das von den Medien freilich bewußt übertrieben wird. Denn allein dieses Moment erlaubt es dem Staat noch, mit der Bewegung fertig zu werden. Die Krankenschwestern betonen die Besonderheit ihrer Forderungen und grenzen sich organisatorisch von den anderen Gruppen ab, die auch in den Streik getreten sind und um einen gemeinsamen Zusammenschluß nachgefragt haben. In vielen Krankenhäusern gibt es getrennte Zusammenschlüsse der Krankenschwestern und des übrigen Personals. Diese Trennung ist aber umstritten: Auf der ersten nationalen Koordination am 8. Oktober stimmte fast die Hälfte der Delegierten für die Ausweitung der Koordination auf das gesamte Krankenhauspersonal, der Rest war dagegen. Einstimmig war die Versammlung aber für die Bildung eines Verbindungskomitees mit den anderen Koordinationen und für gemeinsame Aktionen.

Zur Zeit ist offen, wie sich die Bewegung weiterentwickeln wird. Durch ihre Dynamik, ihre Kraft und ihren massenhaften Charakter war die Bewegung der Krankenschwestern ein mitreißender Faktor für andere Kategorien im Gesundheitssektor. Aber wie bei allen Kämpfen, die von einer besonderen Kategorie, einem besonderen Beruf ausgehen, ist sie nach und nach zu einer korporatistischen Bewegung geworden, die ihre eigene Dynamik blockiert. Die Krankenschwestern hatten gedacht, sie besäßen alleine die Kraft, die Regierung zum Nachgeben zu zwingen. In den Wochen nach dem Abbruch des Gesamtstreiks weisen die Berichte über die weiteren Aktionen (am 1. Dezember demonstrierten wieder Krankenschwestern, aber vor allem das geringer qualifizierte Personal in Paris) darauf hin, daß gerade das übrige Personal, dessen Forderungen in den Verhandlungen mit den Vertretern der Krankenschwestern vertagt worden waren, weiter Druck macht.

Chronologie
September-November 1988

29.9.

Streik der Krankenschwestern in ganz Frankreich auf den Aufruf der Koordination der Krankenschwestern von Ile-de-France (Region um Paris) hin. Die Gewerkschaften schließen sich an, die CGT erst im letzten Moment und die CFDT nicht im ganzen Land. In den Krankenhäusern von Paris und anderen Großstädten in der Provinz wird der Streikaufruf zu mehr als 80 Prozent befolgt. Auch in der Provinz finden Demonstrationen statt. Mehr als 20 000 Krankenschwestern demonstrieren vom Montparnasse zum Gesundheitsministerium. An der Spitze das Transparent der Koordination, die Gewerkschaftstransparente sind ans Ende der Demo verwiesen. Die DemonstrantInnen identifizieren sich stark mit der Koordination, oft wird einfach »Koordination, Koordination« skandiert.

Nach der Demo findet eine Vollversammlung der Koordination im Gewerkschaftshaus statt. Über 2000 Personen sind anwesend. Der Saal ist viel zu klein, die Hälfte der Koordination bleibt davor auf der Straße und die Diskussion wird über Lautsprecher übertragen. Die Anwesenden beschließen einstimmig einen weiteren Streik für den 6. und 7. Oktober, eine Demonstration am 6. und für den 8. die erste nationale Versammlung der Koordination.

6.10.

Nationaler Streik und Demonstrationen in Paris und den Großstädten in der Provinz. Etwa 30 000 demonstrieren in Paris. In der Provinz scheint der Streik in einigen Städten weniger befolgt zu werden: die UNASIIF wendet sich diesmal gegen den Streik, in einigen Krankenhäusern übt sie über die die Chefs und Aufseher Druck aus. Die Gewerkschaften rufen diesmal offener zum Streik auf. Oft wissen die Krankenschwestern, die den Gewerkschaften gegenüber sehr mißtrauisch sind, gar nicht mehr, ob sie es mit der Koordination oder mit den Gewerkschaften zu tun haben. In der Provinz ist der Informationsfluß schlechter. Anläßlich der Demo in Paris treten andere Gruppen des Krankenhauspersonals in den Streik und bilden starke Delegationen hinter den Transparenten ihrer Koordinationen, der Koordination der AS und ASH und der Koordination des Krankenhauspersonals. Die meisten DemonstrantInnen laufen wieder hinter den Transparenten der Koordination der Krankenschwestern, die Gewerkschaften sind ans Ende des Zugs abgedrängt. Am Nachmittag verhandelt Evin ausschließlich mit den Gewerkschaften, am Abend empfängt er eine Delegation der Koordination.

7.10.

Die Vollversammlungen der Krankenschwestern und des Krankenhauspersonals diskutieren die letzten Angebote Evins, entscheiden sich für weitere Aktionen und wählen drei Delegierte pro Krankenhaus für die nationale Koordination am nächsten Tag. Es kommt teilweise zu gewalttätigen Zusammenstößen mit den Gewerkschaften, vor allem mit der CGT.

8.10.

Versammlung der ersten nationalen Koordination der Krankenschwestern in einem Hörsaal der Sorbonne mit 8-900 Delegierte aus etwa 400 Krankenhäusern in 48 Städten. Eine phantastische Stimmung: starker Wunsch nach Kontrolle durch die Basis, starke Identifikation mit der Koordination. Die Versammlung schafft es, ohne Mikrophone ernsthaft über die grundsätzlichen Probleme zu diskutieren. Allen wird zugehört, die aufmerksame Stille wird nur durch Beifallsbekundungen unterbrochen.

10.-13.10

In den Krankenhäusern wird der Streik wieder aufgenommen, einige beginnen ihn erst am 11. Oktober.

100 000 in Paris auf der Straße

13.10.

Nationale Demonstration mit über 100 000 Krankenschwestern und anderen Berufsgruppen auf Aufruf der Koordination. Die CGT ruft zur Beteiligung an dieser Demonstration auf, die anderen Gewerkschaften mobilisieren für eine eigene Demo, zu der nur 15 000 kommen.

Bei der Aufstellung der Demo der Koordination am Place de la Bastille kommt es zu Auseinandersetzungen mit der CGT, die sich in den Demonstrationszug einreihen will. Sie wird rausgedrängt, aber auf der Route gelingt es ihnen teilweise im zweiten Drittel der Demo wieder hineinzukommen.

Nach der Demo finden Verhandlungen mit Evin statt. Die dabei gefundenen Kompromisse entsprechen schon weitgehend dem später unterzeichneten Tarifvertrag. Aber aus Angst, sich bei ihren Mitgliedern völlig unglaubwürdig zu machen, zögern die Gewerkschaftsführungen ihre Unterschrift immer wieder hinaus …

14.10.

Vollversammlungen in den Krankenhäusern, um die Vorschläge Evins zu diskutieren, über den weiteren Fortgang der Bewegung zu entscheiden, und um drei neue Delegierte pro Einrichtung zu wählen.

15.10.

Zweite nationale Koordination mit 5-600 Delegierten. Sie findet in einem anderen Hörsaal mit schlechterer Akustik statt, die Diskussion ist nicht so lebendig wie vorige Woche, die Leute müssen ihre Beiträge von einer Tribüne aus halten. Es ist ein Richtungswechsel beim Büro der Koordination zu spüren, es übernimmt mehr Kontrollfunktion.

Einstimmig werden die Angebote Evins abgelehnt. Es entwickelt sich eine lange Diskussion über die Entscheidungen, die in verschiedenen Krankenhäusern getroffen wurden, und über die Vorschläge aus der Versammlung. Aber auffälligerweise werden zunächst die Vorschläge des Büros zur Abstimmung gestellt und erst danach die aus dem Saal. Und vor allem »vergißt« das Büro, zuerst einmal über die Fortsetzung des Streiks abstimmen zu lassen. Dies erfolgt erst, nachdem der Delegierte eines Pariser Krankenhauses daran erinnert. Die Fortsetzung des Streiks wird mit örtlichen Unterschieden so gut wie einstimmig angenommen.

Der Streik ist an einem Wendepunkt angelangt. Die Vorschläge des Büros, die Krankenschwestern in den von den Gewerkschaften organisierten Streiktag am 20.10. einzubinden, werden scharf abgelehnt. Stattdessen werden regionale Demonstrationen für den 22.10. beschlossen, die die Bevölkerung zur Teilnahme auffordern sollen.

17.-20.10.

Der Streik geht in Paris und einigen Städten der Provinz weiter. In manchen Städten wird er abgebrochen, in anderen jetzt erst aufgenommen, und diese drängen darauf, ihn zu verlängern. Die erneuten Verhandlungen zwischen Gesundheitsminister Evin, den Gewerkschaften und der Koordination haben nichts Neues gebracht. Krankenhausdelegationen machen eine Mahnwache vor Matignon. Die Koordination verlangt ein Gespräch mit Mitterand.

Das Büro versucht, flexibel zu bleiben: es legt den Schwerpunkt nicht mehr auf die Forderung nach 2000 Frs Lohnerhöhung, sondern auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Personalaufstockung. Es hält sich eine Differenzierung der Forderung offen und erklärt seine Bereitschaft, einem Vertrag zuzustimmen, wenn ein genauer Zeitplan für eine ernsthafte Aufwertung vorgelegt wird.

22.10.

Demonstration in Paris mit einem Aufruf an die Bevölkerung unter dem Motto: »Gesundheit geht uns alle an!« mit 30-40 000 Personen. Wichtige Demonstrationen finden auch in der Provinz mit Beteiligung der Bevölkerung statt (3000 in Marseille, 2000 in Lyon …).

Von nun an beginnen die Medien, die sich gegenüber der Bewegung der Krankenschwestern zunächst sehr wohlwollend verhielten, Druck für die Wiederaufnahme der Arbeit auszuüben. Sie argumentieren damit, daß die Krankenschwestern jetzt genug erreicht hätten. Mit der Fortführung der Streiks riskiere man eine Katastrophe. Die Zeitungen bringen Artikel über die Rolle der Trotzkisten in der Koordination.

Während einer Fernsehsendung wird eine Meinungsumfrage durchgeführt, bei der die Redakteure die Frage stellen: »Glauben Sie, daß die Krankenschwestern ihren Kampf zu Recht fortsetzen?« Sie erwarteten wahrscheinlich eine Mehrheit für »Nein«. Die nach einigen Minuten ermittelten Ergebnisse erbringen aber 64 Prozent Ja-Stimmen.

Die Koordination beendet den unbefristeten Streik

23.10.

Bevor die Verleumdungskampagne in den Medien einsetzt, entscheidet die Koordination, ihre nächste nationale Versammlung hinter geschlossenen Türen abzuhalten. (Die vorhergehenden waren für Presse, Rundfunk und Fernsehen offen gewesen.) Erster Tagesordnungs-Punkt ist die Fortführung der Bewegung: von 500 vertretenen Einrichtungen stimmen 207 gegen und 111 für einen unbefristeten Streik. Eine überwältigende Mehrheit spricht sich für die Fortführung der Bewegung aus, mit der klassischen Formel: »Die Bewegung geht in anderen Formen weiter.« Eine Mehrheit spricht sich »für unterschiedliche Streikaktionen« aus.

Am 27.10. wollen die Krankenschwestern des öffentlichen und privaten Sektors gemeinsam am Sitz des Verbands der privaten Krankenhausträger (FIHEP) in Paris demonstrieren, während dort um die Tarifverträge bei den Privaten verhandelt wird. Für den 3. November wird eine Demonstration und nationaler Streik unter Beteiligung der Benutzer geplant.

Die Koordination ruft die Gewerkschaften auf, nicht zu unterzeichnen. Seit ihrer Ablehnung der letzten Vorschläge des Ministers nimmt die Koordination nicht mehr an den Verhandlungen teil. Freitag abend lassen die Gewerkschaften FO, CFDT, CFTC durchblicken, daß sie unterzeichnen werden.

Bei der Abstimmung über die Öffnung gegenüber anderen Koordinationen des Gesundheitswesens gibt es wieder (wie am 8.10.) eine starke Mehrheit für die Aufrechterhaltung der abgetrennten Organisierung der Krankenschwestern. Aber es sind gemeinsame Aktionen vorgesehen.

Die Koordination des Krankenhauspersonals ruft zur Fortsetzung des unbefristeten Streiks auf.

24.10.

Die Gewerkschaften (FO, CFDT, CFTC) unterzeichnen. Sie haben abgewartet, was auf der Demonstration vom 22. November und bei der Koordination am 23. November geschieht. Die CGT weigert sich, zu unterzeichnen. Bis auf drei Punkte ist es bei den Vorschlägen des Ministers geblieben, die schon am 14.10. vorlagen:

– Das »Dekret vom 23.12.1987« wird außer Kraft gesetzt.

– Der Premierminister kündigt ein Verfahren an, nach dem Krankenschwestern nach 20 Jahren Dienstzeit in den ärztlichen Stand übertreten können.

– Die Streiktage sollen mit 50 Prozent bezahlt werden.

Der Vertrag sieht Lohnerhöhungen um 500 Frs vor. Die höchste Lohnstufe soll schon nach 17 statt nach 24 Jahren erreicht werden. Ab 1989 sollen 1500 neue Stellen geschaffen werden (bei über 1000 Einrichtungen in Frankreich!), die zudem mit Aushilfskräften besetzt werden können. Ein kleiner Teil der Hilfsschwestern erhält sofortige Lohnerhöhungen. Die Streiktage werden zu 50 Prozent bezahlt, allerdings nur bis zum 24. Oktober. Darüberhinaus sollen die Krankenschwestern stärker in Mitverwaltungsgremien einbezogen werden.

Nach
dem
24.10.

Die wirkliche Bewegung ist schwer einzuschätzen. Sie ist sicher nicht zuende, in einigen Krankenhäusern von Paris wird weiter gestreikt. Am 27.10. finden im ganzen Land Demonstrationen zu den Verhandlungen mit den Privaten statt. Die Gewerkschaften fordern eine Mindesterhöhung von 250 Frs für alle Kategorien, was von der FIHEP zurückgewiesen wird. In Paris wurden für mehrere Stunden die Büros des chambre patronale besetzt. In Arles, wo gerade ein französisch-italienisches Gipfeltreffen stattfindet, versuchen Krankenschwestern zu Mitterand vorzudringen und werden mit Tränengas auseinandergetrieben.

3.11.

24-stündiger Streik und Demonstration von 30 000 in Paris, zu denen die Koordination der Krankenschwestern und die CGT aufgerufen haben. Von den aufgerufenen »Benutzern« beteiligen sich nur wenige an der Demonstration, Delegationen der Krankenschwestern aus der Provinz sind schwach vertreten. Um so stärker beteiligen sich diesmal die anderen Personalkategorien. Auch die CGT hat stark mobilisiert und versucht erfolglos, sich an die Spitze zu setzen.

Die Koordination fordert die Bezahlung der Streiktage zu 100 Prozent; die Gültigkeitserklärung für das Ausbildungspraktikum der streikenden Schülerinnen; ausreichende Personalaufstockungen; Mittel für die Weiterbildung; gleiche Verträge für Krankenschwestern im öffentlichen und privaten Sektor, für allgemeine Krankenschwestern und die in der Psychiatrie; ein neues Dekret für den Eintritt in die Schulen. Langfristig verlangt die Koordination die Ausarbeitung eines präzisen Zeitplans bis 1992 für die Erfüllung aller Forderungen.

»Die Verhandlungen sind beendet«, erklärt Evin. Stattdessen bietet er den Krankenschwestern der Koordination die Mitarbeit in einer nationalen Kommission an, die über die Stellung der Krankenschwestern beraten soll.

5.11.

Auf der nationalen Koordination beschließen die Krankenschwestern einen rechtlich anerkannten Verband zu bilden, aber keine Gewerkschaft zu werden. Es wird ein Zeitplan für die Mobilisierung zu einem Generalstreik Ende Januar erstellt. Diesmal erhalten die Befürworter gemeinsamer Aktionen mit den anderen Kategorien aufgrund hoher Stimmenthaltung eine Mehrheit für ihren Vorschlag, daß sich die Koordination nun »vorrangig der Arbeit an einer gemeinsamen Mobilisierung widmet«. Das Verbindungskomitee zu den übrigen Koordinationen soll in Zukunft nicht nur gemeinsame Aktionen organisieren, sondern auch eine gemeinsame Plattform aller Zusammenschlüsse diskutieren.

Die Koordination Ile-de-France wollte sich auf der Versammlung für ein härteres Vorgehen stark machen: Der Regierung sollte ein 72stündiges Ultimatum gestellt werden, um danach den Streik fortzusetzen und zu verschärfen. Angesichts der Schwierigkeiten der Mobilisierung in der Provinz verzichtet sie auf diesen Vorschlag. Es werden weitere, regionale Demonstrationen im November beschlossen – zur Verabschiedung des Gesundheitsbudgets im Parlament und zu den Verhandlungen mit den Privaten. Für den 1. Mai 1989 will die Koordination eine europäische Demonstration organisieren.

 

Die Wirklichkeit der Bewegung in den Krankenhäusern

In den öffentlichen Krankenhäusern in Paris und anderen Städten wird der Streik zu 80-90 Prozent befolgt. In Wirklichkeit ist der Streik aber außer an den Tagen der Demos kaum zu spüren. Die Grundpflege wird weiter aufrechterhalten. Meistens teilt die Krankenhausverwaltung die Krankenschwestern ein. Da seit Jahren Stellen abgebaut worden sind, müssen die meisten Krankenschwestern anwesend sein. In manchen Krankenhäusern haben die Krankenschwestern selbst einen Grundpflegedienst eingerichtet (für dringende Notfälle). Trotzdem: Stück für Stück wird der Krankenhausalltag chaotisiert. In manchen Krankenhäusern werden die Betten von Entlassenen aus den Zimmern geschafft, keine neuen Patienten mehr aufgenommen. In anderen müssen Ärzte Behandlungen durchführen, die normalerweise von den Krankenschwestern gemacht werden. Operationen werden abgesagt, Sprechstunden fallen aus. Ein Streik in der Verwaltung verhindert den Überblick über medizinische Behandlungen, chirurgische Eingriffe usw. Viele Ärzte zeigen Verständnis, befürchten aber die Auswirkungen. Ein Arzt erklärt: »Nur ein Arzt kann entscheiden, was ein Notfall ist; und auch die Übrigen kann man nicht 15 Tage warten lassen. Man darf die Kranken nicht als Geiseln nehmen.« Im Krankenhaus Lariboisière in Paris wird besonders entschlossen gestreikt. Dort lehnen die Krankenschwestern seit Beginn der Bewegung Tätigkeiten ab, für die sie nicht ausdrücklich zuständig sind, die aber normalerweise von den Ärzten an sie delegiert werden, wie das Anlegen von Urinkathetern oder Transfusionen. Ein Professor meint: »Achtung, wenn sie es heute nicht mehr machen, droht die Gefahr, daß wir sie morgen nicht mehr danach fragen können! … Es wird Zeit, daß der Streik aufhört.«

 

Siehe auch:

Koordiniertes Chaos: Streikbewegungen in Frankreich

Der unaufhaltsame Aufstieg der Koordination der Krankenschwestern


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